Feuerlilie und Fingerhut

Feuerlilie und Fingerhut

Ein Leben auf Probe

Daniel Andres


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 230
ISBN: 978-3-99131-422-6
Erscheinungsdatum: 16.11.2023
Ein Leben auf Probe. Manuel nimmt immer wieder Anläufe, sieben insgesamt, um sich und sein Leben neu zu erfinden. Wird er dieselben Fehler begehen, oder kann er mit jeder Etappe dazulernen? Und wird er erkennen können, welche Ziele die richtigen sind im Leben?
Vorwort

Es war nicht einfach, dieses Buch zu schreiben. Der Mensch, dessen Leben ich hier beschreiben möchte, ist einfach verschwunden. Ohne die leiseste Vorankündigung. Von einer Reise nicht zurückgekehrt. Er ist an einem frühen Nachmittag im Spätsommer in Samedan in den Zug gestiegen und nie zu Hause angekommen. Ab hier fehlt jede Spur. Ist er irgendwo ausgestiegen, verunglückt, hat er, einer plötzlichen Eingebung folgend, in Zürich einen anderen Zug genommen als den nach Hause oder gar in Zürich ein Flugzeug bestiegen?
Bis jetzt hat es niemand herausgefunden. Es ist nun schon mehrere Jahre her und die Suche nach ihm wurde längst eingestellt.
Ich habe mit seiner Tochter lange Gespräche geführt, die ihn zuletzt ins Engadin begleitet hatte und bei der er vorher eine Woche lang gelebt und Gespräche geführt, mit der anderen, seiner älteren Tochter, Ausflüge unternommen hat. Wir haben zusammen in seinem Computer unter der Datei „Notizen und Fragmente“ viele Texte gefunden, die wir hier verwenden konnten. Einige dieser Texte sind eine Art Tagebucheinträge, andere sind literarische oder „philosophische“ Versuche, die Einblick in sein Denken, seine Vorstellungen, seine Hoffnungen und auch Enttäuschungen geben. Ich habe versucht, daraus seine Lebensgeschichte, mit Ausnahme der frühen Jugend, die er ja selbst in einem kurzen Roman beschrieben hat, zu rekonstruieren und seinem Wesen so nah wie möglich zu kommen.
Er wollte immer, so sagte er „Fußspuren auf der Milchstraße“ hinterlassen. Irgendwann, vielleicht gerade aufgrund der vielen Gespräche mit seinen Töchtern, wurde ihm bewusst, dass alles nutzlos sei. Es gelang ihm einfach nicht, auf irgendeinem Gebiet hervorzutreten. „Mister Nobody“ hatte ihn einmal eine Zeitung betitelt, als er als Politiker eine Rolle zu spielen versuchte, auch dies ohne Erfolg. So fühlte er sich, ein Niemand, ein Nichts, das auch ohne Aufsehen und ohne eine Spur zu hinterlassen abtreten konnte. Ob er einem Unfall zum Opfer gefallen ist, sich selbst umbrachte oder irgendwo abgeschieden und unbekannt weiterlebt, ist daher nicht einmal von Belang. Ich bin seinen Spuren, so gut es ging, nachgegangen, habe in Texten und Erinnerungen gestöbert, mit Freunden und Verwandten gesprochen, ich habe ihn ja selbst lange genug gekannt, um hier ein Porträt zu versuchen. Ein Versuch, einem spurlos Verschwundenen doch noch Spuren zu geben, sein Leben, so gut es eben ging, nachzuzeichnen.



ERSTES BUCH

Der letzte Besuch bei seiner Tochter Andrea lag schon wieder anderthalb Jahre zurück. Sie wohnte mit ihren zwei Buben, neun und zwölf Jahre alt, in einem Tessiner Dorf über dem Luganersee. Damals hatte sie an einem sonnigen Spätnachmittag im Februar vorgeschlagen, in der Nähe eine uralte Kapelle zu besuchen. Sie stiegen in den Wagen und fuhren auf kurviger Straße nach Rovio, dem Nachbardorf. Von der neueren großen Dorfkirche aus dem 17. Jahrhundert führt ein kleiner Weg auf einen Hügel, darauf steht ganz allein die von außen unscheinbare, dem San Vigilio geweihte, romanische Kapelle. Im Innern barg sie byzantinisch inspirierte Fresken aus dem frühen 13. Jahrhundert mit dem Christus, der Madonna und den Aposteln. Blickte man vom kleinen Schiff durch die südliche Tür hinaus, so erschien in den Strahlen der sinkenden Sonne auf dem Hügel unweit Melano die Wallfahrtsstätte Madonna del Castelletto. Lange vor den Christen hatten die Römer und vor ihnen Kelten und andere Völker und Kulturen auf genau denselben Hügeln ihre Heiligtümer errichtet.
Gegenüber erhob sich der Monte San Giorgio. „Ist es nicht erstaunlich“, meinte Andrea, die Biologin, „dass die Versteinerungen von Sauriern in diesem Berg gar nicht von hier, sondern von irgendwo in Zentralafrika stammen und in Jahrmillionen hierher verschoben wurden?“ Die afrikanische und die europäische Platte treffen etwas weiter nördlich, am Lago Maggiore, aufeinander. Die Alpen wachsen, geschoben von den Erdplatten, immer noch. Irgendwann, so sagen Geologen, werden der afrikanische und der europäische Kontinent zusammengewachsen sein.

