Neumondzeit

Neumondzeit

Die Zukunft der katholischen Kirche in der Reflexion mit anthroposophischer Weltanschauung – Zeitfragen, Erfahrungsberichte

Sophia Gabriel Hildesheimer-Kießling


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 232
ISBN: 978-3-99107-188-4
Erscheinungsdatum: 11.01.2021

Leseprobe:

1 Wo stehen wir? – Versuch einer Situationsanalyse – Zeitfragen

Geht es zu Ende? – Waren 2000 Jahre katholische Kirche genug? Wo sind wir hingeraten?
Meine Wahrnehmung ist: Etwas dreht sich im Kreis. Was geht vor sich in der Institution? Veränderungen geschehen; wenn sie nicht gestaltet werden, wird alles nach und nach dekadent. Diesen Eindruck habe ich stark. Es geht nicht darum, polemisch zu sein, sondern zu schauen, was passiert.
Weiter frage ich: Ist es angebracht, angesichts der Tatsache, dass die Welt brennt, noch immer zu lamentieren, dass die Kirche an Bedeutung verliert? Werden selbstkritische Fragen auf effiziente Weise gestellt? Will man wirklich wissen, was falsch läuft? Wenn ja, kann die Antwort aus dem Insidervokabular kommen? Es werden schon Fragen gestellt, doch ob sie wirklich weiterführen, wage ich zu bezweifeln – aus der Beobachtung, so weit ich die Lage beurteilen kann, wage ich es zu bezweifeln. Es müssten Zeitfragen so gestellt werden, dass die Zeichen der Zeit erkannt werden. Die Perspektive, aus der Zeitfragen gestellt werden, könnte sich erweitern. Es gilt, einen Bannkreis zu durchbrechen. So beginne ich, Dr. Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie zu zitieren – und das liegt in der Natur der Sache, wenn ich die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit der Anthroposophie suche: „Es ist nicht die Schuld der Tatsachen, dass Fragen unbeantwortet bleiben. Die Fragen sind falsch gestellt, aber wir werden den Maßstab der Fragestellung mit der Zeit finden.“ (GA 110 – Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt, S. 44)
In welchen Zeiträumen da zu denken sein wird, muss offen bleiben. – Die Not der Stunde ist vielfältig. Es ist jedenfalls zunächst sinnvoll, einmal über den Tellerrand zu schauen, über die Welt der Katholizität hinaus, eine Anschauung der Welt außerhalb gewohnter Vorstellungen und Denkweisen zu wagen, z. B. eine Weltbetrachtung aus anthroposophischer Sicht. Es ist u. U. hilfreich, von außen zu schauen. Ist es nicht so, dass sich auf diese Weise unerwartete Möglichkeiten ergeben können? Albert Einstein sagte ja schon, dass Probleme sich nicht mit derselben Denkweise lösen lassen, mit der sie entstanden sind. Dieser Einwand will deutlich machen, dass Probleme und Sorgen innerhalb der katholischen Kirche nicht mit den gewohnten, rein innerkirchlichen Anschauungen lösbar sind. Die Krise innerhalb der katholischen Kirche wirft viele Fragen auf. Eines scheint mir allerdings klar: Es ist schon längst keine Frage der Methode mehr, wenn etwas seinen unguten Gang nimmt, sondern eine Frage der Inhalte … Das wage ich zu behaupten. Dies wird vermutlich nicht so gesehen von den betroffenen Verantwortlichen innerhalb der Institution. Man gibt strukturelle Antworten, entwickelt Konzepte usw. – die katholische Kirche ist zur Planwirtschaft geworden, um die Krise in den Griff zu bekommen. Dass dies nur umso mehr Kräfte bindet und vom Eigentlichen ablenkt, wird nicht gesehen; alle Angestellten haben den Plänen nachzukommen, müssen sie umsetzen. Stelle man sich einmal vor, Jesus käme da vorbei und beobachtete die Szene, wie die Jünger von heute Pläne, Konzepte umsetzen müssen, um die Krise des religiösen Verlustes mit Strukturmodellen zu lösen. Oder man stelle sich vor, wie er zusehen muss, dass „Abenteuerkirchen“ eingerichtet werden, um eine gewisse Faszination bei den Kindern und Jugendlichen auszulösen … So behaupte ich, es ist eine Frage der Inhalte – jedoch absolut nicht auf der rein intellektuellen Ebene – sondern im umfassenden Sinn, und dies geht bis in die Erfahrungsebene hinein. Ja, die substanzielle Frage lautet: Wie kommt man wieder in Berührung mit der göttlichen Sphäre und Welt? Wie ist es möglich, in unserer Zeit Christus zu erkennen? Die Erfahrungsebene muss dann auch die Erkenntnis beinhalten, sonst bleibt man blind mit seinen Erfahrungen und tastet sich irgendwo herum. Wenn wir also wirklich um Erkenntnis ringen, dann bekommt die Christuserfahrung von heute einen weiteren Horizont. Die Grenzen abzustecken und beim Alten stehen zu bleiben, verhindert inneres Wachstum und weitere Entwicklung. Es darf nicht mehr bei leeren, erfahrungsentleerten Worthülsen bleiben. Vielleicht braucht man sogar mehr Mut zum Schweigen; Mut, den Gottesbegriff stark zu reduzieren. Mut, sich zu besinnen auf das eigene, wahrhaftige Erlebnis und nicht darüber hinaus etwas zu zerreden. Weiter wage ich zu behaupten: Die Theologie bis dato reicht nicht mehr aus. Die Frage nach der Erkenntnis muss tiefgründiger gestellt werden. Wer von den heute Verantwortlichen kann sprechen aus der Sphäre der Christuserkenntnis und ‑begegnung, wie Paulus sie in Damaskus hatte? Wer in der Verkündigung „arbeitet“, sollte nicht dahinter zurückbleiben und dennoch „reden“. Natürlich darf ich nicht urteilen über die innere Glaubenserfahrung anderer. Dennoch behaupte ich, die Erkenntnisfrage wird nicht wirklich gestellt – jedenfalls nicht offen. Doch darf ich überhaupt, wenn ich diesen „Brotkorb“ gewählt habe, Christus so erkennen, wie er sich zu erkennen geben will? Einige wohl schon, das muss fairerweise gesagt sein. Wes das Herz voll ist, geht der Mund über … Es geht dabei jedoch nicht um „Schwärmen“. Was Paulus erlebte, konnte er nicht verschweigen. Das Durchdrungensein von der Christuserkenntnis und seinem tiefsten Geheimnis ist es, das zur Verkündigung drängt – und nichts anderes darf es sein. Doch ich komme nicht von der Besorgnis weg, dass viele sich mit Worten abgeben, die leer geworden sind, nicht weil sie leer wären, sondern weil sie für viele keinen tiefen Erfahrungswert mehr beinhalten. Darum gilt es, sich zunächst einzugestehen, dass Methodenwechsel nicht die Lösung bringt.
