Sofie - Schicksalsjahre im Schatten zweier Weltkriege
Eine Familiengeschichte nach wahren dramatischen Begebenheiten mit zeitgenössischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts
Horst Gröger
Leseprobe:
Meine Großmutter
Die Mutter meines Vaters, Maria Gröger, geborene Franke, wurde im Sudetenland geboren. Sie hatte einen Bruder, Johann Franke, der Onkel meines Vaters. Auch er lebte im Sudetenland. 1918 gegen Ende des Ersten Weltkrieges verstarb meine Großmutter nach 18 glücklichen Ehejahren unvorhergesehen an den Folgen von Kriegsgeschehnissen. Sie hatte drei Kinder zur Welt gebracht. Das waren die Tochter Maria (meine Tante) und die Söhne Alfred (mein Onkel) und Josef (mein Vater). Er war, als seine Mutter verstarb, erst gut drei Jahre alt.
Meine Großeltern mütterlicherseits
Mein Großvater
war Johann Kiesewetter, geboren im Jahr 1896 in Hohnuder, Kreis Freiwaldau. Sein Beruf war Schreiner. Er spielte leidenschaftlich gern Trompete und liebte die Musik. Anfang August 1914, etwa drei Monate, bevor meine Mutter geboren wurde, wurde er mit 18 Jahren unerwartet und über Nacht als Soldat zur Wehrmacht eingezogen.
Was er immer schon wollte, war, meine Großmutter zu heiraten. Und das nicht nur, weil sie ein Kind von ihm erwartete, sondern weil er sie liebte. Jetzt, nachdem er Soldat werden und in den Krieg ziehen sollte, war ihm das ein umso größeres Bedürfnis.
Es gab jedoch ein großes Hindernis. Seine Eltern wollten diese Ehe nicht. Sie wollten nicht, dass er dieses Mädchen, meine Großmutter, sie war damals gerade 17 Jahre alt, heiratete. Seinerzeit war man erst mit einundzwanzig volljährig. Wer vorher heiraten wollte, brauchte die Zustimmung seiner Eltern. Nachdem er diese nicht bekam, gab es auch keine Heirat.
Mein Großvater war ein gesunder junger Mann. Er war schlank, kräftig und gut aussehend. Mit etwa 1,70 Meter war er einen knappen Kopf größer als meine Großmutter. Er war gutmütig, sehr ordentlich und arbeitsam und hatte meine Großmutter besonders gern.
Man konnte gut verstehen, dass meine Großmutter sich in ihn verliebt hatte. Und jetzt kam plötzlich und unerwartet der Tag, Abschied nehmen zu müssen, mit der Ungewissheit, ob man sich je wiedersehen würde.
Die beiden wollten sich jedoch als glückliches Paar in Erinnerung behalten. Deshalb beschlossen sie, sich als Braut und Bräutigam anzuziehen und sich so fotografieren zu lassen.
Mein Großvater machte vor Ort eine kurze militärische Ausbildung. Dann ging es an die Front. Vorgesehen war ein Einsatz an der Ostfront bei der 3. Armee, die noch einmal versuchen sollte, die Region um Lemberg zurückzuerobern.
Die erste Feldpost, die seine Braut erreichte, kam bereits im September 1914 aus dem Kampfgebiet um Lemberg. Er schrieb, dass er gut angekommen sei, sich an alles aber erst gewöhnen müsse, das falle ihm sehr schwer, und dass er sie sehr vermisse. Die Kämpfe um Lemberg endeten am 11. September 1914 mit einer endgültigen Niederlage. Nachdem die Kämpfe fehlgeschlagen waren und er unverletzt geblieben war, musste er in andere Kriegsgebiete an der Ostfront.
Post für meine Großmutter sollte, nachdem sie wegen ihrer Schwangerschaft ja kein festes Zuhause hatte, an seine Eltern gehen. Sie hatte ihm noch geschrieben und ihn über die Geburt seiner Tochter, der kleinen Sofie, geboren am 2. November 1914, informiert. Mit großer Sehnsucht wartete die junge Mutter auf Antwort. Doch Post von ihm kam bei ihr nie an. Ob ihn die erfreuliche Nachricht über die Geburt seines Töchterchens jemals erreichte, erfuhr sie nie. Es lag nahe, dass seine Eltern die Post ihres Sohnes seiner Braut nicht ausgehändigt hatten.
Im Juni 1915 wurde ihr Bräutigam Johann Kiesewetter, der Vater der kleinen Sofie, im Alter von nur neunzehn Jahren bei Kämpfen an der Ostfront seinen Eltern als gefallen gemeldet. Diese Nachricht ließen sie Sofie, seiner Braut, dann doch zukommen.
Ihm war es nicht vergönnt gewesen, sein Töchterchen Sofie kennenzulernen, in den Arm zu nehmen und seine Braut, was er so gern gewollt hätte, zu heiraten. Geblieben ist als Erinnerung nur ein Foto von der Hochzeit, die nie stattgefunden hat.
Meine Großmutter – Teil 1
Sophie Friede, geboren am 31. 5. 1897 in Böhmischdorf, Kreis Freiwaldau im Sudetenland, war die Tochter der Fabrikarbeiterin Maria Friede und des Fabrikarbeiters Eduard Friede.
