Mein Walk of Fame

Mein Walk of Fame

Begegnungen mit Weltstars und VIPs

Dieter Wahl


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 392
ISBN: 978-3-99107-464-9
Erscheinungsdatum: 06.05.2021

Leseprobe:

Gilbert Bécaud

faszinierte als „Monsieur 100 000 Volt“
ein Millionenpublikum und schwärmte von Nathalie

Endlich! Die Managerin von Monsieur Bécaud hat mir grünes Licht gegeben für ein TV-Interview mit dem Grandseigneur der französischen Musikszene. Was mich dabei stutzig gemacht hat, war ein Hinweis von Monique Scherrer, der sich wie eine versteckte Warnung anfühlte. Wenn es geht, meinte sie am Telefon, quälen sie ihn nicht mit seiner „Nathalie“. Ein Wink mit dem berühmten Zaunpfahl? Wie sollte ich den verstehen, wo ich doch überhaupt keinen Zaun sah? Warum sollte ich Bécaud nicht auf einen seiner allergrößten Erfolge ansprechen, der ihn neben seinem Freund Charles Aznavour zum Weltmeister des Schlager-Chansons gemacht hat?
Ich recherchierte unter Insidern, kramte in Pariser Archiven und förderte zu meiner Überraschung eine plausible Erklärung zutage. Die lehrte mich: Um Unverständliches verständlich zu machen, muss man halt manchmal auf den Urschleim zurückgehen, um nicht auf ihm auszurutschen.
Oft sind es banale Beweggründe, die geniale Erfindungen bewirken. „Nathalie“ war eine davon. Geboren wurde die später weltbekannte Fantasiefigur der besungenen schönen Moskauerin 1964, nachdem ihr geistiger Vater ein Jahr lang mit seiner ungewöhnlichen Idee schwanger gegangen war. Aber der Reihe nach.


Die Geburt einer Moskauerin in Paris

„Nathalie“ erblickte das Licht der Schlagerwelt in einer bewegten Zeit. Seit dem achtjährigen, 1954 gescheiterten Indochinakrieg Frankreichs gab es immer wieder Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion, die den Befreiungskampf der Vietnamesen gegen die Kolonialmacht unterstützt hatte. In den gehobenen Schichten des französischen Bürgertums grassierte permanent ein ausgeprägter Antisowjetismus, der 1963 wieder einmal einen Höhepunkt erreicht hatte.
In diesem Kontext kam dem songschreibenden Franzosen Pierre Delanoë eine Idee, die seinen Namen und seinen Geldbeutel vergolden sollte. Der studierte Jurist und Steuerinspektor traf nach dem Zweiten Weltkrieg den mit ersten Erfolgen gesegneten Chansonier Gilbert Bécaud und wurde sein Textdichter. Im Laufe der Zeit reizte ihn als Kontrapunkt zum langweiligen Standard-Thema der unbefleckten Liebe in einer heilen Welt ein ehrgeiziges Projekt mit Potenzial zum gesellschaftlichen Aufreger. Im Spannungsfeld zwischen einem sich andeutenden politischen Ost-West-Tauwetter und den andererseits verschärften sowjetisch-französischen Beziehungen wollte er die provokative Liebe eines Pariser Jünglings zu einer Moskauer Schönheit im Schatten russischer Despotenherrschaft beschreiben. Dabei sollten gleichzeitig der Zwiebelturm-Reiz Moskaus, die aufregende Geschichte Russlands und die Sympathie für seine einfachen Leute nicht in Abrede gestellt werden.
Als Bécaud den Entwurf des Liedtextes sah, lehnte er ihn als zu profan ab und verlangte mehr Farbe für russische Folklore und eine romantische stimmungsvolle Kulisse für die amouröse Geschichte. Er wollte sie vor den winterlichen Toren der Kremltürme spielen lassen, um sie in beeindruckender gesanglicher Tonlage erzählen zu können.
Ein Jahr lang feilte der Verseschmied an jeder Formulierung. Dann hieß die Russin nicht mehr Natascha, sondern Nathalie, der Text war als Ich-Erzählung umgeschrieben und die beiden ersten Strophen begannen mit den schlichten, aber einprägsamen Aussagen: „La place Rouge était vide, la place Rouge était blanche“ – „Der Rote Platz war leer, der Rote Platz war weiß“. Bécaud war zufrieden. Er setzte sich ans Klavier und in nur wenigen Stunden war die Musik dazu komponiert. Mit „Nathalie“ war mitten in Paris eine Moskauerin geboren, die ihren musikalischen Verehrer ein Leben lang begleiten sollte. Das schlagerhafte Chanson begann mit seinem Erscheinen im Februar 1964 einen Siegeszug um die Welt. Erzählt wird in gut vier Minuten, wie sich ein junger französischer Tourist in der pittoresken Schneelandschaft des Moskauer Stadtzentrums in seine Fremdenführerin verliebt, in ihrer Studentenbude mit anderen Kommilitonen trinkt, singt und tanzt und über seine Heimat und seine Stadt an der Seine fabuliert. Er bleibt über Nacht und träumt von Nathalies Gegenbesuch in Paris, wo er dann im Rollentausch ihr Stadtführer sein könnte.
Frankreich zögerte mit Applaus, gab sich anfangs sehr verhalten und stellte etwas verstört die Frage, wie denn in einem Liebeslied Worte wie „Oktoberrevolution“, „Roter Platz“ und „Lenin-Mausoleum“ auftauchen könnten. Das Kuriosum: Während sich die ersten Platten schwer verkauften, wurden immer mehr Mädchen auf den Namen Nathalie getauft. Ein Phänomen, das bald schon auf den Musikmarkt übergriff – und das zunächst vor allem im Ausland trotz der Beatle-Manie, die 1964 ihrem Zenit zustrebte.
In den BRD-Charts war der Song in der deutschen Übersetzung 22 Wochen präsent. In der DDR lag die „Amiga“-Platte fünf Jahre später auf dem Ladentisch. In den Folgejahren bekam das ungewöhnliche Lied, was ihm zustand: eine über Jahrzehnte andauernde generationsübergreifende Beliebtheit, die bis heute anhält – ein Riesenhit, der in fast alle Sprachen der Welt eindrang und gemeinsam mit ihrem Komponisten und Interpreten unsterblich wurde.