Es handelt sich – das ist, worauf ich hinauswill – um die Dekadenz im Umgang mit dem Wort, die logische Konsequenz von alledem, und dies ist sehr tragisch, gerade in der Verkündigung. – Sind wir da angekommen, ohne es zu merken? Meine Devise wäre: nicht noch mehr Aktionen, noch mehr Methodenwechsel – nicht noch länger Krieg: „Wie kriegen wir die Leute wieder in die Kirche?“ – und darum auch nicht noch mehr Theater und Manöver, um die Leute irgendwie anzuziehen … Das alles entlarvt sich als Ablenkungsmanöver, meine ich, damit die wirklichen Ursachen nicht angeschaut werden müssen und man an der bequemen Peripherie bleiben und weitermachen darf – zu Tode erschöpft … ausgepowert, ausgebrannt, außer Atem wie der Hamster im Rad … Wenn die Erkenntnisfrage im anthroposophischen Sinn gestellt wird, hat dies natürlich ziemlich radikale, an die Wurzel gehende Konsequenzen; und mir ist klar, dass sich das eigentlich niemand leisten darf, der innerhalb der Institution arbeitet: denn – „wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ – es darf sich eigentlich diese Berufsgruppe nicht mit anderen Erkenntnisquellen, außer den katholischen, ernsthaft auseinandersetzen, da sie sonst ihren Brotkorb verliert … Obwohl es dringend nötig wäre! Zur Beruhigung im Ganzen muss gesagt sein, und dies ist eindeutig klar: Es handelt sich um Christuserkenntnis, nicht um etwas Neues, Sektenhaftes – doch diese Erkenntnistiefe – treffender gesagt: die Weite der Erkenntnis – kann innerhalb der Institution nicht gefunden werden; das ist die Krux dabei … Es handelt sich um eine essenzielle Erweiterung der Erkenntnisdimension in Sphären hinein, in die Unendlichkeit der göttlichen Sphäre hinein, die bisher nicht gewagt wurde, nicht erlaubt wurde? Vorenthalten wurde? – Es geht nicht darum, etwas schlechtreden zu wollen, ganz im Gegenteil; ich verteidige die katholische Kirche – zwar nicht in allen ihren Verhaltensweisen, sondern der noch verbliebenen Substanz wegen, insofern die Christusgegenwart durch noch so viel Murks, der geschieht, nicht „vernichtbar“ ist … und ich bin – wie ich meine – hoffentlich nicht die einzige, doch eine von manchen Ausnahmen: eben keine traumatisierte Katholikin, sondern eine, die aus den Quellen tief schöpfen konnte und mit dem mystischen Leib des Christus tief verbunden ist. Darum handelt dieses ganze Buch, aber eben mit der Auflage, nicht dabei stehen bleiben zu können, weil unsere Zeit etwas anderes, ja mehr, erfordert. Unsere Zeit ist Gottes Zeit, unsere Welt ist Gottes Welt, unsere Not ist Gottes Not – doch mit der Chiffre „Gott“ dürfen die Antworten, die gefunden werden wollen, nicht ersetzt werden. Allerdings: ich will unbedingt alle wertschätzen, die das Folgende aufbringen: Menschlichkeit. Alles, was an Menschlichkeit geschieht, macht Sinn. Alle ehrlichen Bemühungen verdienen Respekt; aller gelebte Respekt behält seine Wirkung im guten Sinn. Alle Liebe, die gelebt wird, darf nie in Abrede gestellt werden. Das letzte Fünkchen Frömmigkeit – echte, nicht Frömmelei – möge erhalten bleiben und um Himmels willen nicht erlöschen! „Der Christ von Morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.“ Diese Worte des Theologen Karl Rahner sind existenziell – ich frage Verantwortliche der Kirche: Hat man sie wirklich ernst genommen? – Ich habe ihn noch in den 80er‑Jahren erlebt; das ist ja auch schon über dreißig Jahre her … Ja, der mystische Seelenstrom, falls noch etwas davon übrig ist, wovon ich nicht wirklich überzeugt bin – außer bei Einzelnen vielleicht – (ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen, wenn dem so wäre – es würde mich freuen!) – dieser mystische Strom ist unendlich kostbar. Er möge nicht versiegen; er wäre sehr bedeutsam; darin stimme ich mit Karl Rahner überein. Jedoch – und das ist der Kern dieser Arbeit, es braucht noch mehr, der mystische Seelenstrom muss erweitert werden: Er muss auf die Erkenntnisebene erweitert werden. Es braucht allerdings Mut und eine starke Intuition für „das Gute“ – im Sinne des Pauluswortes: „Prüft alles, das Gute behaltet.