Meine Großmutter war etwa 1,60 Meter groß. Sie hatte ein hübsches Gesicht, leicht lockiges, mittelbraunes halblanges Haar und war schlank und zierlich. Charakterlich war sie eine sehr willensstarke und selbstbewusste, stets gut gelaunte und fleißige junge Frau, die keine Arbeit scheute. Auf ihre Liebe und Treue konnte mein Großvater vertrauen. Das war es auch, was er, der sie nach dem Willen seiner Eltern nicht heiraten durfte, besonders an ihr schätzte.
Nachdem meine Großmutter bereits schwanger war, war der unvorhergesehene und kurzfristige Abschied von ihrem Bräutigam im August 1914, als er als Soldat in die osteuropäischen Kriegsgebiete musste, umso schmerzlicher. Es stimmte beide sehr traurig, nachdem nicht abzusehen war, ob und wann sie sich wiedersehen würden.
Bereits während der Schwangerschaft hatte meine Großmutter keinerlei Unterstützung von ihren Eltern erhalten. Sie musste von zu Hause ausziehen, bekam trotz verzweifelter Bemühungen keine Wohnung, war obdachlos.
In Sandhübel überließ ihr schließlich eine ältere Frau, die allein in einem kleinen Häuschen wohnte, ein Zimmer. Darüber war meine Großmutter sehr glücklich. Sie arbeitete in einer Drahtfabrik in Böhmischdorf von früh bis spät. Während der Mittagspause half sie bei ihrem Schwager aus, der vor Ort in einem kleinen Betrieb Ketten fertigte. So verdiente sie sich etwas zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes und um sich das Notwendigste für die Geburt ihres Kindes anschaffen zu können.
Die ältere Frau, bei der meine Großmutter wohnen durfte, scheute nicht das Gerede der Leute. Sie hatte großes Mitleid mit meiner Großmutter. Von ihr bekam sie sogar ein paar gebrauchte Möbel für ihr Zimmer: einen Schrank, einen kleinen Tisch sowie ein Bett mit Bettzeug. Bis zur Geburt ihres Kindes hatte meine Großmutter das Notwendigste zusammen.
Sie freute sich auf ihr Kind, war aber auch in großer Sorge um ihren Bräutigam und sehr traurig, dass er nicht bei ihr sein konnte. Dann war es so weit. In dieser bescheidenen Herberge wurde ihre Tochter Sofie, meine Mutter, am 02. 11. 1914 ?geboren.
Nach der Geburt nahmen die Schwierigkeiten noch zu. Als ledige Mutter wurde sie nicht nur von ihrem Vater verachtet, es war seinerzeit auch von der Gesellschaft mit keinem Verständnis zu rechnen. Ledige Mütter galten, wenn sie Arbeiterinnen oder Dienstbotinnen waren, als „Dirnen“. Uneheliche Kinder wurden seinerzeit in Deutschland als „Hurenkinder“ beschimpft und mit ihren Müttern gesellschaftlich diskriminiert.
Ledige Kinder und ihre Mütter betrachtete man als „asozial“ und minderwertig. Deshalb war es ihrer Vermieterin sehr hoch anzurechnen, dass sie meine Großmutter und ihr Töchterchen Sofie bei sich aufgenommen hatte. An dieser Einstellung der Gesellschaft gegenüber Müttern mit unehelichen Kindern änderte sich lange Zeit nichts zum Besseren. Eine grundlegende Reform des nicht ehelichen Rechts begann erst nach 1960.
Wegen dieser allgemein volksüblichen Einstellung und gesellschaftspolitischen Auffassung betrachtete der Vater meiner Großmutter die Tatsache, dass seine Tochter ein uneheliches Kind hatte, seinerzeit als Schande und wollte seine Tochter und das Enkelkind nicht sehen und schon gar nicht in seiner Nähe haben. Er schämte sich vor den Mitmenschen, weil seine Tochter eine ledige Mutter war. Dies ging so weit, dass meine Großmutter auch besuchsweise nicht mehr nach Hause kommen durfte. Das Gefühl, gesellschaftlich wegen ihres ledigen Kindes geächtet und verstoßen zu werden, war für meine Großmutter sehr belastend. Schlimm war aber auch die wirtschaftliche Not.
Nachdem meine Großmutter keinen Mann hatte, der für sie und ihr Kind sorgte, und auch nicht zu erwarten war, dass sie anderweitig Hilfe erhalten würde, musste sie für sich und ihr Kind (meine Mutter) selbst aufkommen und sorgen. Um den Lebensunterhalt für sie beide bestreiten zu können, arbeitete sie auch nach der Geburt ihrer Tochter meist als Fabrikarbeiterin. Ihr Kind ließ sie während dieser Zeit bei der Frau, bei der sie wohnte. Diese hatte entgegen den allgemeinen Gepflogenheiten Mitleid und meinte es gut mit meiner Großmutter und ihrem Töchterchen Sofie.
