Mein erstes - Totalausfall - Gehirnblutung - und mein zweites Leben!

Mein erstes - Totalausfall - Gehirnblutung - und mein zweites Leben!

Ilse Orlitsch


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 142
ISBN: 978-3-99038-742-9
Erscheinungsdatum: 15.07.2015

Leseprobe:

Der Kampf zurück ins Leben.
Meine Gehirnblutungs-Krankengeschichte
mit überglücklichem Ausgang.
Patientenverfügung sinnhaft?


Mehr als 3 Jahre habe ich gebraucht,
mich mit den Geschehnissen im Herbst 2009
auseinanderzusetzen und zu akzeptieren.
Deshalb will ich die Geschichte
und auch noch eine andere zu Papier bringen,
solange mir alles noch so gegenwärtig ist.



Das Aufwachen

Zuerst war eigentlich nur das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Mehrere Stimmen um mich herum. Die Rede war von einer Notoperation vor Wochen und Gehirnblutung. Sofort sah ich unseren guten Freund Gerald Saurer vor meinem geistigen Auge. Der Gedanke: „Das ist jetzt aber wirklich schlimm“, schoss mir durch den Kopf. Als Nächstes sagte eine der Stimmen: „Nicht auf den Kopf greifen!“, wegen der Infektionsgefahr, wie ich viel später erfuhr. Ich ließ meine rechte Hand wieder unter der Decke verschwinden. Dann versuchte ich, ob ich die Beine bewegen könnte. Ich spürte an beiden Füßen die Bewegung der Zehen, was mich sofort hoffen ließ. Ich sagte zu mir selbst: „Natürlich kann ich gehen.“ Die linke Hand machte aber Schwierigkeiten, war in der Beweglichkeit eingeschränkt. Ich versuchte, mich umzusehen, sah einige Gesichter, unter ihnen Gott sei Dank meinen Ehemann. Ich versuchte zu sprechen, wollte fragen, wo ich bin. Es erschreckte mich sehr, dass mich keiner der Anwesenden verstand, obwohl ich die Worte im Kopf hörte. Eine weiß gekleidete Person kam näher und sagte: „Wenn Sie hier fest drauf drücken, dann verstehen wir auch, was Sie sagen.“ Dabei drückte sie auf einen verklebten Punkt auf meinem Hals. Als ich auch darauf drückte, spürte ich ein Loch, welches, wie ich später erfuhr, von der Tracheostomie (Beatmung) stammte. Jetzt bemerkte ich, dass ich praktisch nur ohne Ton gesprochen hatte, weswegen mich auch niemand verstand.
Ich versuchte nach der Hand meines Mannes zu greifen, wobei ich wieder Bewegungsschwierigkeiten bemerkte. Sofort begann ich die Hand zu öffnen und zu schließen, was ich drei Tage lang fast ständig tat. Mein Mann fragte mich nach dem Geburtsdatum unseres Sohnes, was ich prompt beantworten konnte, sogar die Versicherungsnummer unseres Sohnes als auch meine eigene und mein Geburtsdatum und den PIN-Code meiner Bankomatkarte zählte ich auf. Jemand, in Weiß sagte: „Wenn sie die richtige Nummer der richtigen Person zuordnen kann, dann kann es so schlimm nicht sein.“