“ (Brief an die Kolosser 5,21) Nun ist meine Konklusion: Die Öffnung in die Anthroposophie hinein würde helfen zu neuen Perspektiven, das ist meine Erfahrung – und Perspektivenwechsel ist angesagt. Aus dem Seelenraum gilt es, sich in eine andere Dimension hineinzuweiten. Nicht aus dem Seelenraum heraus – dieser muss erhalten bleiben, doch in die Geistsphäre hinein – und da ist eine Art Aufwachen gefragt. Es gilt, einen Durchbruch zu wagen, Entgrenzung zu suchen, auf viel umfassendere Weise „im Geheimnis daheim zu sein …“ – Das Geheimnis ist und war in der katholischen Kirche anwesend; das ist eigentlich nicht das Problem, nur dass es niemanden mehr interessiert. Irgendwie ist die Spannung weg. Die Ansprüche sind berechtigterweise gewachsen bei den Menschen von heute. Die alten Kamellen genügen nicht mehr. Eigentlich will der moderne Mensch doch mehr wissen. – Nun denn, in der Anthroposophie findet er eine Quelle, die auszuschöpfen ein Leben gar nicht ausreicht. Dabei kann verhindert werden, schwärmerisch abzuheben in alle möglichen Gurusphären. Das Großartigste dabei, sodass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, die geistigen Welten wollen sich offenbaren – der Himmel neigt sich uns entgegen, um es einmal so zu sagen, doch die katholische Welt verschläft buchstäblich dieses großartige Ereignis; ja – und darauf komme ich noch: Sie verschläft oder verpasst die Wiederkunft Christi, der in seiner Auferstehungskraft anwesend blieb die ganzen zweitausend Jahre hindurch – und uns niemals verlassen hat. Der Menschensohn, der Christus – als Gottessohn – nahm den Menschen, der noch nicht vollendet ist, an der Hand, sodass er mit ihm wachsen konnte – und durch Äonen hindurch geschieht das weiterhin – und dies darf jetzt endlich „eingesehen“ werden. Weisheit und Einsicht, diese göttlichen „Geistesgaben“, sind dazu nötig! Es handelt sich – wie gesagt, aus eigener Erfahrung – bei der Anthroposophie nicht um eine einseitige Ideologie oder gar um eine Sekte! Es handelt sich um den Menschen selbst in seiner ganzen Gestalt, in seinem ganzen Wesen, also auch in seiner Bezogenheit zur geistigen Welt. Es handelt sich darum, das Irdische mit dem Himmlischen, dem Geistigen in Verbindung zu sehen, zu erleben – und vor allem auch zu verstehen! Dafür ist es jetzt Zeit:
„Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird.“(Johannesevangelium, 16,12)
Ja, ich bin der Auffassung, dass die Offenheit in der katholischen Kirche nicht da ist, nach 2000 Jahren immer noch nicht, dieser Verheißung des Johannesevangeliums wirklich Raum zu geben. Was vor 2000 Jahren noch nicht „erträglich“ war, ist heute aus der Not unserer Zeit heraus aufs Dringlichste geboten. Das wird noch aufgezeigt werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, alles dem Zufall zu überlassen oder von Gnade und Vertrauen zu sprechen, ohne Verantwortung zu übernehmen. Es gibt auch Verantwortung im Bereich des Geistigen. Und da genügt es nicht mehr, das – was ich nicht erklären kann oder will – mit (Gut-)Gläubigkeit zu ersetzen, da es immer schon so funktioniert hat … – hat es das? Es ist sogar so, dass mithilfe der Anthroposophie destruktiv Systemhaftes durchschaut werden kann, überall wirksam in der Welt – unabhängig von der Institution Kirche, aber ehrlicherweise dort auch – ja, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt, dass erkennbar wird, was hinter dem Geschehen in der Welt steht und welche Kräfte am Werk sind. Wenn es nicht möglich ist, in Geistesfreiheit den Zugang zu finden zu einer weisheitsvollen, menschlichen – und in diesem Sinne von der Wortbedeutung her „anthroposophischen“ – Weltsicht, werden Systeme sich mit immer neuen Gesichtern als Systeme wiederholen, ohne dass der Mensch zu sich und seiner eigentlichen Bestimmung findet. Systeme, die hinterfragt werden müssen zu verschiedenen Zeiten: Monarchie im missbrauchten Sinn, Anarchie, Nationalsozialismus, Rechts- oder Linksradikalismus, Kommunismus, Globalismus, Diktatur, „Bürokratur“ … Digitalismus, Transhumanismus … Das sind natürlich keine religiösen oder kirchlichen Phänomene, doch Systematisierung ist auch innerhalb der Kirche wahrnehmbar, und darum gilt es, das Phänomen zu beobachten, da sonst die Lebendigkeit noch restlos verloren geht. Wirkliche Wandlung – ein Thema eben nicht nur in der katholischen Kirche, aber ebenfalls auch in ihr – und wie ernst. Es ist kein Witz mehr, die so bekannte Geschichte: „Frag 100 Katholiken, was das Wichtigste sei in der katholischen Kirche. Sagen sie, die heilige Messe. Frag 100 Katholiken, was das Wichtigste sei in der heiligen Messe, sagen sie: die Wandlung. Sag 100 Katholiken, das Wichtigste in der katholischen Kirche sei die Wandlung. Sagen sie: Nein, es soll alles so bleiben, wie es ist!“ Es ist somit eine Frage der Horizonterweiterung, der Entgrenzung. Heinrich Spaemann, ein sehr frei denkender Priester und Autor (Ende der 1990er-Jahre verstorben) – ein zutiefst religiöser durchgeistigter Mensch, wie ich ihn erlebt habe, sprach mir immer wieder von „Entgrenzung“. „Die Geborgenheit des Adlers liegt in der Freiheit seiner Schwingen“ (persönlich gegebenes Zitat), das war Heinrich Spaemann … Entgrenzung ist eine Devise, die unter keinen Umständen gemütliches Stehenbleiben erlaubt; es gilt, immer neue Ufer zu suchen – und es gibt deren viele; sie ragen in den Kosmos hinein.