„Nathalie“ als Fluch und Segen

Auch das besungene Moskau konnte sich der „Nathalie“-Faszination nicht entziehen. Gut ein Jahr nach dem Start der zu Musik gewordenen Liebesgeschichte geschah das Wunder: Ende April 1965 gab Bécaud nach einer offiziellen Einladung ein umjubeltes Gastspiel im Großen Saal des Moskauer Kreml-Kongresspalastes. Möglich gemacht hatte dies eine Neuorientierung in der sowjetischen Kultur- und Außenpolitik durch den Machtwechsel von Chruschtschow zu Breschnew, der die Meinung seines Vorgängers nicht teilte, Jazz und Pop seien eine „internationale Entartung“.
Zweifelsohne war der Auslöser für die Einladung des Chansoniers aber auch die inzwischen europaweite Popularität seiner „Nathalie“. Dass er das anrührende Liebeslied bei einem Auftritt ausließ, war undenkbar, auch wenn er es schließlich bei 250 Konzerten im Jahr selbst nicht mehr hören konnte. Das Publikum forderte es – ob im Pariser „Olympia“ oder am Broadway, ob in der Musikhalle von Hamburg oder zu DDR-Zeiten im alten und neuen Friedrichstadtpalast von Berlin. Die Person von Nathalie hatte sich verselbstständigt, war aus dem Lied herausgetreten und zur ständigen Begleiterin von Bécaud geworden. Beide wurden verlangt, bis er davon matt und müde war, ein Abgleiten in Routine befürchtete und in eine Sinnkrise stolperte. „Nathalie“ als Fluch und Segen. Überliefert ist ein Gemütsausbruch aus dem Jahre 1994: „Ich habe die Nase gestrichen voll, ich kann ‚Nathalie‘ nicht mehr singen. Seit 30 Jahren jeden Abend! Ich muss sie neu erfinden, um wieder Lust darauf zu bekommen.“
Das gelang ihm 1999 im Rahmen einer anekdotenhaften Begebenheit, die mit ihrer unerwarteten Pointe erzählt werden muss. In der Romanze singt er davon, dass der junge Franzose mit seiner Begleiterin nach dem Besuch von Lenins Grab gern eine heiße russische Schokolade im Café Puschkin trinken würde. Das ist ihm zu gönnen, hat nur einen Haken: In ganz Moskau gab es zu dieser Zeit kein Café Puschkin. Das wurde 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Songs nachgeholt. Die „Nathalie“-Verehrer an den Ufern der Moskwa hatten es geschafft und dafür auch den 200. Geburtstag des russischen Nationaldichters genutzt. So wurde Alexander Puschkin geehrt – und Nathalie auch. Um ihren Triumph zur Legende zu stilisieren, wurde Gilbert Bécaud zur Eröffnung des nun zur Wirklichkeit gewordenen Cafés eingeladen. Und er kam. Und er sang. Natürlich von Nathalie. Nun konnten der Franzosen-Tourist und die verführerische Russin mit blonden Haaren im Moskauer Café Puschkin endlich ihre heiße Schokolade schlürfen.Eine Fiktion wurde Realität. Das französische Tagesblatt „L’Humanité“ nannte das Spektakel die „Wiederauferstehung Nathalies“ und fand die treffende Schlagzeile „Wenn das Volkslied eine Legende erschafft“. Es war zum Weinen schön – und viele Premierengäste taten es in Feierlaune und hemmungsloser Leidenschaft für ihre Nathalie und den angebeteten berühmten Ehrengast aus Paris, dem jede schöne Wassilissa gern Moskau und noch mehr gezeigt hätte.


„Nathalies“ unerwünschte Tochter

Offengeblieben im Kult-Chanson war lange Zeit die Frage, was in der Nacht geschah, als die Studenten spätabends Nathalies Quartier verließen, der Touristen-Franzose aber nicht. Diese Wissenslücke schlossen Texter und Komponist auf verblüffende Weise mit einem Nachfolgelied. Darin wechselt der junge Mann von der Seine Briefe mit Nathalies Kind, das 1964 – noch im Jahr der französisch-russischen Romanze – geboren wurde und in Leningrad studiert. Offensichtlich eine Konversation zwischen Vater und Tochter. Sie wäre also, als der Nachzieher 1983 herauskam, 19 Jahre gewesen – und damit tatsächlich im Studentenalter.
Ein grandioser Geniestreich, von dem nur die Schöpfer wissen, ob er ernst gemeint war oder mit augenzwinkerndem Schalk aufgetischt wurde. Der unüberhörbare Bezug zum Original geht so weit, dass auch in Teil zwei der Liebesgeschichte eine temporeiche Passage im rasanten russischen Kasatschok-Rhythmus vorkommt. Trotzdem brachte es die Songscheibe „La fille de Nathalie“ – „Die Tochter von Nathalie“ – nur auf kümmerliche Verkaufszahlen. Die Fans wollten keine Tochter und keinen Sohn und keinen Enkel von Nathalie, sondern nur sie allein als reine, makellose, anbetungswürdige Lichtgestalt, die jedermann lieben konnte.
Zugleich war damit klar, dass „Nathalie“ nicht nur die Herzen einer breiten Öffentlichkeit erobert hatte, sondern dass auch ihr musikalischer Erzeuger nicht von ihr lassen konnte. Fatal daran ist, dass Bécaud damit zu einer rituellen Allgegenwart des Liedes beitrug, die er später selbst als nervtötend und unzumutbar beklagte. Das förderte seine aufkeimende eigene Überreiztheit und beschleunigte in zunehmender Dünnhäutigkeit seine Aversion gegenüber dem längst zum Evergreen gewordenen Stück, bis er es absolut nicht mehr hören, geschweige denn singen konnte. Eine vorübergehende psychotische Störung, die der endgültigen Erkenntnis Platz machte, dass der berühmte Franzose und seine berühmte Schönheit als untrennbar angesehen wurden – egal, in welchem Konzertsaal und in welchem Land.
Mit diesem Wissen hatte ich den Hinweis von Bécauds Managerin nun voll und ganz verstanden. Es war kein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern mit dem Torpfosten. Womit ich den Passus „Nathalie“ aus meinem Fragenkatalog strich.


„Monsieur hunderttausend Volt“ elektrisiert

Ich war gespannt auf den Mann von der Seine, der so untrennbar mit dem Mädchen von der Moskwa verbandelt war. Ein Hauch von Frühling durchwehte den Märztag 1987, an dem ich mit Kameramann Eberhard Güldner erwartungsvoll über die Schwelle des Pariser Studios der Plattenfirma „Pathé-Marconi“ trat. Monique Scherrer begrüßte uns mit der Bitte um noch etwas Geduld. Der Meister sitze gerade am Piano und wolle nur noch ergründen, ob ihm die letzten Takte eines neuen Stückes gelungen seien.
Dann kommt er. Nein, er kommt nicht einfach, er wirbelt herein, stürmt auf uns zu, schüttelt uns lachend die Hand, als hätten wir uns lange nicht gesehen, und ruft mit rauchiger, kehliger Stimme in witzig-gebrochenem Deutsch: „Wie gäht’s? Was maacht Berlän, mein‘ Schtadt an die Schpree?“ Ich fühle förmlich, wie sein Temperament die Luft im Zimmer zerquirlt. Seine Arme ersetzen dabei die Flügel eines Ventilators, während seine Beine nicht eine Sekunde auf einem Fleck verweilen. Wüsste ich vom Hörensagen nicht, dass dieses Aktionsfeuer sein angeborenes Naturell ist, hätte ich ihn verdächtigt, uns aus Imagegründen das Energiebündel von der Showbühne vorzuspielen.
Ohne die Antwort auf sein „Wie gäht’s?“ abzuwarten, erledigt er tausend Dinge zugleich: Freut sich über den ihm geschenkten Hochglanz-Bildband über Berlin und blättert ihn begeistert durch, fingert die unvermeidliche Zigarette aus der Packung und bugsiert ein Feuerzeug aus der Hosentasche, entschuldigt sich dabei für seine Verspätung, denn er komme gerade aus Tokio und bereite seine nächste Tournee in New York vor. Hyperdynamik auf der Bühne und im Alltag. Bécaud ist so. Er elektrisiert sein Publikum. Das bescherte ihm den Beinamen „Monsieur hunderttausend Volt“.