Viel später berichtete mir mein Mann, dass er an diesem Tag das Krankenhaus, nach Wochen, das erste Mal hoffnungsvoll verlassen hat. Am nächsten Tag fragte mein Mann mich, ob ich vielleicht wissen würde, wo der Meldezettel unseres Sohnes von der Marburger Straße in Graz wäre. Ich antwortete, dass auf der Kommode in unserem Schlafzimmer eine grüne Mappe mit Christians Unterlagen wäre, dort müsste er sein, was auch so war. Dass die größte Sorge meines Schwiegervaters der Verbleib der Bankomatkarte der Schwiegermutter, die er mir zum Einkauf von Lebensmitteln ausgehändigt hatte, war, erzählte mein Mann mir erst viel später. Ich wusste natürlich, dass ich sie in meiner Geldtasche, unter meiner eigenen aufbewahrte. Er berichtete mir nach und nach, dass meine Überlebenschancen vier Wochen zuvor unter 10 Prozent betrugen. Nach dem Clipping des Aneurysma am 31. 8. 2009 wurde der Hirndruck unkontrollierbar. Deshalb wurde am 1. 9. eine Kraniektomie (Entfernung des Schädelknochens) vorgenommen.
Am 10. 9. folgte die Tracheostomie (Beatmung mittels Schlauch durch die Luftröhre).
Der Hirndruck ging dennoch nicht zurück. Eigentlich war die Lage hoffnungslos, wie mir selbst die Ärzte später berichteten. Meine Zeit war wohl noch nicht abgelaufen. Das Leben hat wohl noch etwas mit mir vor. Deshalb die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Patientenverfügung. Einige Wochen vor meinem Zusammenbruch hatten wir diese beide (mein Mann und ich) geschrieben und beim Notar hinterlegt. Der unmittelbare Grund war der Zustand meiner Schwiegermutter. Sie war aber ungültig, da das Beratungsgespräch mit dem Arzt fehlte. Es muss nämlich ganz klar definiert werden, was der Einzelne unter „Lebenserhaltenden Maßnahmen“ versteht. Einige Tage vor meiner Salzburgreise wollte ich noch mit der Hausärztin meiner Schwiegermutter, Frau Doktor Hagen, einen Termin für das Beratungsgespräch ausmachen. Sie meinte: „Machen wir, wenn Sie zurück sind.“ Wäre die Verfügung gültig gewesen, wäre ich wohl nicht gerettet worden, da selbst die Ärzte, wie mir Professor L. später berichtete, keine Hoffnung mehr hatten. Meinem Mann wurde gesagt, wenn ich es überleben sollte, dann nur mit schlimmsten Beeinträchtigungen. Außerdem wären sie mit ihrer Kunst am Ende, wenn der da oben nicht noch helfen würde, wovon ich zutiefst überzeugt bin. Auf der Intensivstation wurde ein Heiligenbild einer Rumänin, deren Mann, vor längerer Zeit, auf der Station gerettet wurde, immer an den hoffnungslosesten Fall weitergegeben. Ziemlich zeitgleich mit mir lag eine junge Frau, die sogar aus unserer Gegend stammte, ebenfalls nach einer Gehirnblutung im künstlichen Tiefschlaf. Von ihrem Mann erhielt mein Mann das Bild, als sie aufwachte. Ich erfuhr später, dass sie ebenfalls keine Ahnung hatte, was passiert war. Sie dachte, dass sie ein Kind bekommen hätte, und wollte unbedingt wissen, was es wäre, Bub oder Mädchen. Mein Mann legte das Bild in mein Nachtkästchen. Er gab es an einen jungen Mann weiter, der ebenfalls in hoffnungslosem Zustand eingeliefert wurde. Meine geliebte Tante Resi, die Schwester meiner Oma, fuhr nach Mariazell, um für mich zu beten. Sie brachte mir eine Madonna aus Messing, die heute mit allen Schutzengeln, die ich im Laufe der Krankenhauszeit, von lieben Menschen bekam, einen Ehrenplatz in unserem Schlafzimmer hat. Für die Schutzengel ließ ich neben meinem Bett ein Regal anbringen.