Wir können uns nicht mehr begnügen mit ausschließlich den „alten“ Inhalten, die von vielen – wie bereits gesagt – nicht mehr verstanden bzw. erfahren werden – das ist das Existenzielle daran. Mit dem Hergebrachten bzw. mit dem gewohnten Umgang höhlen unsere Worte aus. Das heißt nicht, dass daran etwas verkehrt war; es bedarf der Wertschätzung gegenüber allem gelebten Glauben der vergangenen zwei Jahrtausende; nur es reicht nun nicht mehr aus. Neue Zeiten erbringen neue Herausforderungen. Im Laufe der Säkularisierung, Intellektualisierung und Materialisierung unserer Zeit ist die „Aushöhlung“ geschehen. Das hat mit Verschiedenem zu tun, darüber noch zu sprechen sein wird. Es ist allerdings nicht so, dass es keine religiöse oder spirituelle Sehnsucht gäbe, jedoch braucht es ein Gespür dafür, was echt ist. So wie ein Kenner auf Gold beißt und es „weiß“. In dem esoterischen Bauchladen der „New Age“-Bewegung, der Neuen Zeit, die auch schon wieder Jahrzehnte alt ist …, kann man sich tummeln und begeistern lassen – und: abheben; das ist die Gefahr – und sie wird meistens nicht wirklich als solche wahrgenommen. Die spirituelle Sehnsucht lebt sich in dieser Szene stark aus. Auch die Flucht in die Drogensphäre kann hier hinterfragt werden.
Nun bin ich Katholikin und bekennende Anthroposophin. Durch die Beschäftigung mit der Anthroposophie sind die Perspektiven der Weltbetrachtung andere geworden, sowohl im Rückblick, woher wir Spezies Menschen kommen, als auch wohin es geht mit uns. Dies bekommt durch das Eintauchen in die Anthroposophie eine Weite und eine Dimension, die nicht aussichtslos ist. Doch ernst bleibt es mit der Weltgeschichte – und wird es immer mehr … Rudolf Steiner hat vor 100 Jahren in allen Lebensbereichen Impulse gesetzt, um das Leben lebendig zu halten, weil das Abgründige sich auftat; und nun sind die Ansätze aus der Anthroposophie aktueller denn je; davon bin ich inzwischen überzeugt. Mit seinen Worten tönt das so: „Im Laufe des 20. Jahrhunderts (…) wird die Menschheit entweder am Grabe aller Zivilisation stehen oder am Anfang desjenigen Zeitalters, wo in den Seelen der Menschen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität verbinden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael-Impulses ausgefochten wird.“ (GA 240, S. 183, „Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“). Wer mit dem Erzengel Michael gemeint ist, wird noch nicht weiter nötig sein zu erörtern; doch vielleicht gehen wir in eine Zeit, da nichts mehr bekannt sein wird an religiösen Inhalten, wer weiß. – Das neutestamentliche Wort: „An den Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Matthäusevangelium 7,16) kann reflektiert werden im Zusammenhang damit, was aus den anthroposophischen Impulsen hervorgegangen ist; es sind buchstäblich „lebenserhaltende Maßnahmen“ – und sie sind überall nötig, nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, die irgendwie im Koma liegt; wer das von sich weist, frage sich, ob man sich anstatt dessen nicht in Aktionismus verliert. Überall, wo es im konkreten Leben darauf ankommt, ganz existenziell, sind dem Trend entgegengesetzte Maßnahmen nötig. In unserem 21. Jahrhundert zeigt es sich, wer es erkennen kann, wie notwendig sich die Erhaltung des Lebendigen erweist. Die Impulse, die aus der Anthroposophie hervorgegangen sind, betreffen ziemlich alle Lebensbereiche und damit die Weiterentwicklung oder gar die Erhaltung der Menschheit überhaupt. Welche Bereiche dies sind, ist ja weitläufig bekannt: Landwirtschaft, Pädagogik, Medizin, Ökonomie, Bildung im erweiterten Sinn und Kunst, um die wichtigsten der praktisch umgesetzten Bereiche zu nennen. Diese Lebensbereiche sind in sich bedroht – dies war für Rudolf Steiner voraussehbar, und nun ist das inzwischen fast jedem klar. – All das sind natürlich ganze Welten für sich, mit denen man sich beschäftigen kann – es würde zu weit führen, im Einzelnen darauf einzugehen. Es sei mir hier in diesem Zusammenhang eine Bemerkung und ein Beispiel erlaubt, um zu verdeutlichen – wie bedroht unsere Welt geworden ist – dieses Beispiel ragt in den politischen Bereich hinein. In der Politik werden ja maßgebende Dinge bestimmt, die das Allgemeinwohl und die Zukunft der Gesellschaft und damit der Menschheit betreffen; es ist heutzutage ja kein Geheimnis mehr, dass die politische Wirksamkeit unterwandert wird und damit die Demokratie bedroht ist.
Das Bewusstsein, die Wachheit der Menschen, ist jedoch deutlich am Wachsen. Die Finanzkrise seit 2008, die ja bei weitem nicht überstanden ist, hat geholfen zu durchschauen, mit welchen Abgründen wir es zu tun haben. Dennoch geht es lautlos weiter. Es ist ja schon lange klar, dass (neben den Kriegen in verschiedenen Ländern) Korruption (welche die verbrecherischen Strukturen zur Folge hat mit ihrer himmelschreienden Ungerechtigkeit) die eigentliche Fluchtursache jedenfalls vieler afrikanischer Flüchtlinge ist und darum die Ursache der Armut nicht nur auf diesem, aber vor allem diesem Kontinent nicht mehr geleugnet werden kann. Dieses Thema kulminiert – und dies war vorauszusehen. Überall Baustellen, keine kleinen.
Und nun noch die Coronakrise auf dem ganzen Planeten; das ist so unglaublich einschneidend auf allen Ebenen und noch nicht absehbar, welche Konsequenzen dies haben wird (April 2020).
Mein Interesse an der Welt bringt mich dahin, das Leben in seinem Umfeld anzuschauen. Wir sind ja inzwischen alle mehr oder weniger Weltbürger geworden. Ein Christ kann nicht anders, als sich für die Welt interessieren, sonst wird er fanatisch und weltfremd und müsste darum seinen Glauben ernsthaft hinterfragen, ob er etwa nicht egoistische Motive hat, weshalb er Gott braucht.