Ihn hatte schon seit längerem fasziniert, die Geschichte nicht als eine Abfolge von Epochen zu betrachten, sondern wie ein tektonisches Gebilde, in dem Schichten an die Oberfläche gelangen, um dann wieder im Innern der Erde zu verschwinden, aber dann anderswo wieder aufzutauchen.
Der Gedanke, dass keine Epoche einfach abgeschlossen und durch eine andere abgelöst wurde, reizte ihn zu Gedankenspielen. Religionen, Philosophien und Weltanschauungen stülpten sich über frühere Religionen und Weltanschauungen, die in anderer Form weiterlebten und weiterleben. Revolutionen stürzen einen Teil der früheren Zustände, andere Anschauungen bleiben und kommen sogar oft wieder an die Macht. Schon das Alte Testament ist voll von Erzählungen, die aus sumerischer, babylonischer oder ägyptischer Kultur stammen. Im Christentum lebt jüdische Geschichte weiter, der römische Katholizismus hat heidnische Anschauungen aller „bekehrten“ Völker übernommen. Die Französische Revolution hat Europa nachhaltig verändert, aber vorrevolutionäre Zustände wurden in der Restauration wieder hergestellt, später wieder umgestürzt, leben aber in bestimmten Gesellschaftsschichten oder regional weiter. Mit der russischen Revolution war es ähnlich und es ist nicht anzunehmen, dass die Ereignisse von 1989 diejenigen von 1918 mit all den zugrunde liegenden Ideen einfach für immer auslöschen werden. Gedanken leben in den Hirnen weiter, beeinflussen das Tun und Beeinflussen neue Gedanken, ohne dass es den Menschen bewusst zu sein braucht.
Und gibt es nicht selbst in der Erdgeschichte das Phänomen, dass fossile Formen des Lebens neben neueren Formen der Evolution bis heute überleben?
Und ist nicht auch das Leben des einzelnen Menschen ein Übereinanderschichten von Sedimenten, von Ablagerungen aus den einzelnen Lebensabschnitten, die manchmal im Unbewussten wie verschollen sind und plötzlich wieder an die Oberfläche treten und ihre Wirkung entfalten können?

Einige Jahre zuvor, während des Essens nach der Beerdigung einer seiner älteren Schwestern, war es ihm aufgegangen. Er war der Jüngste der Familie mit dreizehn Kindern. Vater und Mutter waren längst gestorben, die Gräber bereits aufgehoben. Er wusste nicht einmal, wohin der Grabstein der Mutter geraten war. Vermutlich zertrümmert und entsorgt. Wenn jetzt Jahr für Jahr eines seiner Geschwister starb, bliebe er eines Tages allein zurück. Vorausgesetzt, ihn ereilte nicht ein Unfall oder eine Krankheit, die ihn vorzeitig dahinraffte. Er würde an allen Bestattungen seiner zwölf Geschwister und natürlich auch ihrer Ehegatten teilnehmen. Teilnehmen müssen.

Nicht unmittelbar, aber nach einiger Zeit, hatte ihn der Gedanke, dass seine Geschwister in den nächsten Jahren nach und nach sterben würden, wieder an seine eigene Familie geschmiedet, an die kleine Familie, die er gegründet hatte, als er ein Vierteljahrhundert alt war, und die nach zwei Jahren bereits in die Brüche gegangen war. Hier erlebte er nicht ein langsames Zuendegehen, sondern das Weiterleben in Kindern und Kindeskindern.