Unsere Freundin Edith fuhr nach Maria Luschari, um für mich zu beten. Sie war die Lieblingsschwägerin unseres besten Freundes Gustl Mathi, der leider 2008, weit vor seiner Zeit verstorben ist. Meine Freundin Marianne berichtete mir, dass ich gesagt hätte: „Gustl war der Türsteher auf der ‚anderen Seite‘, er hat mich nicht hineingelassen.“
Wenn die Frage auftaucht, ob Menschen im Tiefschlaf irgendetwas wahrnehmen, kann ich dies nur voll und ganz bejahen. Mein Mann saß täglich die gesamte, erlaubte Besuchszeit an meinem Bett, protestierte, wenn man mich kühlte: „Bitte nicht, sie mag absolut keine kalten Füße.“ Er erzählte mir von zu Hause, richtete Grüße von unseren Freunden und Verwandten aus, erzählte von Simba, unserem Kater und besprühte mich immer wieder mit meinem Lieblingsparfum Opium von Yves St. Laurent. Später räumte er zwar ein, dass die ersten Tage nach dem Tiefschlaf, für ihn erschreckend waren. Er gab zu, dass er dachte, wenn das so bleibt, dann wäre ich sehr anstrengend, weil ich, wie man bei uns sagt, einen Haufen Blödsinn erzählte. Ich glaube, dass ich in den ersten wachen Tagen alles verarbeitete, was ich im Tiefschlaf erlebt habe. Alles hätte ich verwettet, dass das alles der Realität entspricht. So war ich beispielsweise felsenfest davon überzeugt, dass ich vor dem Zusammenbruch in Ungarn auf Urlaub gewesen wäre, und zwar mit meiner Freundin Maria aus Salzburg, Michi einer weiteren Freundin, die auch mit beim „Jedermann“ war und Maria Gutschi. Nach der Jedermann-Vorstellung tranken wir in der Fußgängerzone in Salzburg einen Aperol Spritz. Das übertrug ich in meiner Vorstellung auf Ungarn. Wir saßen in einem Lokal und tranken Aperol Spritz. Der Preis war relativ hoch. Ich gab Michi 50 Euro und sagte, sie solle in dem Getränkemarkt gegenüber einen Karton Prosecco und eine Flasche Aperol besorgen. Gleichzeitig sagte ich dem Wirt, er solle sich nicht aufregen, er würde für seine Arbeit schon etwas bekommen. Ich erlebte so real die Fahrt mit dem Rettungsauto in Richtung Österreich. Meine gute Freundin Maria, die auch bei uns im Haus wohnt, beschimpfte in meiner Fantasie den Fahrer und drohte ihm verschiedene Sanktionen an, wenn er nicht endlich Gas geben würde. Später erfuhr ich, dass sie tatsächlich mit einem der Sanitäter, die mich von zu Hause abtransportierten einen Disput gehabt hatte, weil er ungeschickt mit dem Tragestuhl im Treppenhaus hantierte. Wahrscheinlich begrüßte ich Maria Gutschi deshalb bei ihrem ersten Besuch mit den Worten: „Schau, endlich kommt meine Lebensretterin.“ Die Nächte nach dem künstlichen Tiefschlaf waren schlimm. Eigentlich war ich wach, aber ich erlebte in jeder Nacht einen ganzen Film. So waren mein Mann und ich in der Ordination des Arztes Dr. Jöbstl in Eibiswald. Dann schickte ich Gerald zur Buschenschank, um eine Jausenplatte und kalten Schilcher zu besorgen, denn, so sagte ich, wir würden uns jetzt in den Innenhof unserer guten Freunde Lisbeth und Franzi setzen und wir würden feiern, dass wir noch alle leben, was wir auch taten. Denn Franzi Slabernig hatte im Jahr 2004 einen Schlaganfall erlitten und auch eine Menge Schutzengel gehabt, er hat sich wieder gut erholt.