Nun habe ich das Thema etwas breit abgesteckt, eine ausführliche Ouvertüre versucht, doch dies schien mir nötig. Als Nächstes will ich den Leser mit auf meine Reise nehmen:

1 Wo stehen wir? – Versuch einer Situationsanalyse – Zeitfragen

Geht es zu Ende? – Waren 2000 Jahre katholische Kirche genug? Wo sind wir hingeraten?
Meine Wahrnehmung ist: Etwas dreht sich im Kreis. Was geht vor sich in der Institution? Veränderungen geschehen; wenn sie nicht gestaltet werden, wird alles nach und nach dekadent. Diesen Eindruck habe ich stark. Es geht nicht darum, polemisch zu sein, sondern zu schauen, was passiert.
Weiter frage ich: Ist es angebracht, angesichts der Tatsache, dass die Welt brennt, noch immer zu lamentieren, dass die Kirche an Bedeutung verliert? Werden selbstkritische Fragen auf effiziente Weise gestellt? Will man wirklich wissen, was falsch läuft? Wenn ja, kann die Antwort aus dem Insidervokabular kommen? Es werden schon Fragen gestellt, doch ob sie wirklich weiterführen, wage ich zu bezweifeln – aus der Beobachtung, so weit ich die Lage beurteilen kann, wage ich es zu bezweifeln. Es müssten Zeitfragen so gestellt werden, dass die Zeichen der Zeit erkannt werden. Die Perspektive, aus der Zeitfragen gestellt werden, könnte sich erweitern. Es gilt, einen Bannkreis zu durchbrechen. So beginne ich, Dr. Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie zu zitieren – und das liegt in der Natur der Sache, wenn ich die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit der Anthroposophie suche: „Es ist nicht die Schuld der Tatsachen, dass Fragen unbeantwortet bleiben. Die Fragen sind falsch gestellt, aber wir werden den Maßstab der Fragestellung mit der Zeit finden.“ (GA 110 – Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt, S. 44)
In welchen Zeiträumen da zu denken sein wird, muss offen bleiben. – Die Not der Stunde ist vielfältig. Es ist jedenfalls zunächst sinnvoll, einmal über den Tellerrand zu schauen, über die Welt der Katholizität hinaus, eine Anschauung der Welt außerhalb gewohnter Vorstellungen und Denkweisen zu wagen, z. B. eine Weltbetrachtung aus anthroposophischer Sicht. Es ist u. U. hilfreich, von außen zu schauen. Ist es nicht so, dass sich auf diese Weise unerwartete Möglichkeiten ergeben können? Albert Einstein sagte ja schon, dass Probleme sich nicht mit derselben Denkweise lösen lassen, mit der sie entstanden sind. Dieser Einwand will deutlich machen, dass Probleme und Sorgen innerhalb der katholischen Kirche nicht mit den gewohnten, rein innerkirchlichen Anschauungen lösbar sind. Die Krise innerhalb der katholischen Kirche wirft viele Fragen auf. Eines scheint mir allerdings klar: Es ist schon längst keine Frage der Methode mehr, wenn etwas seinen unguten Gang nimmt, sondern eine Frage der Inhalte … Das wage ich zu behaupten. Dies wird vermutlich nicht so gesehen von den betroffenen Verantwortlichen innerhalb der Institution. Man gibt strukturelle Antworten, entwickelt Konzepte usw. – die katholische Kirche ist zur Planwirtschaft geworden, um die Krise in den Griff zu bekommen. Dass dies nur umso mehr Kräfte bindet und vom Eigentlichen ablenkt, wird nicht gesehen; alle Angestellten haben den Plänen nachzukommen, müssen sie umsetzen. Stelle man sich einmal vor, Jesus käme da vorbei und beobachtete die Szene, wie die Jünger von heute Pläne, Konzepte umsetzen müssen, um die Krise des religiösen Verlustes mit Strukturmodellen zu lösen. Oder man stelle sich vor, wie er zusehen muss, dass „Abenteuerkirchen“ eingerichtet werden, um eine gewisse Faszination bei den Kindern und Jugendlichen auszulösen … So behaupte ich, es ist eine Frage der Inhalte – jedoch absolut nicht auf der rein intellektuellen Ebene – sondern im umfassenden Sinn, und dies geht bis in die Erfahrungsebene hinein. Ja, die substanzielle Frage lautet: Wie kommt man wieder in Berührung mit der göttlichen Sphäre und Welt? Wie ist es möglich, in unserer Zeit Christus zu erkennen? Die Erfahrungsebene muss dann auch die Erkenntnis beinhalten, sonst bleibt man blind mit seinen Erfahrungen und tastet sich irgendwo herum. Wenn wir also wirklich um Erkenntnis ringen, dann bekommt die Christuserfahrung von heute einen weiteren Horizont. Die Grenzen abzustecken und beim Alten stehen zu bleiben, verhindert inneres Wachstum und weitere Entwicklung. Es darf nicht mehr bei leeren, erfahrungsentleerten Worthülsen bleiben. Vielleicht braucht man sogar mehr Mut zum Schweigen; Mut, den Gottesbegriff stark zu reduzieren. Mut, sich zu besinnen auf das eigene, wahrhaftige Erlebnis und nicht darüber hinaus etwas zu zerreden. Weiter wage ich zu behaupten: Die Theologie bis dato reicht nicht mehr aus. Die Frage nach der Erkenntnis muss tiefgründiger gestellt werden. Wer von den heute Verantwortlichen kann sprechen aus der Sphäre der Christuserkenntnis und ‑begegnung, wie Paulus sie in Damaskus hatte? Wer in der Verkündigung „arbeitet“, sollte nicht dahinter zurückbleiben und dennoch „reden“. Natürlich darf ich nicht urteilen über die innere Glaubenserfahrung anderer. Dennoch behaupte ich, die Erkenntnisfrage wird nicht wirklich gestellt – jedenfalls nicht offen. Doch darf ich überhaupt, wenn ich diesen „Brotkorb“ gewählt habe, Christus so erkennen, wie er sich zu erkennen geben will? Einige wohl schon, das muss fairerweise gesagt sein. Wes das Herz voll ist, geht der Mund über … Es geht dabei jedoch nicht um „Schwärmen“. Was Paulus erlebte, konnte er nicht verschweigen. Das Durchdrungensein von der Christuserkenntnis und seinem tiefsten Geheimnis ist es, das zur Verkündigung drängt – und nichts anderes darf es sein. Doch ich komme nicht von der Besorgnis weg, dass viele sich mit Worten abgeben, die leer geworden sind, nicht weil sie leer wären, sondern weil sie für viele keinen tiefen Erfahrungswert mehr beinhalten. Darum gilt es, sich zunächst einzugestehen, dass Methodenwechsel nicht die Lösung bringt.
