Sie war Er

Sie war Er

geboren, gestorben, gelebt

Brigitte Maria Peters


EUR 19,90

Format: 12 x 19 cm
Seitenanzahl: 100
ISBN: 978-3-99130-447-0
Erscheinungsdatum: 26.03.2024
Ein Buch für alle Menschen, die an ihrem Geschlecht verzweifeln.
GINGO BILOBA


Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten.
Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es Zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern,
fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin?

– Johann Wolfgang von Goethe –



Jetzt, da ich das Geheimnis kannte, das Ausmaß der Qualen erahnen konnte, die dieser Mensch durchlebt hatte, sah ich ihn, ohne dass ich wehtun wollte, manchmal mit anderen Augen an. Was würde passieren, wenn er das Medikament, das er seit seinem 15. Lebensjahr spritzen musste, nicht mehr nehmen würde?

Was würde sich verändern an seinem Äußeren? Würde er es durchstehen, nach all den jahrelangen Vergewaltigungen endlich das Leben zu leben, das er immer leben wollte?

Ich konnte kaum noch an etwas anderes denken. Dabei war ich selbst mit meinen eigenen Problemen in einer Situation, die eine längst überfällige Entscheidung verlangte. Auch ich wusste nicht mehr so recht, wo ich eigentlich hingehörte. Mir war in letzter Zeit immer klarer geworden, dass auch ich mich selbst unentwegt vergewaltigte.

Ich lebte in einem Umfeld, das zwar finanziell abgesichert war, dass mich aber von Jahr zu Jahr unglücklicher machte. Ich wusste nicht, warum ich es nicht schaffte, einen Schlussstrich zu ziehen unter ein Leben, das zu einem ständigen Kampf geworden war. Ich fühlte mich meinem Elternhaus, das mir noch immer mit finanziellen Mitteln alles bot, was eigentlich für ein eigenständiges Leben reichen würde, seltsam verbunden. Mir war nicht klar, wovor ich Angst hatte. Ich hatte zwar meine eigene Wohnung – aber im Haus der Eltern. Diese verstanden es immer wieder, mich auf erpresserische Weise an sich zu binden. Mein Schuldbewusstsein und mein Verantwortungsgefühl waren noch immer stärker als meine Entschlusskraft, endlich den entscheidenden Schritt in die absolute Unabhängigkeit zu gehen.

Deshalb war ich immer dann besonders glücklich, wenn ich einen Auftrag hatte, der eine längere Abwesenheit erforderlich machte.
Warum auch ausgerechnet mir so etwas widerfahren musste. Mir, die immer erst an das Wohl der anderen dachte, bevor ich meinen eigenen Interessen nachging. Mir, die seit langem geplant hatte, endlich einmal damit anzufangen, mehr an mich selbst zu denken. Ausgerechnet mir!



Angefangen hatte es mit einer gemeinsamen Arbeit.

Als freie Journalisten hatten wir beide den Auftrag für eine Recherche zum Thema „Rechtsradikalismus bei Jugendlichen“ angenommen.

Schon beim ersten Konzeptionsgespräch in der Redaktion war uns klar geworden, dass dieses Thema eine unangenehme, weltanschaulich herausfordernde Arbeit werden würde, der wir uns mit größtem Engagement stellen mussten.

Schon wenige Stunden nach diesem Gespräch saßen wir im Auto und fuhren nach Norden. Wir hatten unsere Reiseroute in der Tasche und wollten gründlich vorgehen. Während er sicher und ruhig über die Autobahn preschte, war ich bereits in Gedanken an der „Front“. Diese jungen Menschen, die sich politisch so verirrt hatten, wollte ich sehen, riechen, mit ihnen reden und wenn nötig auch streiten. Ich hatte meine Überzeugung, ich wollte untersuchen und berichten. Ich war wie besessen, weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass über 70 Jahre nach Hitler wieder ein brauner Sumpf kochte.

Ich sprach über meine geplante Vorgehensweise und meine Zielvorstellung, nicht nur die inzwischen allgemein bekannten Vorkommnisse zu dokumentieren, ich wollte an die Wurzel des Übels, ich wollte bei den Familien anfangen, die Mütter sehen und sprechen, bei denen diese jungen Menschen lebten. Und die Väter! Die wollte ich mir genau anschauen! Denn dort zu Hause und nicht auf der Straße, nicht am Stammtisch wurde dieses menschenfeindliche Saatgut gesät. Davon war ich fest überzeugt.

Irgendwann hielt er an einer Tankstelle und bat mich, nun das Steuer zu übernehmen. „Gern“, sagte ich. „Aber vorher musst du dir eine Pause gönnen“, fügte er hinzu. Er befürchtete, ich sei ja schon so sehr in diese Reportage „verstrickt“, dass ich die Story schreibe, bevor die Recherche angefangen habe.