Meine Großmutter – Teil 2
wurde einundeinhalb Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Sofie, noch bevor meine Urgroßmutter verstarb, von ihrem Vater gezwungen, den zwanzig Jahre älteren verwitweten Fabrikarbeiter Karl Spenger aus Breitenfurt zu heiraten. Sie war darüber so verzweifelt, dass sie sich durch Ertränken das Leben nehmen wollte. Ein Mann aus dem Ort beobachtete dies und rettete sie.
Meine Großmutter hatte kein richtiges Zuhause, keine Arbeit, wurde wegen ihrer ledigen Tochter überall verachtet, war bitterarm und musste nun auch noch einen Mann heiraten, den sie überhaupt nicht mochte. Und das alles nur, um der Familie wieder zu mehr Ehre zu verhelfen. Meiner Großmutter blieb nichts anders übrig, als der Heirat zuzustimmen. Was hätte sie in ihrer Situation sonst tun können?
Wiedersehen zu dritt
Tage des Glücks
Zu der Zeit dieser dramatischen Kriegsgeschehnisse in der Sowjetunion war mein Vater auch dort an der Front. Da kam von ihm Post an meine Mutter. Er kündigte an, dass er auf Urlaub nach Hause in die Heimat komme. Den knapp sechs Monate dauernden Einsatz an der Ostfront hätte er, wie er schrieb, überstanden. Das klang zwar erleichtert, aber nicht hoffnungsvoll, und große Ängste bestanden weiterhin.
Wie sich nach seinem Kommen herausstellte, war mein Vater verletzt worden. Auf Grund dieser erstmalig erlittenen Verwundung am 6. August 1942 war ihm vom Leiter seines 14. Infanterie-Regiments 707 am 4. September 1942 das Verwundetenabzeichen in Schwarz verliehen worden. Es war ein Ehrenzeichen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Mit Verwundetenabzeichen wurden Soldaten ausgezeichnet, die durch Feindeinwirkung oder unverschuldet durch eigene Kampfmittel bei Kriegshandlungen verletzt oder kriegsversehrt wurden. Die Abzeichen gab es in Schwarz, Silber und Gold, je nach Anzahl und Schwere der Verletzungen. Das dürfte zu seinem kurzfristig nicht termingenau angekündigten Heimaturlaub geführt haben.
Die Ankunft meines Vaters war in der ersten Oktoberwoche 1942. Meine Mutter war mit einem Fahrrad, das sie sich ausgeborgt hatte, beim Einkaufen im Nachbarort unterwegs. Sie wusste ja nicht, wann ihr Mann ankommen würde. Auf dem Rückweg kam ihr schon Herr Teuber, ihr Hausherr, aufgeregt mit der Nachricht entgegen: „Ihr Mann ist schon da, Ihr Mann ist schon da!“
Die Freude war unbeschreiblich. Mein Vater konnte es nicht glauben, einen Sohn zu haben. Ich war gerade drei Monate alt. Es waren wiederum Tage der Freude und des Glücks.
Mein Vater war stark gekennzeichnet von den Ereignissen und Strapazen an der Front. Er hatte während der ganzen Zeit in der Heimat hohes Fieber und immer wieder Schweißausbrüche. Er war nicht gesund, was ihm auch eine Krankenschwester zu verstehen gab.
Von seinem Verwundungsabzeichen und seiner Verwundung hat meine Mutter erst erfahren, als sie, nachdem er an die Front zurückgekehrt war, die Bestätigung darüber bei den Papieren meines Vaters zufällig zu lesen bekam. Mein Vater hatte darüber nie gesprochen. Vielleicht hatte dies auch mit seinem schlechten Gesundheitszustand zu tun. Mein Vater hätte deswegen mit gutem Gewissen noch ein paar Tage länger bleiben können.
Wenn darüber gesprochen wurde, meinte er immer: „Ich kann meine Kameraden nicht im Stich lassen.“ Die drei Wochen Heimaturlaub vergingen sehr schnell. Mein Vater fand keine Ruhe. Das Pflichtgefühl drängte ihn. Er hätte es nicht ertragen können, sich einmal sagen lassen zu müssen, sich gedrückt zu haben.
Für ihn gab es nur noch einen Aufschub über den Geburtstag meiner Mutter am 02. November bis zum dritten Hochzeitstag meiner Eltern am 04. November 1942.
Am 06. November 1942 machte er sich auf den Weg in die Ungewissheit, zu seiner 6. Armee, den deutschen Divisionen, die für den Kampf um und in Stalingrad eingesetzt wurden.
Mein Vater war während der ganzen Jahre ein fleißiger Briefschreiber. Er hatte immer gleich geschrieben, wenn er wieder angekommen war. Das war dieses Mal nicht der Fall. Meine Mutter machte sich große Sorgen. Am 19. November 1942, nicht einmal zwei Wochen, nachdem mein Vater von zu Hause weg war, hörte meine Mutter über Rundfunk von einer unerwarteten großen Offensive der Roten Armee im Westen von Stalingrad. Das deutsche Oberkommando hatte damit nicht gerechnet.