Marina Vlady

verzauberte als „blonde Hexe“ der Leinwand und
litt unter einer Liebe zwischen zwei Welten

Ich mache mir Vorwürfe. Ich beschimpfe mich. Ich stelle mich an den Pranger, lege mir Daumenschrauben an, geißele mich. Und weiß doch, dass es nichts hilft, denn die Uhr am Armaturenbrett neben dem Lenkrad ist unbestechlich und weist mit unerbitterlicher Bosheit darauf hin, dass wir uns verspäten werden. Hochnotpeinlich!
Da war ich der von mir verehrten Filmdiva jahrelang auf den Fersen, habe nun endlich seit einer Woche für den 11. September 1990 die Zusage für ein Interview in der Tasche, habe diesen Tag in meinem Kalender dick angekreuzt, bin nun auf vier Rädern unterwegs zu diesem langersehnten Termin und beschneide mich selbst in der genehmigten Zeit von ohnehin nur einer Stunde. Den Zeiger des Tachos kann ich nicht höherschrauben, denn wir schaukeln über unebenes Gelände und auch die Federn einer Westkarosse haben Belastungsgrenzen. Würden sie ihre Biegsamkeit aufgeben, wäre das der Super-GAU. Dann schon lieber das kleinere Übel einer Verspätung. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit des Journalisten, die ich nun gröblichst verletze. Und das IHR gegenüber! Ein gruseliger Gedanke, eine Katastrophe!
Eigentlich sah alles unproblematisch aus. Denn Marina Vlady wohnt in Maisons-Laffitte, einer Gemeinde mit gut 22 000 Einwohnern und nur 20 Kilometer nordwestlich vor den Toren von Paris am linken Ufer der Seine. Eine exakte Angabe. Ein Ort, der nicht zu verfehlen ist. Trotzdem sei der Anmarsch zu ihr nicht unkompliziert, hatte sie mich am Telefon wissen lassen, denn das Terrain sei recht weitläufig und sei eingemeindet in ein größeres Waldgebiet, den Forêt de Saint-Germain-en-Laye. In eben diesem scheinen wir herumzuirren, obwohl sie ihren Hinweis noch mit einer deutlichen Warnung versehen hatte: „Mein Anwesen ist etwas schwer zu finden. Seien Sie bitte pünktlich, denn mein Zeitkontingent ist knapp, weil ich zu Dreharbeiten nach Malta muss und wir deshalb nur eine Stunde haben.“ Diesen Hinweis begriff ich als freundschaftlichen Rat, rechtzeitig loszufahren. Das hatten wir auch getan – und nun holpern wir über unwegsame Pisten, gesäumt von Nadel- und Laubbäumen und die Uhr tickt unaufhaltsam dem Termin entgegen. Zuvor schon waren wir eine gute halbe Stunde in einem Labyrinth dörflicher Wald- und Wiesenwege herumgekurvt. Eine im wahrsten Sinne des Wortes verfahrene Kiste.
Ein Königreich für ein Navigerät! Aber damals, 1990, war die PKW-Satellitennavigation erst im Kommen, sodass Kameramann Horst Rudolph als Beifahrer verzweifelt versuchen musste, unsere Position auf der Karte zu orten und den Weg zum Ziel zu finden. Für die Romantik einer mit Sonnengelb dekorierten Natur fehlte momentan der dazu passende Nerv.
Es war mittlerweile 15 Uhr – und damit bereits die vereinbarte Stunde, zu der wir hätten ankommen sollen. Nun ergebe ich mich dieser misslichen Laune des Schicksals und verwerfe alle schon durchdeklinierten Ausreden, denn es gibt keine einzige einigermaßen plausible und glaubhafte. Stattdessen lege ich mir die Worte für eine ehrliche demütige Entschuldigung zurecht. Ich hasse Unpünktlichkeit, bin bislang nie zu einer Pressekonferenz oder irgendeinem Termin zu spät gekommen. Und ausgerechnet mit IHR passiert mir das! Aber schneller fahren geht auch nicht, denn den glatten Asphalt des Ring-Boulevards um Paris, den Périphérique, haben wir längst verlassen und zuckeln nun im erzwungenen Schneckentempo über eine ländliche Holperpiste, die ungeduldige Autopiloten mit verführerischer Hinterhältigkeit zu einem Achsbruch einlädt. Während ich kraterhaften Bodenwellen ausweiche, malträtiere ich mein Gewissen weiter mit Vorwürfen: Warum bin ich nicht noch eher losgefahren? Ich hatte ja schließlich auf der Karte gesehen, dass sie nicht im Ortskern, sondern weitab davon und möglicherweise in ländlicher Abgeschiedenheit zu Hause ist. Eine einsame grüne Idylle als Lebensraum hatte sie ja auch in ihrem berühmten „Hexen“-Film bevorzugt. Meine Schwärmerei für die aparte Hauptdarstellerin hatte ich mir erhalten.


Die schönste Filmhexe der Welt

Damals, in meinen beginnenden Teenagerjahren, war sie für mich von einer Leinwand-Ikone zu einer angebeteten Realfigur geworden. Da lief 1957 im Mansfelder „Capitol“ das französisch-schwedische Gemeinschaftsdrama mit dem geheimnisvollen Titel „Die blonde Hexe“ und dem verlockenden Zusatz „Das Mädchen aus dem Wald“. Schon auf dem Plakat der Schaukästen bezauberte mich das Mandelaugengesicht der Französin, ihr jungfraureiner Unschuldsblick, umrahmt von hüftlang wallendem Blondhaar.
Angekündigt war der Anderthalbstunden-Film für die Abendvorstellung, wozu nur Erwachsene ab 14 Jahren Zutritt hatten. Ich war erst 12 und die Sitten waren streng. Ganz Mansfeld stand Schlange und meine Mutter gehörte dazu. Ich hatte so lange steinerweichend gebettelt, bis sie mich auf älter frisierte und auch meine Garderobe auf Jugendweihe trimmte. Da sie als Verkäuferin im Mansfelder Stoffkonsum auch die Dame an der Kinokasse zu ihren Kunden zählte, glaubte selbige der Altersbürgschaft von Mutter Maria für ihren Sohn, verzichtete auf das Vorzeigen eines Personalausweises, den ich nicht hatte, reichte zwei Tickets durchs Schalterfenster und ließ uns passieren.
Es wurde für mich als zwölfjährigen Erwachsenen ein faszinierendes Erlebnis. Die spannende Handlung der romantischen Filmnovelle fesselte mich ebenso wie das lebensechte Spiel der schönen Blondine in der Titelrolle. Welch eine ans Herz gehende Romanze zwischen dem scheuen, geheimnisvollen Waldmädchen Ina in einer einsamen Schweden-Wildnis und dem sympathischen französischen Bauingenieur Laurent Brulard, der sie als Stadtmensch in die Zivilisation einführen will und am brutalen Aberglauben unwissender primitiver Fanatiker scheitert.
Inas einziger Glaube ist eine von Liebe diktierte Gutgläubigkeit, die ihr zum Verhängnis wird. Die Frauen des Dorfes wollen die naive, unbedarfte Schöne lynchen, weil sie den Ingenieur angeblich verhext hat. Den Gemeinschaftsmord kann ihr Geliebter noch verhindern, nicht aber einen einzelnen, heimtückisch geworfenen Stein, der sie tödlich verletzt. Erschüttert und fassungslos stellt sich der junge Mann die beklemmende Frage, warum eine solch barbarische Tat in der modernen Welt des 20. Jahrhunderts noch möglich ist.
Ähnliches fragte ich mich noch im Jahre 1990, als eine landesweite Umfrage in Frankreich ergab: 37 Prozent der Befragten glauben an den Teufel – also mehr als ein Drittel. Bei den praktizierenden Katholiken waren es mit 66 Prozent sogar weit mehr als die Hälfte, die sich vor Satan fürchtete.
Die schönste Filmhexe der Welt wurde zum Idol einer ganzen Generation junger Mädchen. Sie prägte ähnlich wie Brigitte Bardot ein Schönheitsideal, eine Frisur, eine Mode. Auch mich als Jungen hatte sie im Mansfelder Kino verzaubert. Da habe ich mich nicht über ein paar heimliche Tränen der Rührung und des Mitleids für die Totgesteinigte geschämt. Zugleich war ich ein wenig verwirrt, denn ich spürte als Zwölfjähriger ein ähnlich starkes Gefühl für die junge Frau auf der Leinwand wie für meine fast gleichaltrige Kinderfreundin Edith. Da ich meine Empfindungen für sie für Liebe hielt, muss ich dann wohl auch das Kino-Mädchen geliebt haben. Mit dem kleinen Unterschied, dass die eine in der Hettstedter Straße nebenan nur zwei Häuser weiter wohnte und die andere im fernen Paris, von dem mich Welten und gleich mehrere Westgrenzen trennten. So war mein Fremdgehen mit Marina also rein platonischer Natur, das ich Edith nicht unbedingt beichten musste. Oh naive, reinherzige, harmlose Seligkeit eines romantisch veranlagten Kindergemütes!
Nun, 33 Jahre später, darf ich meinen Kinderschwarm aus der Welt des Zelluloids persönlich kennenlernen und verwünsche den Umstand, dass er ähnlich wie in der Bildergeschichte abseits der großen Straßen und modernen Infrastrukturen im Naturgrün einer schlichten Einsiedelei lebt. Diese Einfachheit wiederum kann ich mir schwerlich vorstellen eingedenk ihrer mondänen Erscheinung als verwöhnte Primadonna.
Ich habe ihre Karriere verfolgt, die mit extremen Amplituden zurechtkommen musste und wie das Fieberthermometer eines Börsenkurses steil nach oben kletterte und ebenso rapide wieder absackte. Ein Leben zwischen Erfolgen und Abstürzen. Als wir Marina Vlady damals suchten und schließlich fanden, war sie 52 Jahre und wieder ganz oben. Gerade erst gab es eine viel beachtete Premiere. Ein Fernsehfilm über die Französische Revolution mit dem Titel „Condorcet“, benannt nach einem Philosophen und Wortführer der Jakobiner. Sie spielt die Pensionsbesitzerin Vernet, die den gesuchten Marquis versteckt, doch er will sie nicht gefährden, weil ihr dann die Guillotine sicher wäre. Sie lässt den Freund widerstrebend ziehen und erfährt kurz darauf erschüttert von seinem Tod. Ihre Landsleute haben dem Drama und seiner Aktrice applaudiert.
Zuvor hatte sie an der Seite von Marcello Mastroianni in „Splendor“ brilliert, einem Meisterwerk des italienischen Starregisseurs Ettore Scola, der mit diesem Streifen über den Existenzkampf eines Provinzkinos dem Filmtheater auf tragisch-komische Weise ein Denkmal gesetzt hat.