Jetzt war Sommer. Ein sehr heißer Sommer. Von der Terrasse vor der Wohnung seiner Tochter Andrea, mitten im Tessiner Dorf, wo die Tochter lebte und arbeitete, hatte er einen Ausblick auf die Nordflanke des Monte Generoso, aber auch in die Nachbargärten, auf die Dorfkirche und in die Wohnung des jungen Paars, das gleich darunter wohnte. Lehnte er sich leicht nach vorn, sah er senkrecht auf den abendlich gedeckten Tisch. Der junge, sportlich muskulöse Ehemann war vor einer Viertelstunde mit dem Motorrad von Lugano her nach Hause gebraust. Er hatte sich bereits in eine sommerlich leichte Freizeitkleidung gestürzt und ließ sich von der Gattin bedienen. „Richtiger kleiner Macho“, bemerkte Manuel. „Keine Angst“, lachte Andrea, „die Frau weiß sich schon zu behaupten.“

Vorher hatte Erika, seine Ex-Gattin, angerufen. Sie rief oft mehrere Male am Tag an, und die Tochter erfand allerlei Ausreden, um die Mutter abzuschütteln, ohne sie zu verletzen.
Er hatte zwar geglaubt, Andrea ärgere sich auch über ihre Mutter, die, obwohl fast gleich alt wie Manuel, aussah wie ein altes Hutzelweibchen. „Ja“, meinte Andrea, „ich sage ihr auch, sie soll nicht so vornübergebeugt gehen, aber das machen wohl auch die Medikamente, die sie seit Jahrzehnten einnehmen muss.“
Aber Andrea schätzte es, wenn sie mit Arbeit überhäuft oder tagelang beruflich abwesend war, dass Erika ab und zu hierher fuhr, um nach den Kindern zu schauen.
„Und eigentlich“, fügte sie an, „hat Erika einen ganz skurrilen, trockenen Humor, sie kann sich ganz gut über sich selbst lustig machen oder die Marotten anderer Leute so treffend nachahmen, dass wir uns schon gekugelt haben vor Lachen. Und die langen Zugfahrten ins Tessin scheint sie richtig zu genießen.“
Erstaunlich, dachte Manuel. Er war aber ganz froh, dass es Erika vielleicht weniger schlecht ging, als er befürchtet hatte.
Er selber hatte sich gut gehalten. Viele Leute schätzten ihn um Jahre jünger ein, als er wirklich war. Das machte vielleicht der dichte Haarschopf, obwohl das Grau nicht zu übersehen war, auch die für sein Alter glatte, fast jugendliche Haut. Da und dort schmerzte es je nach Wetter mehr oder weniger in den Gelenken oder den Muskeln, das Herz stach schon seit zwanzig Jahren und die Bronchien waren durch jahrelanges Rauchen immer noch entzündet, obwohl er vor fünf Jahren mit dem Rauchen wieder aufgehört hatte. Alkohol genoss er in beinahe homöopathischen Dosen, „lieber teuren Wein und dafür wenig, als billigen Fusel“, pflegte er zu sagen.

Mit der Scheidung hatte sein erstes Leben ein Ende gefunden. Der Versuch, auf geradem und direktem Weg über eine Ausbildung zu einem Ziel und auf eine Karriereleiter zu gelangen, war damit auch gescheitert. Jetzt begannen die steilen und schmalen Serpentinen, auf denen man ausrutschen und in die Tiefe stürzen konnte. Vielleicht hatte sein Scheitern schon vorher begonnen, wenn er sich richtig besann. Vielleicht damit, dass seine Neigung zu jungen Männern in der Öffentlichkeit durchsickerte. Womit sich eine Unsicherheit, die er schon immer, wenn auch fast unmerklich, wahrnahm, stärker bemerkbar machte. Es wurde schwieriger für ihn, sich durchzusetzen. Im Rückblick wurde ihm bewusst, wie verletzlich er schon immer gewesen war, wie stark Kritik ihn beeinflusste und so verunsicherte, dass er oft frühzeitig aufgab und sich zurückzog, anstatt sich an einem Vorhaben festzukrallen.