Später fuhr ich mit unserem Auto nach Wies, wo ein Fetzenmarkt stattfand und lauter betrunkene Feuerwehrmänner auf der Straße lagen. Auf dem Rücksitz saßen Elisabeth und Helmut, die Tochter und der Schwiegersohn von Franzi und Lisbeth. Ich sagte, ich würde ihnen von der Buschenschank noch Schilcher mitgeben, da morgen Montag sei und sie sonst an ihrem freien Tag nichts Trinkbares zu Hause hätten, da wir ja den ganzen Schilcher ausgetrunken hatten. Dann brachte ich die beiden nach Hause. Beim Abschied sagte ich, dass sie doch an ihrem morgigen freien Tag, am späten Nachmittag vorbeikommen sollten, wir würden dann etwas Gutes auf den Grill werfen. Das entsprach sogar der Realität, denn mein Zusammenbruch geschah am Sonntag, dem 30. August 2009. Am nächsten Tag beauftragte ich meinen Mann, auf dem Heimweg beim Gastro-Pfeiffer „Brasilianischen Lungenbraten“ zu kaufen, denn der wäre im Angebot was tatsächlich der Fall war und meinen lieben Mann sehr verwunderte. Auf der Intensivstation herrschte ständig Hochbetrieb. In jedem Neuzugang glaubte ich einen Bekannten zu erkennen. Alle Schwestern sahen aus wie meine Freundinnen. So sah ich, mir schräg gegenüber, den Schulkollegen unseres Sohnes, Angelo, liegen.
Man machte mich auf meinen Irrtum aufmerksam, aber ich war felsenfest überzeugt. Einer Schwester rief ich zu: „Marianne, komm mal her.“ Sie sagte: „Sie verwechseln mich, ich bin Schwester Gerti.“ In der nächsten Nacht kam meine Freundin Andrea in Schwesterntracht daher. Ich sagte, sie solle mir eine Flasche mit Mineralwasser füllen. Sie sagte, das dürfe sie nicht. Ich sagte: „Dann verschwinde.“ Der Patient schräg links von mir hatte eine Flasche Granini auf dem Nachtkästchen. Er hieß Westentaler und hatte sich beim Tennis schwere Kopfverletzungen zugezogen. Die halbe Nacht hielt er die Schwestern auf Trab, weil er die Windel nicht akzeptieren wollte. Dass Angelo, Herr Koppitz war, wusste ich inzwischen. Der verlangte stundenlang seine Autoschlüssel, weil er Termine hätte. Als man ihm sagte, dass er, weil frisch operiert, nirgendwo hin könnte, behauptete er, er wäre nur im Park spazieren gegangen, da wären vier Ärzte gekommen, hätten ihn mitgenommen und gegen seinen Willen operiert. Plötzlich drehte sich Westentaler um und fragte, ob wir uns überhaupt vorstellen könnten, was die Flasche Granini kostet, nämlich 35 Euro, da dürfe kein Wasser dazu geschüttet werden. Das Nebenbett war leer, plötzlich lag jedoch Andrea drauf und saugte gierig an einem Schlauchmundstück nach Sauerstoff. Sie sagte, dass sie fit sein muss, wenn sie um 5 Uhr bei Magna, wo sie arbeitet, anfängt. Hier auf der Intensivstation machte sie nur Nachtdienste, um sich ihren Urlaub zu verdienen. Am Plafond des Zimmers waren lauter Kreise und Stäbchen aufgemalt. Plötzlich dachte ich daran, wie Andreas Tische auf ihrer Station immer chaotisch waren, als sie in unserem Lokal im Service arbeitete. Ich sagte laut: „Andrea, schau dir deine Tische an, räum’ sofort auf!“
Am Morgen kam Schwester Gerti (für mich Marianne), mit ihr erschien ein junger Mann mit Stehleiter, Mariannes Sohn Daniel, sie trieb ihn an, sich zu beeilen und machte ihn auf noch eine Spinnwebe aufmerksam. Ich fragte: „Was macht denn Daniel hier?“ Sie antwortete: „Ein Praktikum.“ Am Vormittag wurde mir die Logopädin Frau Dr. Bauernfeind vorgestellt. Bildhübsch, und schon war auch Mariannes und Sepps Tochter Carina da. Am Nachmittag besuchte mich erstmals meine Freundin Pepperl, deren Mann Gerald 1991 eine Gehirnblutung erlitt und leider weitaus weniger Glück als ich hatte. Sie riss die Bettdecke in die Höhe und bettelte: „Bitte bewege deinen linken Fuß.“ Bei ihrem Mann waren rechtsseitig massive Lähmungen eingetreten, da er die Blutung links erlitt. Leider funktionierte bei ihm die Rettungskette nicht so optimal wie bei mir.