Ein kühler Empfang

Die Quälerei der zerrigen, umständliche Anfahrt scheint beendet. Ich atme auf. Wir haben auf dem Gebiet von Maisons-Laffitte endlich die peripher gelegene bescheidene Dorfstraße erwischt, die den hochtrabenden Namen „Avenue“ trägt. So diktiert es uns das Schild an einer Wand aus Feldsteinen: „Avenue Marivaux“. Wenig später halten wir an der Hausnummer 3. Ein größeres Anwesen im rustikalen Stil eines Gutshofes in einem noch hochsommerlich wirkenden blattgrünen Versteck, ringsum eingezäunt von einem massiven Steinwall.
Das überrascht mich. Was ich erwartet hatte, war ein pompöser Bau in einem abgeschiedenen Luxus-Resort. Denn Maisons-Laffitte ist einer der nobelsten und teuersten Pariser Vororte, der bekannt ist für seine promibesuchte Pferderennbahn, seine großzügig angelegten prächtigen Alleen und seine komfortablen Glamour-Villen auf sorgsam gepflegten parkähnlichen Grundstücken. Ein Ort der Reichen und Schönen. Was ich nun aber sehe, ist statt eines opulenten Prunkpalastes auf gestyltem Wimbledon-Rasen eine mit Straßenstaub überzogene Mauer. Dahinter ein Gehöft mit dem Patina-Charme eines altehrwürdigen Landsitzes, der schon die Ritterzeit erlebt haben könnte.
Um sich dieses einer historischen Filmkulisse ähnliche Bild mit Wonne ins Gedächtnis zu tackern, bleibt keine Zeit. Die bedrohliche Stellung der Uhrzeiger zwingt zur Eile. Horst Rudolph holt mit geübtem Griff die Filmtechnik aus dem Kofferraum, reicht mir Tongerät und Mikrofon, schultert die Kamera und drückt sofort den Auslöser. Auch ich will den Ton von Anfang an mitlaufen lassen, um nichts zu verpassen. Das ist nicht ganz fair, weil es ein überfallartiger Drehbeginn ist, aber ich entschuldige es mit unserer Zeitknappheit. Denn ich stehe mit nunmehr zehnminütiger Verspätung und einem schlechten Gewissen vor der eisenbeschlagenen Pforte des altertümlichen Gemäuers und bediene die Strippe einer halbverrosteten antiken Zugglocke ähnlich der einer Bimmelbahn. Nichts. Kein Geräusch außer dem knisternden Zellophan um den imposanten Rosenstrauß in meinem Arm. Von dem riesigen Bouquet erhoffe ich mir Absolution für den Eklat unserer Verspätung.
Ich möchte die Blumen gern abliefern, aber die Schotten bleiben dicht. Also noch mal die Glocke. Es ist mehr ein Scheppern als ein Schellen. Dann Schritte. Torknarren. Zuerst erscheint ein Dackel, gefolgt von weiteren Vierbeinern, die an meinen Schuhen vorbei nach draußen laufen. Dann steht vor mir die Frau, für deren Film ich damals in Mansfeld mehr Reklame gemacht habe als alle Kinoplakate zusammen. Das muss sie nie erfahren haben, denn sie sagt in unwilligem Ton: „Beeilen Sie sich! In einer dreiviertel Stunde muss ich weg.“ Genauso barsch ruft sie ihre fünf Hunde in den Hof zurück.
Ein wenig Charme hatte ich – ehrlich gesagt – schon erwartet. Aber natürlich verstehe ich ihre Verstimmung, zumal wir eigenmächtig ohne Vorwarnung gleich drauflos gefilmt haben. Aber jede Bild- und Tonminute ist jetzt wertvoll. Nun kann ich endlich meine Entschuldigung samt Blumenstrauß loswerden.
Dann ein schneller Rundblick: heller „Mercedes“, efeuberanktes Landhaus, Blumenbeete an den Rändern eines kurzgeschorenen Rasenteppichs, Vögel, Katzen, Hühner, zwei Hundehütten mit Spitzdächern zu beiden Seiten eines Glastüreneingangs, weiße Kunststofftische mit Gartenstühlen. An einem bittet sie Platz zu nehmen, während sie ins Haus geht und kurz darauf auf einem ovalen Tablett mit farbigen russischen Ornamenten drei Tassen sowie Kaffee, Zucker, Milch und Kekse bringt. Dann entschwindet sie ein weiteres Mal durch die Glastür, um sich für das Interview noch etwas aufzuhübschen. Das sagt sie in ungeschminkter Direktheit, um sich wenig später dezent geschminkt der Kamera zu präsentieren.