Umso mehr war es überrascht worden, als am 19. November 1942 von den Sowjets die Rückeroberung von Stalingrad begann. Die hoch motivierten Rotarmisten hatten von Nord und von Süd die 6. Armee großräumig eingenommen. Der Ring um Stalingrad wurde immer enger. Die von Hitler zur Flankensicherung abgestellten und sehr schwach ausgerüsteten rumänischen und italienischen Verbände konnten der sowjetischen Offensive nicht standhalten. Es kam zu kräftigen Gefechten. Innerhalb von vier Tagen, am 23. November 1942, schloss sich der militärische Ring der Roten Armee um Stalingrad.
Die 6. Armee war komplett eingekesselt. Ohne Hilfe von außen zu bekommen, war ein Entkommen nicht mehr möglich. Es kam zu Straßen- und Häuserkämpfen. Bei den Soldaten ging es auf beiden Seiten nur noch ums Überleben.
Hitler hatte der 6. Armee verboten, aus Stalingrad auszubrechen. Das war auch nicht mehr möglich gewesen. Bei eisiger Kälte und in dichtem Schneegestöber hatten die Soldaten Stalins mühelos die deutschen, rumänischen und italienischen Stellungen um Stalingrad überrollt. Diese waren zu dieser Jahreszeit dem seit langem geplanten Angriff der Roten Armee nicht gewachsen. Dadurch wurden die 6. und Teile der 4. Panzer-Armee, 22 Divisionen, rumänische Verbände, gesamt 230 000 Mann, unter Feldmarschall Paulus eingeschlossen. Sie verteidigten sich innerhalb des Kessels so gut, wie es noch ging, und warteten auf Hilfe von außen. Unter ihnen war auch mein Vater.
Der Zeitraum von der Abreise meines Vaters von zuhause am 6. November 1942 zurück nach Stalingrad zu seiner Truppe reichte aus, um durch den von der russischen Armee noch nicht ganz geschlossenen Ring um Stalingrad hindurchzukommen und in der Hölle von Stalingrad eingesperrt zu werden.
Damit war das Schicksal der Soldaten, also auch das meines Vaters, im Kessel von Stalingrad besiegelt. Mein Vater war nach seinem letzten Heimaturlaub wegen seiner ausgeprägten soldatischen Pflichterfüllung und seines Pflichtbewusstseins dort leider nicht zu spät angekommen. Ein paar Tage später, und der Ring der sowjetischen Armee um Stalingrad, der sich am 23. November 1942 geschlossen hatte, hätte ihn nicht mehr hineingelassen.
Deutsche Truppen unternahmen den Versuch, den Kessel von außen zu erreichen. Auch die eingeschlossenen Truppen setzten noch mal zu einer Gegenoffensive an. Diese schlug fehl. Das konnte auch im Winter bei der eisigen russischen Kälte nicht anders kommen.
Stalin hatte bereits im Sommer 1942 angeordnet: „Keiner darf Stalingrad verlassen.“ Er hatte befohlen, die Stadt auf einen Einmarsch oder die Besetzung durch deutsche Truppen im Winter und deren Vernichtung vorzubereiten. Schützengräben wurden auch von der Zivilbevölkerung, von Frauen und Kindern, vorsorglich ausgehoben und Kampfstellungen aufgebaut. Stalin ging auch davon aus, der Verbleib der Zivilbevölkerung könnte die Moral seiner kämpfenden Soldaten steigern. So kam es dann auch.
Dem geschwächten, für den Winter nicht ausreichend vorbereiteten deutschen Heer war es nicht mehr möglich, sich zu verteidigen und den russischen Angriffen zu widerstehen.
Feldmarschall Paulus wollte deshalb Stalingrad aufgeben und nach Westen aufbrechen. Das war zwar aufgrund der russischen Überlegenheit um die ganze Region von Stalingrad sehr problematisch, Paulus sah darin aber die einzige Möglichkeit für seine Soldaten, einer totalen Vernichtung zu entgehen.
Von Hitler kam jedoch der Befehl, sich „einzingeln“ zu lassen und auf Hilfe von außen zu warten. Göring hatte von Deutschland aus noch großspurig versprochen, mehr als 100 Tonnen Waffen und Munition, Verpflegung und Kraftstoff in den Kessel einzufliegen.
Bei einer Entfernung von mehr als 200 Kilometern gegen 1 000 sowjetische Flugabwehrgeschütze reichten jedoch weder die deutschen Flugzeuge noch Piloten aus, um dieses großspurige Versprechen zu erfüllen.
Bereits bevor es zu dem militärischen Ring um Stalingrad gekommen war, waren nur noch 75 Tonnen in den Kessel von Stalingrad gekommen - für eine Armee, die mindestens 300 Tonnen Versorgungsgüter am Tag benötigt hätte, um überleben zu können. Aus der Luft kam immer weniger Versorgung. Es war ein Todeskampf nicht nur gegen den militärischen Gegner, sondern auch gegen den Hunger, den Winter und die eisige Kälte.
Der Armeechef Feldmarschall Friedrich Paulus, mit im Kessel von Stalingrad, bat deshalb um Handlungsfreiheit. Er meinte damit, kapitulieren zu dürfen. Dadurch hätte er sich als unterlegene Seite einseitig einer Entwaffnung und Gefangennahme unterworfen. Alle Kampfhandlungen im Kessel von Stalingrad wären dadurch endgültig beendet gewesen.