Der Kampf zurück ins Leben.
Meine Gehirnblutungs-Krankengeschichte
mit überglücklichem Ausgang.
Patientenverfügung sinnhaft?


Mehr als 3 Jahre habe ich gebraucht,
mich mit den Geschehnissen im Herbst 2009
auseinanderzusetzen und zu akzeptieren.
Deshalb will ich die Geschichte
und auch noch eine andere zu Papier bringen,
solange mir alles noch so gegenwärtig ist.



Das Aufwachen

Zuerst war eigentlich nur das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Mehrere Stimmen um mich herum. Die Rede war von einer Notoperation vor Wochen und Gehirnblutung. Sofort sah ich unseren guten Freund Gerald Saurer vor meinem geistigen Auge. Der Gedanke: „Das ist jetzt aber wirklich schlimm“, schoss mir durch den Kopf. Als Nächstes sagte eine der Stimmen: „Nicht auf den Kopf greifen!“, wegen der Infektionsgefahr, wie ich viel später erfuhr. Ich ließ meine rechte Hand wieder unter der Decke verschwinden. Dann versuchte ich, ob ich die Beine bewegen könnte. Ich spürte an beiden Füßen die Bewegung der Zehen, was mich sofort hoffen ließ. Ich sagte zu mir selbst: „Natürlich kann ich gehen.“ Die linke Hand machte aber Schwierigkeiten, war in der Beweglichkeit eingeschränkt. Ich versuchte, mich umzusehen, sah einige Gesichter, unter ihnen Gott sei Dank meinen Ehemann. Ich versuchte zu sprechen, wollte fragen, wo ich bin. Es erschreckte mich sehr, dass mich keiner der Anwesenden verstand, obwohl ich die Worte im Kopf hörte. Eine weiß gekleidete Person kam näher und sagte: „Wenn Sie hier fest drauf drücken, dann verstehen wir auch, was Sie sagen.“ Dabei drückte sie auf einen verklebten Punkt auf meinem Hals. Als ich auch darauf drückte, spürte ich ein Loch, welches, wie ich später erfuhr, von der Tracheostomie (Beatmung) stammte. Jetzt bemerkte ich, dass ich praktisch nur ohne Ton gesprochen hatte, weswegen mich auch niemand verstand.
Ich versuchte nach der Hand meines Mannes zu greifen, wobei ich wieder Bewegungsschwierigkeiten bemerkte. Sofort begann ich die Hand zu öffnen und zu schließen, was ich drei Tage lang fast ständig tat. Mein Mann fragte mich nach dem Geburtsdatum unseres Sohnes, was ich prompt beantworten konnte, sogar die Versicherungsnummer unseres Sohnes als auch meine eigene und mein Geburtsdatum und den PIN-Code meiner Bankomatkarte zählte ich auf. Jemand, in Weiß sagte: „Wenn sie die richtige Nummer der richtigen Person zuordnen kann, dann kann es so schlimm nicht sein.“
Viel später berichtete mir mein Mann, dass er an diesem Tag das Krankenhaus, nach Wochen, das erste Mal hoffnungsvoll verlassen hat. Am nächsten Tag fragte mein Mann mich, ob ich vielleicht wissen würde, wo der Meldezettel unseres Sohnes von der Marburger Straße in Graz wäre. Ich antwortete, dass auf der Kommode in unserem Schlafzimmer eine grüne Mappe mit Christians Unterlagen wäre, dort müsste er sein, was auch so war. Dass die größte Sorge meines Schwiegervaters der Verbleib der Bankomatkarte der Schwiegermutter, die er mir zum Einkauf von Lebensmitteln ausgehändigt hatte, war, erzählte mein Mann mir erst viel später. Ich wusste natürlich, dass ich sie in meiner Geldtasche, unter meiner eigenen aufbewahrte. Er berichtete mir nach und nach, dass meine Überlebenschancen vier Wochen zuvor unter 10 Prozent betrugen. Nach dem Clipping des Aneurysma am 31. 