Gilbert Bécaud

faszinierte als „Monsieur 100 000 Volt“
ein Millionenpublikum und schwärmte von Nathalie

Endlich! Die Managerin von Monsieur Bécaud hat mir grünes Licht gegeben für ein TV-Interview mit dem Grandseigneur der französischen Musikszene. Was mich dabei stutzig gemacht hat, war ein Hinweis von Monique Scherrer, der sich wie eine versteckte Warnung anfühlte. Wenn es geht, meinte sie am Telefon, quälen sie ihn nicht mit seiner „Nathalie“. Ein Wink mit dem berühmten Zaunpfahl? Wie sollte ich den verstehen, wo ich doch überhaupt keinen Zaun sah? Warum sollte ich Bécaud nicht auf einen seiner allergrößten Erfolge ansprechen, der ihn neben seinem Freund Charles Aznavour zum Weltmeister des Schlager-Chansons gemacht hat?
Ich recherchierte unter Insidern, kramte in Pariser Archiven und förderte zu meiner Überraschung eine plausible Erklärung zutage. Die lehrte mich: Um Unverständliches verständlich zu machen, muss man halt manchmal auf den Urschleim zurückgehen, um nicht auf ihm auszurutschen.
Oft sind es banale Beweggründe, die geniale Erfindungen bewirken. „Nathalie“ war eine davon. Geboren wurde die später weltbekannte Fantasiefigur der besungenen schönen Moskauerin 1964, nachdem ihr geistiger Vater ein Jahr lang mit seiner ungewöhnlichen Idee schwanger gegangen war. Aber der Reihe nach.


Die Geburt einer Moskauerin in Paris

„Nathalie“ erblickte das Licht der Schlagerwelt in einer bewegten Zeit. Seit dem achtjährigen, 1954 gescheiterten Indochinakrieg Frankreichs gab es immer wieder Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion, die den Befreiungskampf der Vietnamesen gegen die Kolonialmacht unterstützt hatte. In den gehobenen Schichten des französischen Bürgertums grassierte permanent ein ausgeprägter Antisowjetismus, der 1963 wieder einmal einen Höhepunkt erreicht hatte.
In diesem Kontext kam dem songschreibenden Franzosen Pierre Delanoë eine Idee, die seinen Namen und seinen Geldbeutel vergolden sollte. Der studierte Jurist und Steuerinspektor traf nach dem Zweiten Weltkrieg den mit ersten Erfolgen gesegneten Chansonier Gilbert Bécaud und wurde sein Textdichter. Im Laufe der Zeit reizte ihn als Kontrapunkt zum langweiligen Standard-Thema der unbefleckten Liebe in einer heilen Welt ein ehrgeiziges Projekt mit Potenzial zum gesellschaftlichen Aufreger. Im Spannungsfeld zwischen einem sich andeutenden politischen Ost-West-Tauwetter und den andererseits verschärften sowjetisch-französischen Beziehungen wollte er die provokative Liebe eines Pariser Jünglings zu einer Moskauer Schönheit im Schatten russischer Despotenherrschaft beschreiben. Dabei sollten gleichzeitig der Zwiebelturm-Reiz Moskaus, die aufregende Geschichte Russlands und die Sympathie für seine einfachen Leute nicht in Abrede gestellt werden.
Als Bécaud den Entwurf des Liedtextes sah, lehnte er ihn als zu profan ab und verlangte mehr Farbe für russische Folklore und eine romantische stimmungsvolle Kulisse für die amouröse Geschichte. Er wollte sie vor den winterlichen Toren der Kremltürme spielen lassen, um sie in beeindruckender gesanglicher Tonlage erzählen zu können.
Ein Jahr lang feilte der Verseschmied an jeder Formulierung. Dann hieß die Russin nicht mehr Natascha, sondern Nathalie, der Text war als Ich-Erzählung umgeschrieben und die beiden ersten Strophen begannen mit den schlichten, aber einprägsamen Aussagen: „La place Rouge était vide, la place Rouge était blanche“ – „Der Rote Platz war leer, der Rote Platz war weiß“. Bécaud war zufrieden. Er setzte sich ans Klavier und in nur wenigen Stunden war die Musik dazu komponiert. Mit „Nathalie“ war mitten in Paris eine Moskauerin geboren, die ihren musikalischen Verehrer ein Leben lang begleiten sollte. Das schlagerhafte Chanson begann mit seinem Erscheinen im Februar 1964 einen Siegeszug um die Welt. Erzählt wird in gut vier Minuten, wie sich ein junger französischer Tourist in der pittoresken Schneelandschaft des Moskauer Stadtzentrums in seine Fremdenführerin verliebt, in ihrer Studentenbude mit anderen Kommilitonen trinkt, singt und tanzt und über seine Heimat und seine Stadt an der Seine fabuliert. Er bleibt über Nacht und träumt von Nathalies Gegenbesuch in Paris, wo er dann im Rollentausch ihr Stadtführer sein könnte.
Frankreich zögerte mit Applaus, gab sich anfangs sehr verhalten und stellte etwas verstört die Frage, wie denn in einem Liebeslied Worte wie „Oktoberrevolution“, „Roter Platz“ und „Lenin-Mausoleum“ auftauchen könnten. Das Kuriosum: Während sich die ersten Platten schwer verkauften, wurden immer mehr Mädchen auf den Namen Nathalie getauft. Ein Phänomen, das bald schon auf den Musikmarkt übergriff – und das zunächst vor allem im Ausland trotz der Beatle-Manie, die 1964 ihrem Zenit zustrebte.
In den BRD-Charts war der Song in der deutschen Übersetzung 22 Wochen präsent. In der DDR lag die „Amiga“-Platte fünf Jahre später auf dem Ladentisch. In den Folgejahren bekam das ungewöhnliche Lied, was ihm zustand: eine über Jahrzehnte andauernde generationsübergreifende Beliebtheit, die bis heute anhält – ein Riesenhit, der in fast alle Sprachen der Welt eindrang und gemeinsam mit ihrem Komponisten und Interpreten unsterblich wurde.