Hitler aber gab die Order „Halten und Verteidigen“. Das war das Todesurteil für die verbliebenen 230 000 Soldaten der ursprünglichen 22 Divisionen und somit auch für meinen Vater.
Die Mutter meines Vaters, Maria Gröger, geborene Franke, wurde im Sudetenland geboren. Sie hatte einen Bruder, Johann Franke, der Onkel meines Vaters. Auch er lebte im Sudetenland. 1918 gegen Ende des Ersten Weltkrieges verstarb meine Großmutter nach 18 glücklichen Ehejahren unvorhergesehen an den Folgen von Kriegsgeschehnissen. Sie hatte drei Kinder zur Welt gebracht. Das waren die Tochter Maria (meine Tante) und die Söhne Alfred (mein Onkel) und Josef (mein Vater). Er war, als seine Mutter verstarb, erst gut drei Jahre alt.
Meine Großeltern mütterlicherseits
Mein Großvater
war Johann Kiesewetter, geboren im Jahr 1896 in Hohnuder, Kreis Freiwaldau. Sein Beruf war Schreiner. Er spielte leidenschaftlich gern Trompete und liebte die Musik. Anfang August 1914, etwa drei Monate, bevor meine Mutter geboren wurde, wurde er mit 18 Jahren unerwartet und über Nacht als Soldat zur Wehrmacht eingezogen.
Was er immer schon wollte, war, meine Großmutter zu heiraten. Und das nicht nur, weil sie ein Kind von ihm erwartete, sondern weil er sie liebte. Jetzt, nachdem er Soldat werden und in den Krieg ziehen sollte, war ihm das ein umso größeres Bedürfnis.
Es gab jedoch ein großes Hindernis. Seine Eltern wollten diese Ehe nicht. Sie wollten nicht, dass er dieses Mädchen, meine Großmutter, sie war damals gerade 17 Jahre alt, heiratete. Seinerzeit war man erst mit einundzwanzig volljährig. Wer vorher heiraten wollte, brauchte die Zustimmung seiner Eltern. Nachdem er diese nicht bekam, gab es auch keine Heirat.
Mein Großvater war ein gesunder junger Mann. Er war schlank, kräftig und gut aussehend. Mit etwa 1,70 Meter war er einen knappen Kopf größer als meine Großmutter. Er war gutmütig, sehr ordentlich und arbeitsam und hatte meine Großmutter besonders gern.
Man konnte gut verstehen, dass meine Großmutter sich in ihn verliebt hatte. Und jetzt kam plötzlich und unerwartet der Tag, Abschied nehmen zu müssen, mit der Ungewissheit, ob man sich je wiedersehen würde.
Die beiden wollten sich jedoch als glückliches Paar in Erinnerung behalten. Deshalb beschlossen sie, sich als Braut und Bräutigam anzuziehen und sich so fotografieren zu lassen.
Mein Großvater machte vor Ort eine kurze militärische Ausbildung. Dann ging es an die Front. Vorgesehen war ein Einsatz an der Ostfront bei der 3. Armee, die noch einmal versuchen sollte, die Region um Lemberg zurückzuerobern.
Die erste Feldpost, die seine Braut erreichte, kam bereits im September 1914 aus dem Kampfgebiet um Lemberg. Er schrieb, dass er gut angekommen sei, sich an alles aber erst gewöhnen müsse, das falle ihm sehr schwer, und dass er sie sehr vermisse. Die Kämpfe um Lemberg endeten am 11. September 1914 mit einer endgültigen Niederlage. Nachdem die Kämpfe fehlgeschlagen waren und er unverletzt geblieben war, musste er in andere Kriegsgebiete an der Ostfront.
Post für meine Großmutter sollte, nachdem sie wegen ihrer Schwangerschaft ja kein festes Zuhause hatte, an seine Eltern gehen. Sie hatte ihm noch geschrieben und ihn über die Geburt seiner Tochter, der kleinen Sofie, geboren am 2. November 1914, informiert. Mit großer Sehnsucht wartete die junge Mutter auf Antwort. Doch Post von ihm kam bei ihr nie an. Ob ihn die erfreuliche Nachricht über die Geburt seines Töchterchens jemals erreichte, erfuhr sie nie. Es lag nahe, dass seine Eltern die Post ihres Sohnes seiner Braut nicht ausgehändigt hatten.
Im Juni 1915 wurde ihr Bräutigam Johann Kiesewetter, der Vater der kleinen Sofie, im Alter von nur neunzehn Jahren bei Kämpfen an der Ostfront seinen Eltern als gefallen gemeldet. Diese Nachricht ließen sie Sofie, seiner Braut, dann doch zukommen.
Ihm war es nicht vergönnt gewesen, sein Töchterchen Sofie kennenzulernen, in den Arm zu nehmen und seine Braut, was er so gern gewollt hätte, zu heiraten. Geblieben ist als Erinnerung nur ein Foto von der Hochzeit, die nie stattgefunden hat.
Meine Großmutter – Teil 1
Sophie Friede, geboren am 31. 5. 1897 in Böhmischdorf, Kreis Freiwaldau im Sudetenland, war die Tochter der Fabrikarbeiterin Maria Friede und des Fabrikarbeiters Eduard Friede.