Es handelt sich – das ist, worauf ich hinauswill – um die Dekadenz im Umgang mit dem Wort, die logische Konsequenz von alledem, und dies ist sehr tragisch, gerade in der Verkündigung. – Sind wir da angekommen, ohne es zu merken? Meine Devise wäre: nicht noch mehr Aktionen, noch mehr Methodenwechsel – nicht noch länger Krieg: „Wie kriegen wir die Leute wieder in die Kirche?“ – und darum auch nicht noch mehr Theater und Manöver, um die Leute irgendwie anzuziehen … Das alles entlarvt sich als Ablenkungsmanöver, meine ich, damit die wirklichen Ursachen nicht angeschaut werden müssen und man an der bequemen Peripherie bleiben und weitermachen darf – zu Tode erschöpft … ausgepowert, ausgebrannt, außer Atem wie der Hamster im Rad … Wenn die Erkenntnisfrage im anthroposophischen Sinn gestellt wird, hat dies natürlich ziemlich radikale, an die Wurzel gehende Konsequenzen; und mir ist klar, dass sich das eigentlich niemand leisten darf, der innerhalb der Institution arbeitet: denn – „wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ – es darf sich eigentlich diese Berufsgruppe nicht mit anderen Erkenntnisquellen, außer den katholischen, ernsthaft auseinandersetzen, da sie sonst ihren Brotkorb verliert … Obwohl es dringend nötig wäre! Zur Beruhigung im Ganzen muss gesagt sein, und dies ist eindeutig klar: Es handelt sich um Christuserkenntnis, nicht um etwas Neues, Sektenhaftes – doch diese Erkenntnistiefe – treffender gesagt: die Weite der Erkenntnis – kann innerhalb der Institution nicht gefunden werden; das ist die Krux dabei … Es handelt sich um eine essenzielle Erweiterung der Erkenntnisdimension in Sphären hinein, in die Unendlichkeit der göttlichen Sphäre hinein, die bisher nicht gewagt wurde, nicht erlaubt wurde? Vorenthalten wurde? – Es geht nicht darum, etwas schlechtreden zu wollen, ganz im Gegenteil; ich verteidige die katholische Kirche – zwar nicht in allen ihren Verhaltensweisen, sondern der noch verbliebenen Substanz wegen, insofern die Christusgegenwart durch noch so viel Murks, der geschieht, nicht „vernichtbar“ ist … und ich bin – wie ich meine – hoffentlich nicht die einzige, doch eine von manchen Ausnahmen: eben keine traumatisierte Katholikin, sondern eine, die aus den Quellen tief schöpfen konnte und mit dem mystischen Leib des Christus tief verbunden ist. Darum handelt dieses ganze Buch, aber eben mit der Auflage, nicht dabei stehen bleiben zu können, weil unsere Zeit etwas anderes, ja mehr, erfordert. Unsere Zeit ist Gottes Zeit, unsere Welt ist Gottes Welt, unsere Not ist Gottes Not – doch mit der Chiffre „Gott“ dürfen die Antworten, die gefunden werden wollen, nicht ersetzt werden. Allerdings: ich will unbedingt alle wertschätzen, die das Folgende aufbringen: Menschlichkeit. Alles, was an Menschlichkeit geschieht, macht Sinn. Alle ehrlichen Bemühungen verdienen Respekt; aller gelebte Respekt behält seine Wirkung im guten Sinn. Alle Liebe, die gelebt wird, darf nie in Abrede gestellt werden. Das letzte Fünkchen Frömmigkeit – echte, nicht Frömmelei – möge erhalten bleiben und um Himmels willen nicht erlöschen! „Der Christ von Morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.“ Diese Worte des Theologen Karl Rahner sind existenziell – ich frage Verantwortliche der Kirche: Hat man sie wirklich ernst genommen? – Ich habe ihn noch in den 80er‑Jahren erlebt; das ist ja auch schon über dreißig Jahre her … Ja, der mystische Seelenstrom, falls noch etwas davon übrig ist, wovon ich nicht wirklich überzeugt bin – außer bei Einzelnen vielleicht – (ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen, wenn dem so wäre – es würde mich freuen!) – dieser mystische Strom ist unendlich kostbar. Er möge nicht versiegen; er wäre sehr bedeutsam; darin stimme ich mit Karl Rahner überein. Jedoch – und das ist der Kern dieser Arbeit, es braucht noch mehr, der mystische Seelenstrom muss erweitert werden: Er muss auf die Erkenntnisebene erweitert werden. Es braucht allerdings Mut und eine starke Intuition für „das Gute“ – im Sinne des Pauluswortes: „Prüft alles, das Gute behaltet.