„Nathalie“ als Fluch und Segen

Auch das besungene Moskau konnte sich der „Nathalie“-Faszination nicht entziehen. Gut ein Jahr nach dem Start der zu Musik gewordenen Liebesgeschichte geschah das Wunder: Ende April 1965 gab Bécaud nach einer offiziellen Einladung ein umjubeltes Gastspiel im Großen Saal des Moskauer Kreml-Kongresspalastes. Möglich gemacht hatte dies eine Neuorientierung in der sowjetischen Kultur- und Außenpolitik durch den Machtwechsel von Chruschtschow zu Breschnew, der die Meinung seines Vorgängers nicht teilte, Jazz und Pop seien eine „internationale Entartung“.
Zweifelsohne war der Auslöser für die Einladung des Chansoniers aber auch die inzwischen europaweite Popularität seiner „Nathalie“. Dass er das anrührende Liebeslied bei einem Auftritt ausließ, war undenkbar, auch wenn er es schließlich bei 250 Konzerten im Jahr selbst nicht mehr hören konnte. Das Publikum forderte es – ob im Pariser „Olympia“ oder am Broadway, ob in der Musikhalle von Hamburg oder zu DDR-Zeiten im alten und neuen Friedrichstadtpalast von Berlin. Die Person von Nathalie hatte sich verselbstständigt, war aus dem Lied herausgetreten und zur ständigen Begleiterin von Bécaud geworden. Beide wurden verlangt, bis er davon matt und müde war, ein Abgleiten in Routine befürchtete und in eine Sinnkrise stolperte. „Nathalie“ als Fluch und Segen. Überliefert ist ein Gemütsausbruch aus dem Jahre 1994: „Ich habe die Nase gestrichen voll, ich kann ‚Nathalie‘ nicht mehr singen. Seit 30 Jahren jeden Abend! Ich muss sie neu erfinden, um wieder Lust darauf zu bekommen.“
Das gelang ihm 1999 im Rahmen einer anekdotenhaften Begebenheit, die mit ihrer unerwarteten Pointe erzählt werden muss. In der Romanze singt er davon, dass der junge Franzose mit seiner Begleiterin nach dem Besuch von Lenins Grab gern eine heiße russische Schokolade im Café Puschkin trinken würde. Das ist ihm zu gönnen, hat nur einen Haken: In ganz Moskau gab es zu dieser Zeit kein Café Puschkin. Das wurde 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Songs nachgeholt. Die „Nathalie“-Verehrer an den Ufern der Moskwa hatten es geschafft und dafür auch den 200. Geburtstag des russischen Nationaldichters genutzt. So wurde Alexander Puschkin geehrt – und Nathalie auch. Um ihren Triumph zur Legende zu stilisieren, wurde Gilbert Bécaud zur Eröffnung des nun zur Wirklichkeit gewordenen Cafés eingeladen. Und er kam. Und er sang. Natürlich von Nathalie. Nun konnten der Franzosen-Tourist und die verführerische Russin mit blonden Haaren im Moskauer Café Puschkin endlich ihre heiße Schokolade schlürfen.Eine Fiktion wurde Realität. Das französische Tagesblatt „L’Humanité“ nannte das Spektakel die „Wiederauferstehung Nathalies“ und fand die treffende Schlagzeile „Wenn das Volkslied eine Legende erschafft“. Es war zum Weinen schön – und viele Premierengäste taten es in Feierlaune und hemmungsloser Leidenschaft für ihre Nathalie und den angebeteten berühmten Ehrengast aus Paris, dem jede schöne Wassilissa gern Moskau und noch mehr gezeigt hätte.


„Nathalies“ unerwünschte Tochter

Offengeblieben im Kult-Chanson war lange Zeit die Frage, was in der Nacht geschah, als die Studenten spätabends Nathalies Quartier verließen, der Touristen-Franzose aber nicht. Diese Wissenslücke schlossen Texter und Komponist auf verblüffende Weise mit einem Nachfolgelied. Darin wechselt der junge Mann von der Seine Briefe mit Nathalies Kind, das 1964 – noch im Jahr der französisch-russischen Romanze – geboren wurde und in Leningrad studiert. Offensichtlich eine Konversation zwischen Vater und Tochter. Sie wäre also, als der Nachzieher 1983 herauskam, 19 Jahre gewesen – und damit tatsächlich im Studentenalter.
Ein grandioser Geniestreich, von dem nur die Schöpfer wissen, ob er ernst gemeint war oder mit augenzwinkerndem Schalk aufgetischt wurde. Der unüberhörbare Bezug zum Original geht so weit, dass auch in Teil zwei der Liebesgeschichte eine temporeiche Passage im rasanten russischen Kasatschok-Rhythmus vorkommt. Trotzdem brachte es die Songscheibe „La fille de Nathalie“ – „Die Tochter von Nathalie“ – nur auf kümmerliche Verkaufszahlen. Die Fans wollten keine Tochter und keinen Sohn und keinen Enkel von Nathalie, sondern nur sie allein als reine, makellose, anbetungswürdige Lichtgestalt, die jedermann lieben konnte.
Zugleich war damit klar, dass „Nathalie“ nicht nur die Herzen einer breiten Öffentlichkeit erobert hatte, sondern dass auch ihr musikalischer Erzeuger nicht von ihr lassen konnte. Fatal daran ist, dass Bécaud damit zu einer rituellen Allgegenwart des Liedes beitrug, die er später selbst als nervtötend und unzumutbar beklagte. Das förderte seine aufkeimende eigene Überreiztheit und beschleunigte in zunehmender Dünnhäutigkeit seine Aversion gegenüber dem längst zum Evergreen gewordenen Stück, bis er es absolut nicht mehr hören, geschweige denn singen konnte. Eine vorübergehende psychotische Störung, die der endgültigen Erkenntnis Platz machte, dass der berühmte Franzose und seine berühmte Schönheit als untrennbar angesehen wurden – egal, in welchem Konzertsaal und in welchem Land.
Mit diesem Wissen hatte ich den Hinweis von Bécauds Managerin nun voll und ganz verstanden. Es war kein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern mit dem Torpfosten. Womit ich den Passus „Nathalie“ aus meinem Fragenkatalog strich.


„Monsieur hunderttausend Volt“ elektrisiert

Ich war gespannt auf den Mann von der Seine, der so untrennbar mit dem Mädchen von der Moskwa verbandelt war. Ein Hauch von Frühling durchwehte den Märztag 1987, an dem ich mit Kameramann Eberhard Güldner erwartungsvoll über die Schwelle des Pariser Studios der Plattenfirma „Pathé-Marconi“ trat. Monique Scherrer begrüßte uns mit der Bitte um noch etwas Geduld. Der Meister sitze gerade am Piano und wolle nur noch ergründen, ob ihm die letzten Takte eines neuen Stückes gelungen seien.
Dann kommt er. Nein, er kommt nicht einfach, er wirbelt herein, stürmt auf uns zu, schüttelt uns lachend die Hand, als hätten wir uns lange nicht gesehen, und ruft mit rauchiger, kehliger Stimme in witzig-gebrochenem Deutsch: „Wie gäht’s? Was maacht Berlän, mein‘ Schtadt an die Schpree?“ Ich fühle förmlich, wie sein Temperament die Luft im Zimmer zerquirlt. Seine Arme ersetzen dabei die Flügel eines Ventilators, während seine Beine nicht eine Sekunde auf einem Fleck verweilen. Wüsste ich vom Hörensagen nicht, dass dieses Aktionsfeuer sein angeborenes Naturell ist, hätte ich ihn verdächtigt, uns aus Imagegründen das Energiebündel von der Showbühne vorzuspielen.
Ohne die Antwort auf sein „Wie gäht’s?“ abzuwarten, erledigt er tausend Dinge zugleich: Freut sich über den ihm geschenkten Hochglanz-Bildband über Berlin und blättert ihn begeistert durch, fingert die unvermeidliche Zigarette aus der Packung und bugsiert ein Feuerzeug aus der Hosentasche, entschuldigt sich dabei für seine Verspätung, denn er komme gerade aus Tokio und bereite seine nächste Tournee in New York vor. Hyperdynamik auf der Bühne und im Alltag. Bécaud ist so. Er elektrisiert sein Publikum. Das bescherte ihm den Beinamen „Monsieur hunderttausend Volt“.