Er war auf Drängen seiner Lehrer, vor allem des Musiklehrers in der Schule, ins Lehrerseminar in Bern eingetreten. Eigentlich hätte er lieber gleich das Konservatorium besucht, wo er die Aufnahmeprüfung für ein Geigenstudium auch bestanden hatte. Doch nun wurde er Volksschullehrer. Er war als erster seiner Kollegen am Seminar an eine Klasse gewählt worden und zwar gleich in seiner Heimatstadt, wo man doch sonst üblicherweise die ersten Sporen als Schulmeister in abgelegenen Dörfern auf dem Lande verdiente. Er hatte schon während der Seminarzeit am Berner Konservatorium Unterricht in Harmonielehre und Komposition bei einem bedeutenden Professor genossen, vor welchem er fast unendlichen Respekt hatte. Er unterrichtete fünf Jahre lang ein volles Pensum an einer Quartierschule seiner Stadt und studierte gleichzeitig in Bern Orgel und Musiktheorie, beides im Hauptfach. Der Kammerchor, welcher von einem einige Jahre älteren Jugendfreund geleitet wurde, hatte bereits eine Kantate aus seiner Feder aufgeführt, welche der Kompositionslehrer als „vollkommen gelungen“ bezeichnet hatte. Das Konzert wurde vom Radio aufgezeichnet und einige Wochen später gesendet. Da wähnte er sich bereits auf der Straße des Erfolgs.
Lehrerkollegen und Studienkollegen sahen in ihm einen fleißigen, arbeitsbesessenen, zuverlässigen, hoffnungsvollen jungen Mann mit vielversprechender Zukunft. Er war befreundet mit den Kapellmeistern des städtischen Theaters und verbrachte trotz großem Arbeitspensum etliche Zeit im Café Odeon, wo sich außer Uhrenhändlern und anderen Geschäftsleuten der Bahnhofstraße auch Künstler und die sich für intellektuell haltende Jugend aufhielten.
Er hatte auch die militärischen Schulen durchlaufen und war Leutnant der Artillerie geworden.

Er hätte wissen müssen, dass es mit der Heirat mit Erika nicht gut enden würde.
Im Lehrerseminar gab es im Internat andeutungsweise sexuelle Spielchen in den Gemeinschaftszimmern. Ach, das Übliche in geschlechtergetrennten Bildungsstätten. Es entwickelte sich gar eine schüchterne Verliebtheit zu einem kleinen, schlanken, hübschen, nicht unklugen und nicht unmusikalischen Bergler. In den engen Zellen unter dem riesigen Walmdach des alten Internatsgebäudes, wo man Klavier übte, kam man sich näher, als die züchtigen Regeln des Instituts erlaubten. Doch das ergab sich alles mit der Zeit und vor allem mit dem Umzug nach Bern, wo die auswärtigen Schüler private Zimmer bezogen und wo mehrere Schüler und Studenten im Haus über einer Milchhandlung wohnten. Die Witwe des verstorbenen Milchhändlers führte den Betrieb weiter und vermietete das ganze Haus an Schüler und Studenten. Eine italienische Köchin besorgte den Haushalt. Zu den Mahlzeiten stießen noch weitere junge Kostgänger an den Tisch im ersten Stock der Pension.

Das letzte Seminarjahr war reich befrachtet. Im Sommer wurde er für ein halbes Jahr in einem Dorf an einer Oberschule eingesetzt. Es herrschte Lehrermangel und die Seminaristen mussten verwaiste Stellen in den Dörfern besetzen. Neben dem Unterricht in einem abgelegenen Tal – man erreichte es von der kleinen Stadt, in der der Schnellzug anhielt, mit dem Fahrrad quer durch einen großen Wald oder mit einem verlotterten Bähnchen auf krummen Schienen – besuchte er in der Hauptstadt jeden Mittwoch die Orgelstunde und den Kompositionsunterricht. Und dazu wurde er angefragt, ob er die Einstudierung einer musikalischen Komödie in einem Kleintheater an der Kramgasse übernehmen mochte. Selbstverständlich sagte er zu und wähnte sich mit einem Bein in einer Theaterkarriere. Dreimal die Woche fuhr er nach Bern und brachte den Schauspielern ihre Lieder bei, war später bei den Bühnenproben dabei, probte mit einer kleinen Instrumentengruppe und die Premiere rückte näher.
Inzwischen war der sommerliche Einsatz an der Dorfschule zu Ende gegangen und er besuchte das letzte Semester im Seminar. Am Tag der Premiere hätte er mit seiner Klasse auf eine hochoffizielle Kunstreise nach Florenz fahren sollen. Die Tätigkeit am Kleintheater war aber ohne Einwilligung der Schule erfolgt, und so gab es zusätzlich ein Theater an der Schule. Der Direktor sah jedoch gnädigerweise und mit einem Augenzwinkern ein, dass er die Premiere der Komödie nicht wegen einer Schulreise platzen lassen konnte und dispensierte den Schüler von der Kunstreise.