8. 2009 wurde der Hirndruck unkontrollierbar. Deshalb wurde am 1. 9. eine Kraniektomie (Entfernung des Schädelknochens) vorgenommen.
Am 10. 9. folgte die Tracheostomie (Beatmung mittels Schlauch durch die Luftröhre).
Der Hirndruck ging dennoch nicht zurück. Eigentlich war die Lage hoffnungslos, wie mir selbst die Ärzte später berichteten. Meine Zeit war wohl noch nicht abgelaufen. Das Leben hat wohl noch etwas mit mir vor. Deshalb die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Patientenverfügung. Einige Wochen vor meinem Zusammenbruch hatten wir diese beide (mein Mann und ich) geschrieben und beim Notar hinterlegt. Der unmittelbare Grund war der Zustand meiner Schwiegermutter. Sie war aber ungültig, da das Beratungsgespräch mit dem Arzt fehlte. Es muss nämlich ganz klar definiert werden, was der Einzelne unter „Lebenserhaltenden Maßnahmen“ versteht. Einige Tage vor meiner Salzburgreise wollte ich noch mit der Hausärztin meiner Schwiegermutter, Frau Doktor Hagen, einen Termin für das Beratungsgespräch ausmachen. Sie meinte: „Machen wir, wenn Sie zurück sind.“ Wäre die Verfügung gültig gewesen, wäre ich wohl nicht gerettet worden, da selbst die Ärzte, wie mir Professor L. später berichtete, keine Hoffnung mehr hatten. Meinem Mann wurde gesagt, wenn ich es überleben sollte, dann nur mit schlimmsten Beeinträchtigungen. Außerdem wären sie mit ihrer Kunst am Ende, wenn der da oben nicht noch helfen würde, wovon ich zutiefst überzeugt bin. Auf der Intensivstation wurde ein Heiligenbild einer Rumänin, deren Mann, vor längerer Zeit, auf der Station gerettet wurde, immer an den hoffnungslosesten Fall weitergegeben. Ziemlich zeitgleich mit mir lag eine junge Frau, die sogar aus unserer Gegend stammte, ebenfalls nach einer Gehirnblutung im künstlichen Tiefschlaf. Von ihrem Mann erhielt mein Mann das Bild, als sie aufwachte. Ich erfuhr später, dass sie ebenfalls keine Ahnung hatte, was passiert war. Sie dachte, dass sie ein Kind bekommen hätte, und wollte unbedingt wissen, was es wäre, Bub oder Mädchen. Mein Mann legte das Bild in mein Nachtkästchen. Er gab es an einen jungen Mann weiter, der ebenfalls in hoffnungslosem Zustand eingeliefert wurde. Meine geliebte Tante Resi, die Schwester meiner Oma, fuhr nach Mariazell, um für mich zu beten. Sie brachte mir eine Madonna aus Messing, die heute mit allen Schutzengeln, die ich im Laufe der Krankenhauszeit, von lieben Menschen bekam, einen Ehrenplatz in unserem Schlafzimmer hat. Für die Schutzengel ließ ich neben meinem Bett ein Regal anbringen.