Marina Vlady

verzauberte als „blonde Hexe“ der Leinwand und
litt unter einer Liebe zwischen zwei Welten

Ich mache mir Vorwürfe. Ich beschimpfe mich. Ich stelle mich an den Pranger, lege mir Daumenschrauben an, geißele mich. Und weiß doch, dass es nichts hilft, denn die Uhr am Armaturenbrett neben dem Lenkrad ist unbestechlich und weist mit unerbitterlicher Bosheit darauf hin, dass wir uns verspäten werden. Hochnotpeinlich!
Da war ich der von mir verehrten Filmdiva jahrelang auf den Fersen, habe nun endlich seit einer Woche für den 11. September 1990 die Zusage für ein Interview in der Tasche, habe diesen Tag in meinem Kalender dick angekreuzt, bin nun auf vier Rädern unterwegs zu diesem langersehnten Termin und beschneide mich selbst in der genehmigten Zeit von ohnehin nur einer Stunde. Den Zeiger des Tachos kann ich nicht höherschrauben, denn wir schaukeln über unebenes Gelände und auch die Federn einer Westkarosse haben Belastungsgrenzen. Würden sie ihre Biegsamkeit aufgeben, wäre das der Super-GAU. Dann schon lieber das kleinere Übel einer Verspätung. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit des Journalisten, die ich nun gröblichst verletze. Und das IHR gegenüber! Ein gruseliger Gedanke, eine Katastrophe!
Eigentlich sah alles unproblematisch aus. Denn Marina Vlady wohnt in Maisons-Laffitte, einer Gemeinde mit gut 22 000 Einwohnern und nur 20 Kilometer nordwestlich vor den Toren von Paris am linken Ufer der Seine. Eine exakte Angabe. Ein Ort, der nicht zu verfehlen ist. Trotzdem sei der Anmarsch zu ihr nicht unkompliziert, hatte sie mich am Telefon wissen lassen, denn das Terrain sei recht weitläufig und sei eingemeindet in ein größeres Waldgebiet, den Forêt de Saint-Germain-en-Laye. In eben diesem scheinen wir herumzuirren, obwohl sie ihren Hinweis noch mit einer deutlichen Warnung versehen hatte: „Mein Anwesen ist etwas schwer zu finden. Seien Sie bitte pünktlich, denn mein Zeitkontingent ist knapp, weil ich zu Dreharbeiten nach Malta muss und wir deshalb nur eine Stunde haben.“ Diesen Hinweis begriff ich als freundschaftlichen Rat, rechtzeitig loszufahren. Das hatten wir auch getan – und nun holpern wir über unwegsame Pisten, gesäumt von Nadel- und Laubbäumen und die Uhr tickt unaufhaltsam dem Termin entgegen. Zuvor schon waren wir eine gute halbe Stunde in einem Labyrinth dörflicher Wald- und Wiesenwege herumgekurvt. Eine im wahrsten Sinne des Wortes verfahrene Kiste.
Ein Königreich für ein Navigerät! Aber damals, 1990, war die PKW-Satellitennavigation erst im Kommen, sodass Kameramann Horst Rudolph als Beifahrer verzweifelt versuchen musste, unsere Position auf der Karte zu orten und den Weg zum Ziel zu finden. Für die Romantik einer mit Sonnengelb dekorierten Natur fehlte momentan der dazu passende Nerv.
Es war mittlerweile 15 Uhr – und damit bereits die vereinbarte Stunde, zu der wir hätten ankommen sollen. Nun ergebe ich mich dieser misslichen Laune des Schicksals und verwerfe alle schon durchdeklinierten Ausreden, denn es gibt keine einzige einigermaßen plausible und glaubhafte. Stattdessen lege ich mir die Worte für eine ehrliche demütige Entschuldigung zurecht. Ich hasse Unpünktlichkeit, bin bislang nie zu einer Pressekonferenz oder irgendeinem Termin zu spät gekommen. Und ausgerechnet mit IHR passiert mir das! Aber schneller fahren geht auch nicht, denn den glatten Asphalt des Ring-Boulevards um Paris, den Périphérique, haben wir längst verlassen und zuckeln nun im erzwungenen Schneckentempo über eine ländliche Holperpiste, die ungeduldige Autopiloten mit verführerischer Hinterhältigkeit zu einem Achsbruch einlädt. Während ich kraterhaften Bodenwellen ausweiche, malträtiere ich mein Gewissen weiter mit Vorwürfen: Warum bin ich nicht noch eher losgefahren? Ich hatte ja schließlich auf der Karte gesehen, dass sie nicht im Ortskern, sondern weitab davon und möglicherweise in ländlicher Abgeschiedenheit zu Hause ist. Eine einsame grüne Idylle als Lebensraum hatte sie ja auch in ihrem berühmten „Hexen“-Film bevorzugt. Meine Schwärmerei für die aparte Hauptdarstellerin hatte ich mir erhalten.


Die schönste Filmhexe der Welt

Damals, in meinen beginnenden Teenagerjahren, war sie für mich von einer Leinwand-Ikone zu einer angebeteten Realfigur geworden. Da lief 1957 im Mansfelder „Capitol“ das französisch-schwedische Gemeinschaftsdrama mit dem geheimnisvollen Titel „Die blonde Hexe“ und dem verlockenden Zusatz „Das Mädchen aus dem Wald“. Schon auf dem Plakat der Schaukästen bezauberte mich das Mandelaugengesicht der Französin, ihr jungfraureiner Unschuldsblick, umrahmt von hüftlang wallendem Blondhaar.
Angekündigt war der Anderthalbstunden-Film für die Abendvorstellung, wozu nur Erwachsene ab 14 Jahren Zutritt hatten. Ich war erst 12 und die Sitten waren streng. Ganz Mansfeld stand Schlange und meine Mutter gehörte dazu. Ich hatte so lange steinerweichend gebettelt, bis sie mich auf älter frisierte und auch meine Garderobe auf Jugendweihe trimmte. Da sie als Verkäuferin im Mansfelder Stoffkonsum auch die Dame an der Kinokasse zu ihren Kunden zählte, glaubte selbige der Altersbürgschaft von Mutter Maria für ihren Sohn, verzichtete auf das Vorzeigen eines Personalausweises, den ich nicht hatte, reichte zwei Tickets durchs Schalterfenster und ließ uns passieren.
Es wurde für mich als zwölfjährigen Erwachsenen ein faszinierendes Erlebnis. Die spannende Handlung der romantischen Filmnovelle fesselte mich ebenso wie das lebensechte Spiel der schönen Blondine in der Titelrolle. Welch eine ans Herz gehende Romanze zwischen dem scheuen, geheimnisvollen Waldmädchen Ina in einer einsamen Schweden-Wildnis und dem sympathischen französischen Bauingenieur Laurent Brulard, der sie als Stadtmensch in die Zivilisation einführen will und am brutalen Aberglauben unwissender primitiver Fanatiker scheitert.
Inas einziger Glaube ist eine von Liebe diktierte Gutgläubigkeit, die ihr zum Verhängnis wird. Die Frauen des Dorfes wollen die naive, unbedarfte Schöne lynchen, weil sie den Ingenieur angeblich verhext hat. Den Gemeinschaftsmord kann ihr Geliebter noch verhindern, nicht aber einen einzelnen, heimtückisch geworfenen Stein, der sie tödlich verletzt. Erschüttert und fassungslos stellt sich der junge Mann die beklemmende Frage, warum eine solch barbarische Tat in der modernen Welt des 20. Jahrhunderts noch möglich ist.
Ähnliches fragte ich mich noch im Jahre 1990, als eine landesweite Umfrage in Frankreich ergab: 37 Prozent der Befragten glauben an den Teufel – also mehr als ein Drittel. Bei den praktizierenden Katholiken waren es mit 66 Prozent sogar weit mehr als die Hälfte, die sich vor Satan fürchtete.
Die schönste Filmhexe der Welt wurde zum Idol einer ganzen Generation junger Mädchen. Sie prägte ähnlich wie Brigitte Bardot ein Schönheitsideal, eine Frisur, eine Mode. Auch mich als Jungen hatte sie im Mansfelder Kino verzaubert. Da habe ich mich nicht über ein paar heimliche Tränen der Rührung und des Mitleids für die Totgesteinigte geschämt. Zugleich war ich ein wenig verwirrt, denn ich spürte als Zwölfjähriger ein ähnlich starkes Gefühl für die junge Frau auf der Leinwand wie für meine fast gleichaltrige Kinderfreundin Edith. Da ich meine Empfindungen für sie für Liebe hielt, muss ich dann wohl auch das Kino-Mädchen geliebt haben. Mit dem kleinen Unterschied, dass die eine in der Hettstedter Straße nebenan nur zwei Häuser weiter wohnte und die andere im fernen Paris, von dem mich Welten und gleich mehrere Westgrenzen trennten. So war mein Fremdgehen mit Marina also rein platonischer Natur, das ich Edith nicht unbedingt beichten musste. Oh naive, reinherzige, harmlose Seligkeit eines romantisch veranlagten Kindergemütes!
Nun, 33 Jahre später, darf ich meinen Kinderschwarm aus der Welt des Zelluloids persönlich kennenlernen und verwünsche den Umstand, dass er ähnlich wie in der Bildergeschichte abseits der großen Straßen und modernen Infrastrukturen im Naturgrün einer schlichten Einsiedelei lebt. Diese Einfachheit wiederum kann ich mir schwerlich vorstellen eingedenk ihrer mondänen Erscheinung als verwöhnte Primadonna.
Ich habe ihre Karriere verfolgt, die mit extremen Amplituden zurechtkommen musste und wie das Fieberthermometer eines Börsenkurses steil nach oben kletterte und ebenso rapide wieder absackte. Ein Leben zwischen Erfolgen und Abstürzen. Als wir Marina Vlady damals suchten und schließlich fanden, war sie 52 Jahre und wieder ganz oben. Gerade erst gab es eine viel beachtete Premiere. Ein Fernsehfilm über die Französische Revolution mit dem Titel „Condorcet“, benannt nach einem Philosophen und Wortführer der Jakobiner. Sie spielt die Pensionsbesitzerin Vernet, die den gesuchten Marquis versteckt, doch er will sie nicht gefährden, weil ihr dann die Guillotine sicher wäre. Sie lässt den Freund widerstrebend ziehen und erfährt kurz darauf erschüttert von seinem Tod. Ihre Landsleute haben dem Drama und seiner Aktrice applaudiert.
Zuvor hatte sie an der Seite von Marcello Mastroianni in „Splendor“ brilliert, einem Meisterwerk des italienischen Starregisseurs Ettore Scola, der mit diesem Streifen über den Existenzkampf eines Provinzkinos dem Filmtheater auf tragisch-komische Weise ein Denkmal gesetzt hat.