“ (Brief an die Kolosser 5,21) Nun ist meine Konklusion: Die Öffnung in die Anthroposophie hinein würde helfen zu neuen Perspektiven, das ist meine Erfahrung – und Perspektivenwechsel ist angesagt. Aus dem Seelenraum gilt es, sich in eine andere Dimension hineinzuweiten. Nicht aus dem Seelenraum heraus – dieser muss erhalten bleiben, doch in die Geistsphäre hinein – und da ist eine Art Aufwachen gefragt. Es gilt, einen Durchbruch zu wagen, Entgrenzung zu suchen, auf viel umfassendere Weise „im Geheimnis daheim zu sein …“ – Das Geheimnis ist und war in der katholischen Kirche anwesend; das ist eigentlich nicht das Problem, nur dass es niemanden mehr interessiert. Irgendwie ist die Spannung weg. Die Ansprüche sind berechtigterweise gewachsen bei den Menschen von heute. Die alten Kamellen genügen nicht mehr. Eigentlich will der moderne Mensch doch mehr wissen. – Nun denn, in der Anthroposophie findet er eine Quelle, die auszuschöpfen ein Leben gar nicht ausreicht. Dabei kann verhindert werden, schwärmerisch abzuheben in alle möglichen Gurusphären. Das Großartigste dabei, sodass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, die geistigen Welten wollen sich offenbaren – der Himmel neigt sich uns entgegen, um es einmal so zu sagen, doch die katholische Welt verschläft buchstäblich dieses großartige Ereignis; ja – und darauf komme ich noch: Sie verschläft oder verpasst die Wiederkunft Christi, der in seiner Auferstehungskraft anwesend blieb die ganzen zweitausend Jahre hindurch – und uns niemals verlassen hat. Der Menschensohn, der Christus – als Gottessohn – nahm den Menschen, der noch nicht vollendet ist, an der Hand, sodass er mit ihm wachsen konnte – und durch Äonen hindurch geschieht das weiterhin – und dies darf jetzt endlich „eingesehen“ werden. Weisheit und Einsicht, diese göttlichen „Geistesgaben“, sind dazu nötig! Es handelt sich – wie gesagt, aus eigener Erfahrung – bei der Anthroposophie nicht um eine einseitige Ideologie oder gar um eine Sekte! Es handelt sich um den Menschen selbst in seiner ganzen Gestalt, in seinem ganzen Wesen, also auch in seiner Bezogenheit zur geistigen Welt. Es handelt sich darum, das Irdische mit dem Himmlischen, dem Geistigen in Verbindung zu sehen, zu erleben – und vor allem auch zu verstehen! Dafür ist es jetzt Zeit:
„Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird.“(Johannesevangelium, 16,12)
Ja, ich bin der Auffassung, dass die Offenheit in der katholischen Kirche nicht da ist, nach 2000 Jahren immer noch nicht, dieser Verheißung des Johannesevangeliums wirklich Raum zu geben. Was vor 2000 Jahren noch nicht „erträglich“ war, ist heute aus der Not unserer Zeit heraus aufs Dringlichste geboten. Das wird noch aufgezeigt werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, alles dem Zufall zu überlassen oder von Gnade und Vertrauen zu sprechen, ohne Verantwortung zu übernehmen. Es gibt auch Verantwortung im Bereich des Geistigen. Und da genügt es nicht mehr, das – was ich nicht erklären kann oder will – mit (Gut-)Gläubigkeit zu ersetzen, da es immer schon so funktioniert hat … – hat es das? Es ist sogar so, dass mithilfe der Anthroposophie destruktiv Systemhaftes durchschaut werden kann, überall wirksam in der Welt – unabhängig von der Institution Kirche, aber ehrlicherweise dort auch – ja, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt, dass erkennbar wird, was hinter dem Geschehen in der Welt steht und welche Kräfte am Werk sind. Wenn es nicht möglich ist, in Geistesfreiheit den Zugang zu finden zu einer weisheitsvollen, menschlichen – und in diesem Sinne von der Wortbedeutung her „anthroposophischen“ – Weltsicht, werden Systeme sich mit immer neuen Gesichtern als Systeme wiederholen, ohne dass der Mensch zu sich und seiner eigentlichen Bestimmung findet. Systeme, die hinterfragt werden müssen zu verschiedenen Zeiten: Monarchie im missbrauchten Sinn, Anarchie, Nationalsozialismus, Rechts- oder Linksradikalismus, Kommunismus, Globalismus, Diktatur, „Bürokratur“ … Digitalismus, Transhumanismus … Das sind natürlich keine religiösen oder kirchlichen Phänomene, doch Systematisierung ist auch innerhalb der Kirche wahrnehmbar, und darum gilt es, das Phänomen zu beobachten, da sonst die Lebendigkeit noch restlos verloren geht. Wirkliche Wandlung – ein Thema eben nicht nur in der katholischen Kirche, aber ebenfalls auch in ihr – und wie ernst. Es ist kein Witz mehr, die so bekannte Geschichte: „Frag 100 Katholiken, was das Wichtigste sei in der katholischen Kirche. Sagen sie, die heilige Messe. Frag 100 Katholiken, was das Wichtigste sei in der heiligen Messe, sagen sie: die Wandlung. Sag 100 Katholiken, das Wichtigste in der katholischen Kirche sei die Wandlung. Sagen sie: Nein, es soll alles so bleiben, wie es ist!“ Es ist somit eine Frage der Horizonterweiterung, der Entgrenzung. Heinrich Spaemann, ein sehr frei denkender Priester und Autor (Ende der 1990er-Jahre verstorben) – ein zutiefst religiöser durchgeistigter Mensch, wie ich ihn erlebt habe, sprach mir immer wieder von „Entgrenzung“. „Die Geborgenheit des Adlers liegt in der Freiheit seiner Schwingen“ (persönlich gegebenes Zitat), das war Heinrich Spaemann … Entgrenzung ist eine Devise, die unter keinen Umständen gemütliches Stehenbleiben erlaubt; es gilt, immer neue Ufer zu suchen – und es gibt deren viele; sie ragen in den Kosmos hinein.