Unsere Freundin Edith fuhr nach Maria Luschari, um für mich zu beten. Sie war die Lieblingsschwägerin unseres besten Freundes Gustl Mathi, der leider 2008, weit vor seiner Zeit verstorben ist. Meine Freundin Marianne berichtete mir, dass ich gesagt hätte: „Gustl war der Türsteher auf der ‚anderen Seite‘, er hat mich nicht hineingelassen.“
Wenn die Frage auftaucht, ob Menschen im Tiefschlaf irgendetwas wahrnehmen, kann ich dies nur voll und ganz bejahen. Mein Mann saß täglich die gesamte, erlaubte Besuchszeit an meinem Bett, protestierte, wenn man mich kühlte: „Bitte nicht, sie mag absolut keine kalten Füße.“ Er erzählte mir von zu Hause, richtete Grüße von unseren Freunden und Verwandten aus, erzählte von Simba, unserem Kater und besprühte mich immer wieder mit meinem Lieblingsparfum Opium von Yves St. Laurent. Später räumte er zwar ein, dass die ersten Tage nach dem Tiefschlaf, für ihn erschreckend waren. Er gab zu, dass er dachte, wenn das so bleibt, dann wäre ich sehr anstrengend, weil ich, wie man bei uns sagt, einen Haufen Blödsinn erzählte. Ich glaube, dass ich in den ersten wachen Tagen alles verarbeitete, was ich im Tiefschlaf erlebt habe. Alles hätte ich verwettet, dass das alles der Realität entspricht. So war ich beispielsweise felsenfest davon überzeugt, dass ich vor dem Zusammenbruch in Ungarn auf Urlaub gewesen wäre, und zwar mit meiner Freundin Maria aus Salzburg, Michi einer weiteren Freundin, die auch mit beim „Jedermann“ war und Maria Gutschi. Nach der Jedermann-Vorstellung tranken wir in der Fußgängerzone in Salzburg einen Aperol Spritz. Das übertrug ich in meiner Vorstellung auf Ungarn. Wir saßen in einem Lokal und tranken Aperol Spritz. Der Preis war relativ hoch. Ich gab Michi 50 Euro und sagte, sie solle in dem Getränkemarkt gegenüber einen Karton Prosecco und eine Flasche Aperol besorgen. Gleichzeitig sagte ich dem Wirt, er solle sich nicht aufregen, er würde für seine Arbeit schon etwas bekommen. Ich erlebte so real die Fahrt mit dem Rettungsauto in Richtung Österreich. Meine gute Freundin Maria, die auch bei uns im Haus wohnt, beschimpfte in meiner Fantasie den Fahrer und drohte ihm verschiedene Sanktionen an, wenn er nicht endlich Gas geben würde. Später erfuhr ich, dass sie tatsächlich mit einem der Sanitäter, die mich von zu Hause abtransportierten einen Disput gehabt hatte, weil er ungeschickt mit dem Tragestuhl im Treppenhaus hantierte. Wahrscheinlich begrüßte ich Maria Gutschi deshalb bei ihrem ersten Besuch mit den Worten: „Schau, endlich kommt meine Lebensretterin.“ Die Nächte nach dem künstlichen Tiefschlaf waren schlimm. Eigentlich war ich wach, aber ich erlebte in jeder Nacht einen ganzen Film. So waren mein Mann und ich in der Ordination des Arztes Dr. Jöbstl in Eibiswald. Dann schickte ich Gerald zur Buschenschank, um eine Jausenplatte und kalten Schilcher zu besorgen, denn, so sagte ich, wir würden uns jetzt in den Innenhof unserer guten Freunde Lisbeth und Franzi setzen und wir würden feiern, dass wir noch alle leben, was wir auch taten. Denn Franzi Slabernig hatte im Jahr 2004 einen Schlaganfall erlitten und auch eine Menge Schutzengel gehabt, er hat sich wieder gut erholt.