Meine Großmutter war etwa 1,60 Meter groß. Sie hatte ein hübsches Gesicht, leicht lockiges, mittelbraunes halblanges Haar und war schlank und zierlich. Charakterlich war sie eine sehr willensstarke und selbstbewusste, stets gut gelaunte und fleißige junge Frau, die keine Arbeit scheute. Auf ihre Liebe und Treue konnte mein Großvater vertrauen. Das war es auch, was er, der sie nach dem Willen seiner Eltern nicht heiraten durfte, besonders an ihr schätzte.
Nachdem meine Großmutter bereits schwanger war, war der unvorhergesehene und kurzfristige Abschied von ihrem Bräutigam im August 1914, als er als Soldat in die osteuropäischen Kriegsgebiete musste, umso schmerzlicher. Es stimmte beide sehr traurig, nachdem nicht abzusehen war, ob und wann sie sich wiedersehen würden.
Bereits während der Schwangerschaft hatte meine Großmutter keinerlei Unterstützung von ihren Eltern erhalten. Sie musste von zu Hause ausziehen, bekam trotz verzweifelter Bemühungen keine Wohnung, war obdachlos.
In Sandhübel überließ ihr schließlich eine ältere Frau, die allein in einem kleinen Häuschen wohnte, ein Zimmer. Darüber war meine Großmutter sehr glücklich. Sie arbeitete in einer Drahtfabrik in Böhmischdorf von früh bis spät. Während der Mittagspause half sie bei ihrem Schwager aus, der vor Ort in einem kleinen Betrieb Ketten fertigte. So verdiente sie sich etwas zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes und um sich das Notwendigste für die Geburt ihres Kindes anschaffen zu können.
Die ältere Frau, bei der meine Großmutter wohnen durfte, scheute nicht das Gerede der Leute. Sie hatte großes Mitleid mit meiner Großmutter. Von ihr bekam sie sogar ein paar gebrauchte Möbel für ihr Zimmer: einen Schrank, einen kleinen Tisch sowie ein Bett mit Bettzeug. Bis zur Geburt ihres Kindes hatte meine Großmutter das Notwendigste zusammen.
Sie freute sich auf ihr Kind, war aber auch in großer Sorge um ihren Bräutigam und sehr traurig, dass er nicht bei ihr sein konnte. Dann war es so weit. In dieser bescheidenen Herberge wurde ihre Tochter Sofie, meine Mutter, am 02. 11. 1914 ?geboren.
Nach der Geburt nahmen die Schwierigkeiten noch zu. Als ledige Mutter wurde sie nicht nur von ihrem Vater verachtet, es war seinerzeit auch von der Gesellschaft mit keinem Verständnis zu rechnen. Ledige Mütter galten, wenn sie Arbeiterinnen oder Dienstbotinnen waren, als „Dirnen“. Uneheliche Kinder wurden seinerzeit in Deutschland als „Hurenkinder“ beschimpft und mit ihren Müttern gesellschaftlich diskriminiert.
Ledige Kinder und ihre Mütter betrachtete man als „asozial“ und minderwertig. Deshalb war es ihrer Vermieterin sehr hoch anzurechnen, dass sie meine Großmutter und ihr Töchterchen Sofie bei sich aufgenommen hatte. An dieser Einstellung der Gesellschaft gegenüber Müttern mit unehelichen Kindern änderte sich lange Zeit nichts zum Besseren. Eine grundlegende Reform des nicht ehelichen Rechts begann erst nach 1960.
Wegen dieser allgemein volksüblichen Einstellung und gesellschaftspolitischen Auffassung betrachtete der Vater meiner Großmutter die Tatsache, dass seine Tochter ein uneheliches Kind hatte, seinerzeit als Schande und wollte seine Tochter und das Enkelkind nicht sehen und schon gar nicht in seiner Nähe haben. Er schämte sich vor den Mitmenschen, weil seine Tochter eine ledige Mutter war. Dies ging so weit, dass meine Großmutter auch besuchsweise nicht mehr nach Hause kommen durfte. Das Gefühl, gesellschaftlich wegen ihres ledigen Kindes geächtet und verstoßen zu werden, war für meine Großmutter sehr belastend. Schlimm war aber auch die wirtschaftliche Not.
Nachdem meine Großmutter keinen Mann hatte, der für sie und ihr Kind sorgte, und auch nicht zu erwarten war, dass sie anderweitig Hilfe erhalten würde, musste sie für sich und ihr Kind (meine Mutter) selbst aufkommen und sorgen. Um den Lebensunterhalt für sie beide bestreiten zu können, arbeitete sie auch nach der Geburt ihrer Tochter meist als Fabrikarbeiterin. Ihr Kind ließ sie während dieser Zeit bei der Frau, bei der sie wohnte. Diese hatte entgegen den allgemeinen Gepflogenheiten Mitleid und meinte es gut mit meiner Großmutter und ihrem Töchterchen Sofie.
Meine Großmutter – Teil 2
wurde einundeinhalb Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Sofie, noch bevor meine Urgroßmutter verstarb, von ihrem Vater gezwungen, den zwanzig Jahre älteren verwitweten Fabrikarbeiter Karl Spenger aus Breitenfurt zu heiraten. Sie war darüber so verzweifelt, dass sie sich durch Ertränken das Leben nehmen wollte. Ein Mann aus dem Ort beobachtete dies und rettete sie.