Ich erschrak bei seiner Unterbrechung meines Monologs. Tatsächlich, ich war so aufgewühlt bei diesem Thema, dass ein Außenstehender annehmen musste, ich sei voreingenommen und in meiner bevorstehenden Arbeit schon so festgelegt, dass man mir eine unabhängige Leistung nicht mehr abnehmen könne. Dieses Erschrecken hatte aber noch etwas anderes, bisher nicht Gekanntes bei mir ausgelöst: Die Art und Weise, wie er mich zum Einhalt und zur Pause aufgefordert hatte, war ein mir bisher unbekannter Ton. Ein ganz neuer Duktus stand dahinter! Es lag nichts Bestimmendes, nichts Forderndes, nichts Herrschendes, nichts Nehmendes in seinem Vorschlag. Obwohl ich doch tatsächlich in den letzten Stunden sehr ichbezogen monologisiert hatte. Ich spürte, diese Bitte war ausgesprochen worden, weil der Kollege offenbar wirklich Sorge hatte, mir würde schon vor der eigentlichen Arbeit die Kraft ausgehen. Diese Feststellung bemerkte ich in einer eigenartigen Emotion. Das, wie er es gesagt hatte, löste etwas in mir aus, von dem ich nicht sagen konnte, was es war.

Erst als wir die nächste Ausfahrt zu einer Raststätte erreichten bemerkte ich, dass wir schon in der Lüneburger Heide waren. Da wurde mir klar, wie sehr ich ihn genervt haben musste, denn wir waren schon mehr als fünf Stunden gefahren, und ich hatte es gar nicht gemerkt – so sehr war ich diesem Thema verfallen. Unser erstes Ziel war Stade in Niedersachsen, schon in gut zwei Stunden würden wir dort sein, und erst jetzt war die erste Pause angesagt. Ich schämte mich für meine Rücksichtslosigkeit, vor allem aber auch deshalb, weil er seine Bitte um Fahrtunterbrechung eben in diesem „seltsam weichen Ton“ ausgesprochen hatte. Ich war einem solchen Tonfall in meinem Umfeld bislang nicht begegnet. Die Männer, die Kollegen, mit denen ich sonst zu tun hatte, reagierten anders. Genau dieser Unterschied war mir vorhin aufgefallen!

Komisch, dachte ich, während ich ihn beim gemeinsamen Imbiss das erste Mal näher betrachtete. Er war für sein Alter, ich schätzte ihn auf Mitte 30, von seinen Gesichtszügen her ein jugendlicher Typ, wirkte aber durch seine stattliche Körperfülle eher männlich, bierbauchig und grob. Sein Äußeres passte nicht zu der Art, wie er sprach; wie zuvorkommend er sich mir gegenüber verhielt. Für kurze Zeit vergaß ich mein berufliches Anliegen und entdeckte in mir den Wunsch, mehr über diesen Kollegen erfahren zu wollen.



Wir hatten uns in verschiedenen Pensionen in Stade eingemietet und dabei verheimlicht, dass wir als Journalisten gekommen waren. Natürlich wollten wir nicht als Undercover-Agenten operieren, aber wir hatten den Plan, uns dem Milieu durch ein unverfängliches äußeres Erscheinungsbild zu nähern. Das hieß: keine Videokamera, nur das Diktiergerät und die kleine Digitalkamera waren in unseren Jeansjacken griffbereit.

In den ersten beiden Tagen war Bestandsaufnahme angesagt. Wir zogen getrennt um die Häuser, besuchten die einschlägigen Kneipen und fanden bald auf die von uns verfolgte Spur.

Nach drei Tagen machten wir die erste gemeinsame Bestandsaufnahme und trafen uns dazu in einem kleinen Bistro. Wir hatten vereinbart, unsere Beobachtungen in einem Dokument schriftlich zusammenzuführen und festzuhalten, unseren Bericht als Gemeinschaftsarbeit zu deklarieren. Unsere Einblicke, unsere Recherchen, die in den ersten drei Tagen dazu geführt hatten, dass wir vor allem nachts sehr lange unterwegs gewesen waren, zeigten bei uns erste Auswirkungen. Wir waren übermüdet und angewidert von der Szene, in die wir eingetaucht waren. Nachdem der Hunger gestillt, das zweite Glas Wein anfing, Wirkung zu zeigen, versuchten wir, unseren Frust ein wenig mit privatem „Kennenlernen“ wegzuschieben. Natürlich war uns klar, dass jeder Mensch sein eigenes Päckchen zu tragen hat, aber wir spürten, dass ein Geheimnis in der Luft lag, dass uns irgendwie aneinanderbinden würde.

