Es war einmal ... und es war nicht immer erfreulich

Es war einmal ... und es war nicht immer erfreulich

Eva Herzog


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 118
ISBN: 978-3-99107-563-9
Erscheinungsdatum: 30.08.2021
Gefangen in einer unglücklichen Ehe gibt Silvie ihrem Pflichtbewusstsein den Vorrang und opfert die Liebe ihres Lebens. Gedemütigt, einsam und verloren erkennt sie, dass sie kostbare Lebensjahre verloren hat. Und so beginnt der steinige Weg zurück ans Licht …
Just in dem Moment, als Silvie mit ihrer zehnjährigen Tochter Elsa im Begriff war, das gut besuchte Kaufhaus in der Innenstadt zu verlassen, sah sie sie:
Selina, eine dunkelhäutige Brasilianerin und ehemalige Schulfreundin von ihr.
Damals, als Linz von den Amerikanern und den Russen belagert wurde, besuchten sie gemeinsam die Kreuzschwesternschule. Silvies Eltern hatten es sich in den Kopf gesetzt, nachdem die Tochter eines Kollegen ihres Vaters – ein strenger Polizeiinspektor – diese Schule besuchte, sie ebenfalls dorthin zu schicken.
Wegen ihrer Hautfarbe – ihre Mutter war eine feurige Brasilianerin, ihr Vater ein österreichischer Künstler – wurde Selina aus der Gemeinschaft von den anderen Mitschülern größtenteils ausgeschlossen.
Im jungen Alter von fünf Jahren verlor Selina ihre Eltern durch einen tragischen Unfall und wurde seither von ihrer Oma Hedwig (väterlicherseits) im österreichischen Linz liebevoll aufgezogen. Ihr Bruder Fernando blieb in Brasilien und erweiterte später die von den Eltern errichtete Orchideenaufzucht.
Oma Hedwig, eine lebenserfahrene, warmherzige Person, versuchte Selina das Leben so schön wie möglich zu machen. Sie und ihre Enkelin bewohnten damals unweit der Schule eine kleine, gemütlich eingerichtete, mit einem kleinen Erker versehene Wohnung zur Miete, im ersten Stock in einem renovierungsbedürftigen Haus in der Stockhofstraße.
Einmal in der Woche, wenn in der Schule ein langer Tag am Stundenplan anstand, bekochte Oma Hedwig die beiden Mädels mit einfachen, aber schmackhaft zubereiteten Gerichten, deren Rezepte sie allerdings strikt für sich behielt.
Wenn sie besonders gut aufgelegt war, erzählte sie Selina und Silvie amüsante Geschichten aus ihren eigenen Jugendtagen.
Dann hatte diese schöne, unbeschwerte Zeit eines Tages ein jähes Ende:
Aus für Silvie unverständlichen Gründen – sie war damals ein blondgelocktes, großgewachsenes zwölfjähriges Mädchen – musste sie die streng katholische Schule in Linz im Laufe des Jahres verlassen und in eine in Urfahr liegende überwechseln. Natürlich war das anfangs für Silvie nicht einfach, zumal alles fremd war für sie, und sie sich an die neuen Mitschüler und Lehrkräfte erst gewöhnen musste. Irgendwann erfuhr sie, dass sich ihr Vater von der katholischen Kirche losgesagt hatte, und Silvie nach dessen Bekanntwerden die Kreuzschwesternschule verlassen musste.
So kam es, dass sich Selina und Silvie in kürzester Zeit völlig aus den Augen verloren.
Gelegentlich schrieben sie einander noch lustige Postkarten, aber auch das hörte nach und nach auf.
Mittlerweile waren mehr als zwanzig Jahre vergangen, Silvie war längst verheiratet und Mutter zweier Töchter.
Ihr Mann, ein strebsamer Manager eines großen deutschen Konzerns – der in Österreich eine Niederlassung hatte –, musste oft geschäftlich ins Ausland reisen.
Und so war Silvie hauptsächlich mit Haushalt und Kindererziehung beschäftigt.