Meine Großmutter hatte kein richtiges Zuhause, keine Arbeit, wurde wegen ihrer ledigen Tochter überall verachtet, war bitterarm und musste nun auch noch einen Mann heiraten, den sie überhaupt nicht mochte. Und das alles nur, um der Familie wieder zu mehr Ehre zu verhelfen. Meiner Großmutter blieb nichts anders übrig, als der Heirat zuzustimmen. Was hätte sie in ihrer Situation sonst tun können?
Wiedersehen zu dritt
Tage des Glücks
Zu der Zeit dieser dramatischen Kriegsgeschehnisse in der Sowjetunion war mein Vater auch dort an der Front. Da kam von ihm Post an meine Mutter. Er kündigte an, dass er auf Urlaub nach Hause in die Heimat komme. Den knapp sechs Monate dauernden Einsatz an der Ostfront hätte er, wie er schrieb, überstanden. Das klang zwar erleichtert, aber nicht hoffnungsvoll, und große Ängste bestanden weiterhin.
Wie sich nach seinem Kommen herausstellte, war mein Vater verletzt worden. Auf Grund dieser erstmalig erlittenen Verwundung am 6. August 1942 war ihm vom Leiter seines 14. Infanterie-Regiments 707 am 4. September 1942 das Verwundetenabzeichen in Schwarz verliehen worden. Es war ein Ehrenzeichen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Mit Verwundetenabzeichen wurden Soldaten ausgezeichnet, die durch Feindeinwirkung oder unverschuldet durch eigene Kampfmittel bei Kriegshandlungen verletzt oder kriegsversehrt wurden. Die Abzeichen gab es in Schwarz, Silber und Gold, je nach Anzahl und Schwere der Verletzungen. Das dürfte zu seinem kurzfristig nicht termingenau angekündigten Heimaturlaub geführt haben.
Die Ankunft meines Vaters war in der ersten Oktoberwoche 1942. Meine Mutter war mit einem Fahrrad, das sie sich ausgeborgt hatte, beim Einkaufen im Nachbarort unterwegs. Sie wusste ja nicht, wann ihr Mann ankommen würde. Auf dem Rückweg kam ihr schon Herr Teuber, ihr Hausherr, aufgeregt mit der Nachricht entgegen: „Ihr Mann ist schon da, Ihr Mann ist schon da!“
Die Freude war unbeschreiblich. Mein Vater konnte es nicht glauben, einen Sohn zu haben. Ich war gerade drei Monate alt. Es waren wiederum Tage der Freude und des Glücks.
Mein Vater war stark gekennzeichnet von den Ereignissen und Strapazen an der Front. Er hatte während der ganzen Zeit in der Heimat hohes Fieber und immer wieder Schweißausbrüche. Er war nicht gesund, was ihm auch eine Krankenschwester zu verstehen gab.
Von seinem Verwundungsabzeichen und seiner Verwundung hat meine Mutter erst erfahren, als sie, nachdem er an die Front zurückgekehrt war, die Bestätigung darüber bei den Papieren meines Vaters zufällig zu lesen bekam. Mein Vater hatte darüber nie gesprochen. Vielleicht hatte dies auch mit seinem schlechten Gesundheitszustand zu tun. Mein Vater hätte deswegen mit gutem Gewissen noch ein paar Tage länger bleiben können.
Wenn darüber gesprochen wurde, meinte er immer: „Ich kann meine Kameraden nicht im Stich lassen.“ Die drei Wochen Heimaturlaub vergingen sehr schnell. Mein Vater fand keine Ruhe. Das Pflichtgefühl drängte ihn. Er hätte es nicht ertragen können, sich einmal sagen lassen zu müssen, sich gedrückt zu haben.
Für ihn gab es nur noch einen Aufschub über den Geburtstag meiner Mutter am 02. November bis zum dritten Hochzeitstag meiner Eltern am 04. November 1942.
Am 06. November 1942 machte er sich auf den Weg in die Ungewissheit, zu seiner 6. Armee, den deutschen Divisionen, die für den Kampf um und in Stalingrad eingesetzt wurden.
Mein Vater war während der ganzen Jahre ein fleißiger Briefschreiber. Er hatte immer gleich geschrieben, wenn er wieder angekommen war. Das war dieses Mal nicht der Fall. Meine Mutter machte sich große Sorgen. Am 19. November 1942, nicht einmal zwei Wochen, nachdem mein Vater von zu Hause weg war, hörte meine Mutter über Rundfunk von einer unerwarteten großen Offensive der Roten Armee im Westen von Stalingrad. Das deutsche Oberkommando hatte damit nicht gerechnet.
Umso mehr war es überrascht worden, als am 19. November 1942 von den Sowjets die Rückeroberung von Stalingrad begann. Die hoch motivierten Rotarmisten hatten von Nord und von Süd die 6. Armee großräumig eingenommen. Der Ring um Stalingrad wurde immer enger. Die von Hitler zur Flankensicherung abgestellten und sehr schwach ausgerüsteten rumänischen und italienischen Verbände konnten der sowjetischen Offensive nicht standhalten. Es kam zu kräftigen Gefechten. Innerhalb von vier Tagen, am 23. November 1942, schloss sich der militärische Ring der Roten Armee um Stalingrad.