Wir können uns nicht mehr begnügen mit ausschließlich den „alten“ Inhalten, die von vielen – wie bereits gesagt – nicht mehr verstanden bzw. erfahren werden – das ist das Existenzielle daran. Mit dem Hergebrachten bzw. mit dem gewohnten Umgang höhlen unsere Worte aus. Das heißt nicht, dass daran etwas verkehrt war; es bedarf der Wertschätzung gegenüber allem gelebten Glauben der vergangenen zwei Jahrtausende; nur es reicht nun nicht mehr aus. Neue Zeiten erbringen neue Herausforderungen. Im Laufe der Säkularisierung, Intellektualisierung und Materialisierung unserer Zeit ist die „Aushöhlung“ geschehen. Das hat mit Verschiedenem zu tun, darüber noch zu sprechen sein wird. Es ist allerdings nicht so, dass es keine religiöse oder spirituelle Sehnsucht gäbe, jedoch braucht es ein Gespür dafür, was echt ist. So wie ein Kenner auf Gold beißt und es „weiß“. In dem esoterischen Bauchladen der „New Age“-Bewegung, der Neuen Zeit, die auch schon wieder Jahrzehnte alt ist …, kann man sich tummeln und begeistern lassen – und: abheben; das ist die Gefahr – und sie wird meistens nicht wirklich als solche wahrgenommen. Die spirituelle Sehnsucht lebt sich in dieser Szene stark aus. Auch die Flucht in die Drogensphäre kann hier hinterfragt werden.
Nun bin ich Katholikin und bekennende Anthroposophin. Durch die Beschäftigung mit der Anthroposophie sind die Perspektiven der Weltbetrachtung andere geworden, sowohl im Rückblick, woher wir Spezies Menschen kommen, als auch wohin es geht mit uns. Dies bekommt durch das Eintauchen in die Anthroposophie eine Weite und eine Dimension, die nicht aussichtslos ist. Doch ernst bleibt es mit der Weltgeschichte – und wird es immer mehr … Rudolf Steiner hat vor 100 Jahren in allen Lebensbereichen Impulse gesetzt, um das Leben lebendig zu halten, weil das Abgründige sich auftat; und nun sind die Ansätze aus der Anthroposophie aktueller denn je; davon bin ich inzwischen überzeugt. Mit seinen Worten tönt das so: „Im Laufe des 20. Jahrhunderts (…) wird die Menschheit entweder am Grabe aller Zivilisation stehen oder am Anfang desjenigen Zeitalters, wo in den Seelen der Menschen, die in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität verbinden, der Michael-Kampf zugunsten des Michael-Impulses ausgefochten wird.“ (GA 240, S. 183, „Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“). Wer mit dem Erzengel Michael gemeint ist, wird noch nicht weiter nötig sein zu erörtern; doch vielleicht gehen wir in eine Zeit, da nichts mehr bekannt sein wird an religiösen Inhalten, wer weiß. – Das neutestamentliche Wort: „An den Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Matthäusevangelium 7,16) kann reflektiert werden im Zusammenhang damit, was aus den anthroposophischen Impulsen hervorgegangen ist; es sind buchstäblich „lebenserhaltende Maßnahmen“ – und sie sind überall nötig, nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, die irgendwie im Koma liegt; wer das von sich weist, frage sich, ob man sich anstatt dessen nicht in Aktionismus verliert. Überall, wo es im konkreten Leben darauf ankommt, ganz existenziell, sind dem Trend entgegengesetzte Maßnahmen nötig. In unserem 21. Jahrhundert zeigt es sich, wer es erkennen kann, wie notwendig sich die Erhaltung des Lebendigen erweist. Die Impulse, die aus der Anthroposophie hervorgegangen sind, betreffen ziemlich alle Lebensbereiche und damit die Weiterentwicklung oder gar die Erhaltung der Menschheit überhaupt. Welche Bereiche dies sind, ist ja weitläufig bekannt: Landwirtschaft, Pädagogik, Medizin, Ökonomie, Bildung im erweiterten Sinn und Kunst, um die wichtigsten der praktisch umgesetzten Bereiche zu nennen. Diese Lebensbereiche sind in sich bedroht – dies war für Rudolf Steiner voraussehbar, und nun ist das inzwischen fast jedem klar. – All das sind natürlich ganze Welten für sich, mit denen man sich beschäftigen kann – es würde zu weit führen, im Einzelnen darauf einzugehen. Es sei mir hier in diesem Zusammenhang eine Bemerkung und ein Beispiel erlaubt, um zu verdeutlichen – wie bedroht unsere Welt geworden ist – dieses Beispiel ragt in den politischen Bereich hinein. In der Politik werden ja maßgebende Dinge bestimmt, die das Allgemeinwohl und die Zukunft der Gesellschaft und damit der Menschheit betreffen; es ist heutzutage ja kein Geheimnis mehr, dass die politische Wirksamkeit unterwandert wird und damit die Demokratie bedroht ist.
Das Bewusstsein, die Wachheit der Menschen, ist jedoch deutlich am Wachsen. Die Finanzkrise seit 2008, die ja bei weitem nicht überstanden ist, hat geholfen zu durchschauen, mit welchen Abgründen wir es zu tun haben. Dennoch geht es lautlos weiter. Es ist ja schon lange klar, dass (neben den Kriegen in verschiedenen Ländern) Korruption (welche die verbrecherischen Strukturen zur Folge hat mit ihrer himmelschreienden Ungerechtigkeit) die eigentliche Fluchtursache jedenfalls vieler afrikanischer Flüchtlinge ist und darum die Ursache der Armut nicht nur auf diesem, aber vor allem diesem Kontinent nicht mehr geleugnet werden kann. Dieses Thema kulminiert – und dies war vorauszusehen. Überall Baustellen, keine kleinen.
Und nun noch die Coronakrise auf dem ganzen Planeten; das ist so unglaublich einschneidend auf allen Ebenen und noch nicht absehbar, welche Konsequenzen dies haben wird (April 2020).
Mein Interesse an der Welt bringt mich dahin, das Leben in seinem Umfeld anzuschauen. Wir sind ja inzwischen alle mehr oder weniger Weltbürger geworden. Ein Christ kann nicht anders, als sich für die Welt interessieren, sonst wird er fanatisch und weltfremd und müsste darum seinen Glauben ernsthaft hinterfragen, ob er etwa nicht egoistische Motive hat, weshalb er Gott braucht.
Nun habe ich das Thema etwas breit abgesteckt, eine ausführliche Ouvertüre versucht, doch dies schien mir nötig. Als Nächstes will ich den Leser mit auf meine Reise nehmen:

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Thea Lindner

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