Jedem in der ab und zu turbulenten Zeit das notwendige Maß an Erziehung zu geben, sich in keine Auseinandersetzungen der beiden einzumischen und bei auftretenden Problemen verständnisvoll zu reagieren verlangte von ihr ab und zu ganz schön viel Toleranz.
Eines Tages lief Silvie Selina in besagtem großen Kaufhaus in Linz, in dem sie ein paar Nähutensilien für ihre Jüngste besorgte – deren Hobby es war, für ihre Barbie Puppe zu schneidern und die auch später in der Modebranche etwas tun mochte – nach vielen Jahren wieder über den Weg.
An der kaffeebraunen Haut und den dunklen Haaren erkannte Silvie Selina sofort wieder. In Österreich sah man damals ja ganz selten Frauen mit einer etwas dunkleren Hautfarbe, umso größer war jetzt Silvies Freude, Selina nach all den Jahren wieder zu sehen.
Überglücklich rannte sie mit ihren vollbepackten Einkaufstaschen in der Hand, samt ihrer Jüngsten im Schlepptau, auf sie zu.
Zuerst brachte Silvie keinen Ton hervor. Dann rief sie begeistert:
„Ich werd verrückt … Bist du’s wirklich?“
Selina hatte ihre Haare hochgesteckt, und die Lippen dezent geschminkt, sodass ihr bildhübsches Gesicht erst so richtig zur Geltung kam.
Sie trug eine schicke beige Hose und einen dazu passenden Umhang, worin sie aussah wie ein Modell aus einem Modekatalog.
Selina ihrerseits starrte Silvie mit ihren geheimnisvollen dunklen Rehaugen ungläubig an, als sei sie ein Wesen von einem anderen Stern.
„Was ist, kennen wir uns?“, fragte sie und sah Silvie skeptisch an, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, wer da vor ihr stand. Es war ihr anzusehen, dass sie sich im Moment ein wenig überrumpelt fühlte.
„Aber ja“, versuchte Silvie Selina an sich zu erinnern, „wir sind doch seinerzeit zusammen in die Kreuzschwesternschule gegangen!“
Selina schien zu überlegen und sah Silvie noch immer unsicher an.
„Na, sag einmal, kennst du mich wirklich nicht mehr? Ich bin’s, Silvie, deine ehemalige Schulfreundin. Wir beide sind doch damals in der Klasse in ein und derselben Schulbank gesessen oder haben gemeinsam den Unterricht geschwänzt, um irgendwo Unfug zu treiben. Also weißt du, jetzt bin ich schon ein wenig enttäuscht. Hab ich mich tatsächlich so verändert, dass du mich nicht mehr erkennst?“
Nachdem Selina Silvie immer noch argwöhnisch betrachtete, versuchte Silvie erneut, ihr auf die Sprünge zu helfen:
„Weißt du es nicht mehr? Zu deiner Oma Hedwig durfte ich auch manchmal mit. Wie geht es ihr eigentlich? Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie immer ein paar in buntes Seidenpapier eingewickelte Zuckerl in ihrer geblümten rechten Kleiderschürzentasche parat.“
Leise fügte Silvie hinzu: „Mittlerweile muss sie ja schon eine hochbetagte Dame sein. Lebt sie überhaupt noch?“
Kaum erwähnte Silvie Oma Hedwig, hatte sie den Eindruck, dass sich Selina lieber einem anderen Thema zuwenden würde.
Plötzlich lächelte Selina. „Das gibt’s doch gar nicht! … Das ist mir jetzt aber richtig peinlich, aber ich hätte dich momentan wirklich nimmer erkannt, Silvie!“, beteuerte Selina etwas verlegen.
„Ist doch überhaupt kein Problem. Wir sind schließlich alle älter geworden, ich, du, wir alle“, meinte Silvie lachend.
„Aber ja“, kam prompt die Antwort. „Jetzt erinnere ich mich genau. Haben wir dich seinerzeit nicht immer die Lange genannt, weil du so hoch aufgeschossen und spindeldürr gewesen bist?“
„Ich weiß, ich war viel größer als die anderen meines Alters. Ich war so dünn, dass sich jeder über mich lustig g’macht hat. Manche meinten sogar, dass ich mich locker hinter einem Telegraphenmast hätte verstecken können“, erwiderte Silvie und seufzte.