Die 6. Armee war komplett eingekesselt. Ohne Hilfe von außen zu bekommen, war ein Entkommen nicht mehr möglich. Es kam zu Straßen- und Häuserkämpfen. Bei den Soldaten ging es auf beiden Seiten nur noch ums Überleben.
Hitler hatte der 6. Armee verboten, aus Stalingrad auszubrechen. Das war auch nicht mehr möglich gewesen. Bei eisiger Kälte und in dichtem Schneegestöber hatten die Soldaten Stalins mühelos die deutschen, rumänischen und italienischen Stellungen um Stalingrad überrollt. Diese waren zu dieser Jahreszeit dem seit langem geplanten Angriff der Roten Armee nicht gewachsen. Dadurch wurden die 6. und Teile der 4. Panzer-Armee, 22 Divisionen, rumänische Verbände, gesamt 230 000 Mann, unter Feldmarschall Paulus eingeschlossen. Sie verteidigten sich innerhalb des Kessels so gut, wie es noch ging, und warteten auf Hilfe von außen. Unter ihnen war auch mein Vater.
Der Zeitraum von der Abreise meines Vaters von zuhause am 6. November 1942 zurück nach Stalingrad zu seiner Truppe reichte aus, um durch den von der russischen Armee noch nicht ganz geschlossenen Ring um Stalingrad hindurchzukommen und in der Hölle von Stalingrad eingesperrt zu werden.
Damit war das Schicksal der Soldaten, also auch das meines Vaters, im Kessel von Stalingrad besiegelt. Mein Vater war nach seinem letzten Heimaturlaub wegen seiner ausgeprägten soldatischen Pflichterfüllung und seines Pflichtbewusstseins dort leider nicht zu spät angekommen. Ein paar Tage später, und der Ring der sowjetischen Armee um Stalingrad, der sich am 23. November 1942 geschlossen hatte, hätte ihn nicht mehr hineingelassen.
Deutsche Truppen unternahmen den Versuch, den Kessel von außen zu erreichen. Auch die eingeschlossenen Truppen setzten noch mal zu einer Gegenoffensive an. Diese schlug fehl. Das konnte auch im Winter bei der eisigen russischen Kälte nicht anders kommen.
Stalin hatte bereits im Sommer 1942 angeordnet: „Keiner darf Stalingrad verlassen.“ Er hatte befohlen, die Stadt auf einen Einmarsch oder die Besetzung durch deutsche Truppen im Winter und deren Vernichtung vorzubereiten. Schützengräben wurden auch von der Zivilbevölkerung, von Frauen und Kindern, vorsorglich ausgehoben und Kampfstellungen aufgebaut. Stalin ging auch davon aus, der Verbleib der Zivilbevölkerung könnte die Moral seiner kämpfenden Soldaten steigern. So kam es dann auch.
Dem geschwächten, für den Winter nicht ausreichend vorbereiteten deutschen Heer war es nicht mehr möglich, sich zu verteidigen und den russischen Angriffen zu widerstehen.
Feldmarschall Paulus wollte deshalb Stalingrad aufgeben und nach Westen aufbrechen. Das war zwar aufgrund der russischen Überlegenheit um die ganze Region von Stalingrad sehr problematisch, Paulus sah darin aber die einzige Möglichkeit für seine Soldaten, einer totalen Vernichtung zu entgehen.
Von Hitler kam jedoch der Befehl, sich „einzingeln“ zu lassen und auf Hilfe von außen zu warten. Göring hatte von Deutschland aus noch großspurig versprochen, mehr als 100 Tonnen Waffen und Munition, Verpflegung und Kraftstoff in den Kessel einzufliegen.
Bei einer Entfernung von mehr als 200 Kilometern gegen 1 000 sowjetische Flugabwehrgeschütze reichten jedoch weder die deutschen Flugzeuge noch Piloten aus, um dieses großspurige Versprechen zu erfüllen.
Bereits bevor es zu dem militärischen Ring um Stalingrad gekommen war, waren nur noch 75 Tonnen in den Kessel von Stalingrad gekommen - für eine Armee, die mindestens 300 Tonnen Versorgungsgüter am Tag benötigt hätte, um überleben zu können. Aus der Luft kam immer weniger Versorgung. Es war ein Todeskampf nicht nur gegen den militärischen Gegner, sondern auch gegen den Hunger, den Winter und die eisige Kälte.
Der Armeechef Feldmarschall Friedrich Paulus, mit im Kessel von Stalingrad, bat deshalb um Handlungsfreiheit. Er meinte damit, kapitulieren zu dürfen. Dadurch hätte er sich als unterlegene Seite einseitig einer Entwaffnung und Gefangennahme unterworfen. Alle Kampfhandlungen im Kessel von Stalingrad wären dadurch endgültig beendet gewesen.
Hitler aber gab die Order „Halten und Verteidigen“. Das war das Todesurteil für die verbliebenen 230 000 Soldaten der ursprünglichen 22 Divisionen und somit auch für meinen Vater.