Ein kühler Empfang

Die Quälerei der zerrigen, umständliche Anfahrt scheint beendet. Ich atme auf. Wir haben auf dem Gebiet von Maisons-Laffitte endlich die peripher gelegene bescheidene Dorfstraße erwischt, die den hochtrabenden Namen „Avenue“ trägt. So diktiert es uns das Schild an einer Wand aus Feldsteinen: „Avenue Marivaux“. Wenig später halten wir an der Hausnummer 3. Ein größeres Anwesen im rustikalen Stil eines Gutshofes in einem noch hochsommerlich wirkenden blattgrünen Versteck, ringsum eingezäunt von einem massiven Steinwall.
Das überrascht mich. Was ich erwartet hatte, war ein pompöser Bau in einem abgeschiedenen Luxus-Resort. Denn Maisons-Laffitte ist einer der nobelsten und teuersten Pariser Vororte, der bekannt ist für seine promibesuchte Pferderennbahn, seine großzügig angelegten prächtigen Alleen und seine komfortablen Glamour-Villen auf sorgsam gepflegten parkähnlichen Grundstücken. Ein Ort der Reichen und Schönen. Was ich nun aber sehe, ist statt eines opulenten Prunkpalastes auf gestyltem Wimbledon-Rasen eine mit Straßenstaub überzogene Mauer. Dahinter ein Gehöft mit dem Patina-Charme eines altehrwürdigen Landsitzes, der schon die Ritterzeit erlebt haben könnte.
Um sich dieses einer historischen Filmkulisse ähnliche Bild mit Wonne ins Gedächtnis zu tackern, bleibt keine Zeit. Die bedrohliche Stellung der Uhrzeiger zwingt zur Eile. Horst Rudolph holt mit geübtem Griff die Filmtechnik aus dem Kofferraum, reicht mir Tongerät und Mikrofon, schultert die Kamera und drückt sofort den Auslöser. Auch ich will den Ton von Anfang an mitlaufen lassen, um nichts zu verpassen. Das ist nicht ganz fair, weil es ein überfallartiger Drehbeginn ist, aber ich entschuldige es mit unserer Zeitknappheit. Denn ich stehe mit nunmehr zehnminütiger Verspätung und einem schlechten Gewissen vor der eisenbeschlagenen Pforte des altertümlichen Gemäuers und bediene die Strippe einer halbverrosteten antiken Zugglocke ähnlich der einer Bimmelbahn. Nichts. Kein Geräusch außer dem knisternden Zellophan um den imposanten Rosenstrauß in meinem Arm. Von dem riesigen Bouquet erhoffe ich mir Absolution für den Eklat unserer Verspätung.
Ich möchte die Blumen gern abliefern, aber die Schotten bleiben dicht. Also noch mal die Glocke. Es ist mehr ein Scheppern als ein Schellen. Dann Schritte. Torknarren. Zuerst erscheint ein Dackel, gefolgt von weiteren Vierbeinern, die an meinen Schuhen vorbei nach draußen laufen. Dann steht vor mir die Frau, für deren Film ich damals in Mansfeld mehr Reklame gemacht habe als alle Kinoplakate zusammen. Das muss sie nie erfahren haben, denn sie sagt in unwilligem Ton: „Beeilen Sie sich! In einer dreiviertel Stunde muss ich weg.“ Genauso barsch ruft sie ihre fünf Hunde in den Hof zurück.
Ein wenig Charme hatte ich – ehrlich gesagt – schon erwartet. Aber natürlich verstehe ich ihre Verstimmung, zumal wir eigenmächtig ohne Vorwarnung gleich drauflos gefilmt haben. Aber jede Bild- und Tonminute ist jetzt wertvoll. Nun kann ich endlich meine Entschuldigung samt Blumenstrauß loswerden.
Dann ein schneller Rundblick: heller „Mercedes“, efeuberanktes Landhaus, Blumenbeete an den Rändern eines kurzgeschorenen Rasenteppichs, Vögel, Katzen, Hühner, zwei Hundehütten mit Spitzdächern zu beiden Seiten eines Glastüreneingangs, weiße Kunststofftische mit Gartenstühlen. An einem bittet sie Platz zu nehmen, während sie ins Haus geht und kurz darauf auf einem ovalen Tablett mit farbigen russischen Ornamenten drei Tassen sowie Kaffee, Zucker, Milch und Kekse bringt. Dann entschwindet sie ein weiteres Mal durch die Glastür, um sich für das Interview noch etwas aufzuhübschen. Das sagt sie in ungeschminkter Direktheit, um sich wenig später dezent geschminkt der Kamera zu präsentieren.
5 Sterne
ein informatives und sehr unterhaltsames Buch - 27.01.2022
Monika Schröder

Dieter Wahl hat eine wunderbare Art zu schreiben. Das Lesen gestaltet sich sehr unterhaltsam. Ich mag seinen Schreibstyle. Er ist inhaltsreich, charmant, oft ein bisschen witzig aber immer höflich. Dieses Buch bietet viel Informatives über manchmal schon fast vergessene Persönlichkeiten. Dabei ergänzen die Geschichten, Storys und Interwiews Informationen aus anderen Lektüren wie beispielsweise Wikipedia oder Google.Für mich ein sehr empfehlensertes Buch.Bitte Dieter Wahl......unbedingt weiter Schreiben!

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