„Aber wie du siehst, hat sich meine Statur mittlerweile geändert“, meinte sie nach einer Weile und betrachtete verstohlen in einer gegenüber liegenden Spiegelwand ihre Figur.
„Ich hoffe nur, dass ich die Gene von meinem Vater und nicht die meiner Mutter geerbt habe. Die hatte nämlich ganz schlimme Gewichtsprobleme, als sie dann älter wurde. Auch meine Oma hatte zeitlebens mit ihren Kilos zu kämpfen.“
Silvie erinnerte sich plötzlich daran, dass Selina nie zu der Mädchengruppe gehört hatte, die in der Klasse den Ton angab. Oft wurde sie in der Schule von den Mitschülern wegen ihrer Hautfarbe gehänselt und ihr das Leben schwer gemacht. Sie wurde zwar öfter zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, aber mehr aus Mitleid, wie ihr heute bewusst war.
Plötzlich bekam Selina einen etwas traurigen Gesichtsausdruck.
„Ach ja, meine von mir heißgeliebte Oma ist schon vor etlichen Jahren an gebrochenem Herzen gestorben. Sie hat den frühen Tod ihres einzigen Kindes nie so richtig überwinden können.“
Fast unhörbar, mehr zu sich, murmelte sie:
„So eine warmherzige Oma gibt es nur einmal.“
„Und wie ist es dir selber in all den Jahren sonst so ergangen?“, wollte Silvie ablenkend wissen. „Es ist schon so lange her, seit wir zueinander Kontakt hatten.“
Selina zögerte einen Moment, atmete tief durch, räusperte sich und, ohne es vielleicht wirklich zu wollen, begann sie aus ihrem bisherigen Leben zu erzählen:
„Nach der Grundschule absolvierte ich eine Ausbildung zur Tierpflegerin. Anschließend arbeitete ich in einer großen Tierarztpraxis, wo ich meinen jetzigen Ehemann Herbert, meine erste große Liebe, kennengelernt habe.“ Mehr zu sich selbst seufzte sie, „und damit fing eigentlich die ganze Misere an.
Herbert, der jüngere Sohn einer angesehenen Arztfamilie in dem Ort, in dem wir leben, war der Mann meiner Träume. Groß, gutaussehend und äußerst charmant.
Nach einer prunkvollen Hochzeit wurde uns das oberste Stockwerk mit wunderschönen Wohnräumen, eigenem Bad, eigenem Ankleideraum und einiges mehr in der schönen mehrstöckigen Villa – in der ich mich aber komischerweise nie sonderlich wohlgefühlt habe – zur Verfügung gestellt.
Meine Schwiegereltern und andere Familienmitglieder bewohnen derzeit die unteren Räumlichkeiten dieser herrschaftlichen Villa. Ein traumhaft schön angelegter Garten, in dem ich mich ganz gern aufhalte, entschädigt mich aber für vieles.
Das Zusammenleben mit der Familie meines Mannes ist trotzdem nicht immer einfach“, ergänzte sie und seufzte tief auf.
„Und … und hast du Kinder?“, wollte Silvie weiter wissen.
Nach dieser Frage hatte Silvie den Eindruck, dass sie sie besser nicht hätte stellen sollen, denn Selina bekam auf einmal feuchte Augen.
„Leider war es mir nach meiner Fehlgeburt nicht vergönnt, weitere Kinder zu bekommen. Mein Sohn wäre jetzt elf Jahre.“
Nachdem sie dann Elsa eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, meinte sie: „Wer weiß, vielleicht ist es eh besser so. Meine Schwägerin hat mit ihrer dreizehnjährigen Tochter zurzeit ständig Probleme. Mir ist es ab und zu direkt peinlich, ihre Streitereien mitanhören zu müssen.“
Da Silvie aus eigener Erfahrung wusste, dass das Verhältnis „Mutter-Tochter“ – besonders in diesem Alter – oft ganz schön schwierig sein kann, ging sie jetzt nicht näher drauf ein.