Ich war sehr redselig an diesem Abend. Sprach über die Probleme, die ich mit meinem Elternhaus hatte. Dass ich den Weg heraus noch nicht gefunden hatte. Ich lehnte die Unterstützung ab, die ich von meinen Eltern bekam, hatte ich doch meinen Beruf, mein eigenes Einkommen. Dennoch konnte ich nicht nein sagen. Der Vater war in seinem Beruf als Finanzmakler erfolgreich gewesen und hatte nach einem arbeitsreichen Leben keine Perspektive für die Rentenjahre. Er hatte es versäumt, sich auf das Alter vorzubereiten, hatte Tag und Nacht gearbeitet, erwies sich nun als völlig unselbständig und machte dadurch seiner Frau das Leben zum Martyrium. Jede Krankheit, die ein Mensch haben kann, bekam er jetzt – er, der im Berufsleben immer vor Energie gestrotzt, gut gelaunt und gesund der Öffentlichkeit zur Verfügung gestanden hatte.

Ja, es war wohl das Mitleid mit der Mutter, das mich daran hinderte, mich abzunabeln. Ich konnte die Mutter nicht mit diesem Mann allein lassen!

Aber wann sollte dann eigentlich mein eigenes Leben anfangen?

Ich bemerkte, dass ich mich wieder einmal in Rage geredet hatte–und er war nicht nur ein verständnisvoller Zuhörer, er hatte sogar immer wieder Fragen gestellt, wirkliches Interesse gezeigt. Ich empfand seine Gesellschaft als beruhigend, fühlte mich in seiner Nähe sicher und geborgen. Er war mir so vertraut, als würden wir uns schon Jahre kennen.

Er hingegen sprach nur kurz über seine derzeitige Beziehung. Sie war nicht einfach, da die Freundin nicht ganz gesund war, viele Medikamente nehmen musste und das Alleinsein kaum aushalten konnte.

Ich ertappte mich vor dem Einschlafen dabei, dass mein berufliches Anliegen plötzlich unwichtiger geworden war. Ich dachte nur noch an diesen Kollegen. Er hatte ein Geheimnis, und ich wollte erfahren, was es war.



Ich hatte in ein Wespennest gestochen. Es wurde allmählich gefährlich, ohne Polizeischutz zu agieren. Ein 14-jähriger Junge hatte mich mehr oder weniger zufällig auf die Spur gebracht. Er hatte mich in einem Stehcafé angerempelt und sich dafür nicht entschuldigt. Normalerweise hätte ich mich nicht weiter darüber aufgeregt, aber dieser Junge hatte eine Kaltschnäuzigkeit gezeigt, die mir Angst einjagte. Also verfolgte ich ihn und kam dabei in den engsten Kreis der rechten Szene in einer Kneipe.

So lief das also heute: Die Väter und Großväter hatten ihren Stammtisch um die Ecke, und dort gab es ebenso gemütliche Nebenzimmer. Und die Wirte, dieselben Leute, die auch damals angeblich nichts gewusst hatten, wissen auch heute wieder nicht, was bei ihnen passiert.

Für mich war das alles wie in einem schlechten Film. Ich hörte das Skandieren von ausländerfeindlichen Parolen und sah das Propagandamaterial, das versandfertig gemacht wurde. Und ich konnte nicht glauben, dass brave Bürger, die am Sonntag in der Kirche saßen und beteten, immer noch menschenverachtendes Deutschtum pflegten, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben und Adolf Hitler wäre noch immer ihr oberster Dienstherr.

Ich sprach spontan eine Frau an, die diesem Jungen scheinbar nahestand, und fragte, ob sie wüsste, wo dieser Junge wohne, denn ich hatte das Gefühl, die Leute in der Kneipe kannten sich alle und sie trafen sich dort für ihre „gemeinsame Sache“. Kaum hatte ich meine Frage gestellt, war ich von einem Trupp junger Schlägertypen umstellt. Einer von ihnen fragte, was ich von dem Jungen wolle. Ich gab mich unbeeindruckt und berichtete von der unverschämten Rempelei. Doch ich wusste, ich konnte jetzt nicht telefonieren und Hilfe holen. Also sagte ich mutig, ich würde über die Polizei schon die Adresse des Jungen herausfinden, denn ich beabsichtige, ihn anzuzeigen. Ich hatte den Satz nicht fertig über die Lippen gebracht, da fühlte ich bereits einen schmerzenden Druck am Hals. Die halbstarken Schlägertypen hatten mich schon gepackt und mit gekonnten Würgegriffen vor die Tür geworfen.


So war das also! Es ging alles einfach und ganz schnell. Hier wurde nicht lange gefackelt, es wurde gehandelt, hier herrschten also klare Verhältnisse. Wer Fragen stellte, mit dem wurde kurzer Prozess gemacht. Vor der Polizei hatte man keine Angst, keinen Respekt. Man musste sie aber offenbar auch nicht fürchten, denn meine „Drohung“ nahm man nicht ernst. Dies war mir eben klar geworden. Was hätte es also genützt, wenn ich zur Polizei gegangen wäre? Die Fragen, die ich dort hätte beantworten müssen, wollte ich nicht über mich ergehen lassen. Denn, so überlegte ich, wenn in einem Ort so unverhohlen agiert wurde, musste die Polizei längst Bescheid wissen!


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