Später fuhr ich mit unserem Auto nach Wies, wo ein Fetzenmarkt stattfand und lauter betrunkene Feuerwehrmänner auf der Straße lagen. Auf dem Rücksitz saßen Elisabeth und Helmut, die Tochter und der Schwiegersohn von Franzi und Lisbeth. Ich sagte, ich würde ihnen von der Buschenschank noch Schilcher mitgeben, da morgen Montag sei und sie sonst an ihrem freien Tag nichts Trinkbares zu Hause hätten, da wir ja den ganzen Schilcher ausgetrunken hatten. Dann brachte ich die beiden nach Hause. Beim Abschied sagte ich, dass sie doch an ihrem morgigen freien Tag, am späten Nachmittag vorbeikommen sollten, wir würden dann etwas Gutes auf den Grill werfen. Das entsprach sogar der Realität, denn mein Zusammenbruch geschah am Sonntag, dem 30. August 2009. Am nächsten Tag beauftragte ich meinen Mann, auf dem Heimweg beim Gastro-Pfeiffer „Brasilianischen Lungenbraten“ zu kaufen, denn der wäre im Angebot was tatsächlich der Fall war und meinen lieben Mann sehr verwunderte. Auf der Intensivstation herrschte ständig Hochbetrieb. In jedem Neuzugang glaubte ich einen Bekannten zu erkennen. Alle Schwestern sahen aus wie meine Freundinnen. So sah ich, mir schräg gegenüber, den Schulkollegen unseres Sohnes, Angelo, liegen.
Man machte mich auf meinen Irrtum aufmerksam, aber ich war felsenfest überzeugt. Einer Schwester rief ich zu: „Marianne, komm mal her.“ Sie sagte: „Sie verwechseln mich, ich bin Schwester Gerti.“ In der nächsten Nacht kam meine Freundin Andrea in Schwesterntracht daher. Ich sagte, sie solle mir eine Flasche mit Mineralwasser füllen. Sie sagte, das dürfe sie nicht. Ich sagte: „Dann verschwinde.“ Der Patient schräg links von mir hatte eine Flasche Granini auf dem Nachtkästchen. Er hieß Westentaler und hatte sich beim Tennis schwere Kopfverletzungen zugezogen. Die halbe Nacht hielt er die Schwestern auf Trab, weil er die Windel nicht akzeptieren wollte. Dass Angelo, Herr Koppitz war, wusste ich inzwischen. Der verlangte stundenlang seine Autoschlüssel, weil er Termine hätte. Als man ihm sagte, dass er, weil frisch operiert, nirgendwo hin könnte, behauptete er, er wäre nur im Park spazieren gegangen, da wären vier Ärzte gekommen, hätten ihn mitgenommen und gegen seinen Willen operiert. Plötzlich drehte sich Westentaler um und fragte, ob wir uns überhaupt vorstellen könnten, was die Flasche Granini kostet, nämlich 35 Euro, da dürfe kein Wasser dazu geschüttet werden. Das Nebenbett war leer, plötzlich lag jedoch Andrea drauf und saugte gierig an einem Schlauchmundstück nach Sauerstoff. Sie sagte, dass sie fit sein muss, wenn sie um 5 Uhr bei Magna, wo sie arbeitet, anfängt. Hier auf der Intensivstation machte sie nur Nachtdienste, um sich ihren Urlaub zu verdienen. Am Plafond des Zimmers waren lauter Kreise und Stäbchen aufgemalt. Plötzlich dachte ich daran, wie Andreas Tische auf ihrer Station immer chaotisch waren, als sie in unserem Lokal im Service arbeitete. Ich sagte laut: „Andrea, schau dir deine Tische an, räum’ sofort auf!“
Am Morgen kam Schwester Gerti (für mich Marianne), mit ihr erschien ein junger Mann mit Stehleiter, Mariannes Sohn Daniel, sie trieb ihn an, sich zu beeilen und machte ihn auf noch eine Spinnwebe aufmerksam. Ich fragte: „Was macht denn Daniel hier?“ Sie antwortete: „Ein Praktikum.“ Am Vormittag wurde mir die Logopädin Frau Dr. Bauernfeind vorgestellt. Bildhübsch, und schon war auch Mariannes und Sepps Tochter Carina da. Am Nachmittag besuchte mich erstmals meine Freundin Pepperl, deren Mann Gerald 1991 eine Gehirnblutung erlitt und leider weitaus weniger Glück als ich hatte. Sie riss die Bettdecke in die Höhe und bettelte: „Bitte bewege deinen linken Fuß.“ Bei ihrem Mann waren rechtsseitig massive Lähmungen eingetreten, da er die Blutung links erlitt. Leider funktionierte bei ihm die Rettungskette nicht so optimal wie bei mir.

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Jan Loucka

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