Es war kurz nach drei am Nachmittag, als Silvies Blick zufällig auf eine Orientierungstafel fiel: „Was hältst du davon, wenn wir im Untergeschoß einen Kaffee oder sonst was trinken?“ Und an ihre Tochter gewandt meinte sie: „Wenn du willst, kannst du heimgehen, ich komme dann später nach!“
Nachdem das geklärt war und Elsa sich von Selina verabschiedet hatte, fuhren Selina und Silvie hintereinander mit einer Rolltreppe nach unten ins Erdgeschoß und betraten eine kleine Cafeteria. Silvie zog Selina mit sich in die hinterste Ecke des Lokals. Dort setzten sie sich an den letzten kleinen runden Tisch. Eine freundliche rothaarige Bedienung kam auf die beiden Frauen zu und fragte, was sie denn Gutes tun könne. Nachdem Silvie und Selina ihre Bestellung aufgegeben hatten, schaute Selina Silvie etwas verzweifelt an und blickte dann unsicher auf ihre gepflegten Hände.
Einen Moment lang herrschte Stille. Silvie hatte den Eindruck, dass Selina offenbar Schwierigkeiten hatte, die richtigen Worte zu finden. Sie war momentan nicht ganz sicher, ob sie jetzt nachfragen oder es Selina überlassen sollte, wieviel sie noch von sich preisgeben wollte.
Nach einer Weile des Schweigens seufzte Selina und fing an, stockend von ihren Erlebnissen weiter zu erzählen:
„So sehr ich mich bemühe, ich kann es einfach niemandem recht machen. Weil ich etwas andersfarbig bin, bin ich in deren Augen wahrscheinlich nicht würdig, und man lässt mich das bei jeder Gelegenheit spüren. Wie ein Schlag ins Gesicht war es für mich, als sie anfingen, mir meine Herkunft zum Vorwurf zu machen: Du bist und bleibst die Tochter deiner Mutter.
Alle agieren sie entweder offen oder hinter meinem Rücken gegen mich. Nach und nach ist es ihnen regelrecht gelungen, mir Minderwertigkeitskomplexe wegen meines Aussehens einzubläuen.
Mein Mann, der zwischen den Fronten steht, ist mir natürlich auch keine wirkliche Hilfe. Von Zeit zu Zeit wird es immer unerträglicher, meine depressive Stimmung zu überspielen.“ Nach einem tiefen Seufzer fuhr sie fort:
„Ich mach mir ja selbst den Vorwurf, dass ich seinerzeit diesen verdammten Job angenommen hab! Aber im Traum hätte ich nicht daran gedacht, dass das alles einmal solche Formen annehmen würde! Ich war schon oft nahe dran, alles hinzuschmeißen und einfach davonzulaufen, so belastend ist es zeitweise für mich.“
Interessiert hörte Silvie Selina zu.
Ohne Vorwarnung musste sie sich in kürzester Zeit so eine unglaubliche Lebensgeschichte anhören. Kopfschüttelnd langte sie in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch und schnäuzte sich lautstark, bevor sie betroffen fragte:
„Kann ich … kann ich irgendetwas für dich tun? Hast du denn niemanden, mit dem du über deine Probleme reden kannst?“ Es tat ihr aufrichtig leid, dass Selinas Leben so dramatisch verlaufen war.
Selina unterdrückte einen Seufzer und sagte stockend, nachdem sie einen Schluck Kaffee zu sich genommen hatte:
„Um die Frage zu beantworten: Nein, ich hab eigentlich außer Herbert keine Menschenseele. Keine Freunde, keine Kinder … zu denen ich ab und zu gehen könnte …
Mein Bruder lebt mit seiner Familie in Brasilien. Wir haben nur zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Weihnachten telefonischen Kontakt zueinander. Ansonsten nur per Brief.“ Selina räusperte sich und begann umständlich aus ihrer Handtasche ein Taschentuch hervorzuholen, bevor sie mit ihrer Erzählung fortfuhr:
„Meinen Beruf musste ich natürlich nach der pompösen Hochzeit aufgegeben … Als Mitglied einer angesehenen Arztfamilie geziemt es sich nicht, arbeiten zu gehen, meinten sie. Eines Tages schlug Herbert sogar aus heiterem Himmel eine Trennung vor. Nachdem ich innerlich darauf vorbereitet war, seinen Scheidungswünschen zuzustimmen, wollte er plötzlich über dieses Thema nichts mehr wissen.