Er liebte die Psychologiestunden mit dem Direktor. Ein unkonventioneller Herr, unverheiratet, dem Whisky zugetan, wie man zu wissen glaubte, der es liebte, seine Schüler ganz leicht zu provozieren. Die Lektionen fanden am späten Nachmittag am Ende des Schultages statt und gingen meist über zwei Stunden ohne Pause, wenn der Dozent gerade in Fahrt war. Er hatte Manuel als Schülervertreter im zweiten Jahr bereits eine Studienwoche gewährt, damals, im ehemaligen Fechthaus, das mit dem Gärtnerhaus den Platz vor dem Konviktsgebäude säumte. Der Direktor bewohnte es ganz allein und empfing abends den sich geschmeichelt fühlenden Jüngling (früher hätte man Zögling gesagt) bei sich. Der Vorschlag war von einem Schüler der obersten Klasse gekommen, Manuel vertrat ihn gegenüber dem Direktor und erhielt schließlich grünes Licht. Die Schüler konnten unter sich Gruppen bilden und sich eine Woche vor den Sommerferien einem einzigen frei gewählten Thema widmen. Manuel fuhr mit vier Kameraden ins Maggiatal im Tessin. Sie schlugen an einem Bach neben dem Dorf Maggia die Zelte auf und studierten dort das Verhalten von Schlangen und Eidechsen. Ein Kenner der Echsen, der in der Nähe wohnte und den Labors in Basel anscheinend Schlangengift lieferte, zeigte ihnen die Orte, an denen man Smaragdeidechsen, Zornnattern und Ringelnattern auffinden konnte. Weiter oben im Tal hätte er sie im Umgang mit Vipern vertraut machen wollen, aber dieser Ausflug fiel wegen regnerischem Wetter buchstäblich ins Wasser.

In einer der Psychologielektionen vertrat der Direktor die Meinung, Künstler dürften sich nicht vom materiellen Erfolg leiten lassen, das sei Gift für ihre künstlerische Entwicklung. Von dieser Ansicht ließ sich Manuel wohl zu wörtlich leiten. Er begegnete dem Direktor später einmal in einem feinen Restaurant in Mammern am Bodensee, wohin er als Offiziersschüler mit den Aspirantenkameraden zu einem schicken Abendessen gefahren war, später in einer Altstadtbar, weil sich der Direktor in eine auch als Kulturjournalistin tätige Lehrerin verliebt hatte und in ihrer Gesellschaft in der Bar die Abende mit Whisky verbrachte, bevor er wenige Jahre später viel zu früh an einem Herzinfarkt verschied.


Die musikalische Komödie wurde ein Erfolg. Sogar mehrere seiner Seminarlehrer klopften ihm nach der Vorstellung auf die Schultern und fanden die Vorstellung „zauberhaft“. Sie hatten sich vorher geärgert über die Selbstherrlichkeit des Schülers, welcher ohne zu fragen musikalische Verpflichtungen eingegangen war.
Gastspiele am Städtebundtheater in Solothurn, Biel und Burgdorf waren vorgesehen. Doch schon bei der ersten Fahrt nach Solothurn für eine sonntägliche Nachmittagsvorstellung hörte er im Autoradio die Mitteilung, die Vorstellung sei abgesagt. Aus technischen Gründen, hieß es. In Wahrheit waren zu wenig Karten im Vorverkauf abgesetzt worden.
Es war der Oktober 1956. In Ungarn waren die Russen einmarschiert, zwischen Ägypten, Israel, Frankreich und England herrschte die brenzlige Krise um den von Ägypten verstaatlichten Suezkanal. Obwohl die Schulleitung es ungern sah, aber nicht verbieten konnte, hatten die Schüler an Demonstrationen gegen die russischen Unterdrücker der freiheitsdurstigen Ungarn teilgenommen und zum ersten Mal in ihrem Leben Tränengas gerochen und sich heiser geschrien. Er hatte sich danach in einem Studentenkomitee engagiert, das sich an Hilfsaktionen für Flüchtlinge beteiligte, die zu Zehntausenden aus Ungarn in die Schweiz strömten und dort voller Bewunderung aufgenommen wurden. Kleidersammlungen wurden organisiert und Geld gespendet. Er hatte mit Beratung von Musiklehrern ein Konzert organisiert, an welchem ein Orchester aus Schülern verschiedener Gymnasien und Seminarien vor viel Publikum in der französischen Kirche in Bern Konzerte von Händel und Vivaldi, aber auch Volksliedbearbeitungen von Belá Bartók spielte und den Erlös den Flüchtlingen zukommen ließ. Ein damals noch junger Musiklehrer am Mädchenseminar leitete das Konzert.

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