Das geht nicht, meine Mutter würde mit einer Trennung niemals einverstanden sein! Eine Ehe ist was für die Ewigkeit und wird nicht so einfach geschieden. Außerdem, was würden die Leute sagen, die zeigen mit den Fingern auf uns, ist ihre Meinung.“
Es war seltsam … Unwillkürlich musste Silvie an ihre eigene Schwiegermutter denken. Für sie war Silvie auch stets ein unbeliebter Eindringling, der versucht, ihr ihr einziges Kind wegzunehmen. Oft hatte sie Silvie vor Augen gehalten, was für ein Glück sie hätte, einen Mann aus einer intakten Familie zu bekommen.
Zugegeben, Silvies Familie waren alles andere als perfekt. Ihre Eltern ließen sich nach jahrelangen Streitigkeiten endlich scheiden. Silvies Mutter bezog nach der Trennung am Rand der Stadt mit ihr eine Altbauwohnung.
Ihre fünf Jahre ältere Schwester Eva hatte damals relativ bald das zerrüttete Elternhaus verlassen und fand in der Schweiz eine zweite Heimat und heiratete dort einen netten Uhrmacher.
Vater Konrad zog mit seiner neuen, zehn Jahre jüngeren Lebensgefährtin in eine andere Stadt.
Silvie erinnerte sich plötzlich an die Zeit, in der sie und ihr Mann noch nicht verheiratet waren und in der von ihrer zukünftigen Schwiegermutter mit einer Selbstverständlichkeit am Wochenanfang bestimmt wurde, wie und wo das Wochenende verbracht wird. Silvie, damals noch sehr jung, fühlte sich stets überrumpelt, sah aber keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, ohne unhöflich zu werden.
„Ich konnte nie sicher sein, ob mir bei Gelegenheit nicht Ähnliches wie dir jetzt widerfahren würde“, meinte Silvie nachdenklich.
Selina schaute Silvie einen Augenblick kopfschüttelnd an, dann redete sie weiter:
„Zurzeit gebärdet sich ja Herbert mir gegenüber wie ein kleiner hilfloser Junge. Mit seiner dick aufgetragenen Verzweiflung über diesen unglückseligen Zustand hat er natürlich wieder mein Mitleid mobilisiert. Er will sich aber einfach nicht damit abfinden, dass es so nicht weitergehen kann. Obwohl sein derzeitiges Gehabe irgendwie aufrichtig wirkt, sind meine Gefühle äußerst gespalten.
Einerseits triumphiere ich innerlich, anderseits hab ich Bedenken, ob er stark genug ist, sich je vor seiner Familie zu behaupten. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie mich das alles belastet!“
Selinas große braune Augen wurden bei diesen Worten immer trauriger. „Eines ist aber sicher. Wenn sich nicht bald etwas ändert, lasse ich mich von einem guten Rechtsanwalt beraten. Danach sehen wir weiter.“
Die Enttäuschung über ihr derzeitiges Leben stand Selina ins Gesicht geschrieben. Diese gepflegte junge Frau war eine durch und durch enttäuschte und einsame Person, das konnte Silvie deutlich spüren.
Sie war das Opfer von enormen Ungerechtigkeiten. Silvie tat es echt leid, dass Selina das alles durchstehen muss. Unter den gegebenen Umständen war sie sich sicher, ein gutes Werk zu tun, wenn sie sich ein wenig um Selina kümmern würde.
„Darf ich dir einen Vorschlag machen, Selina?“, fragte Silvie nach einer Weile.
„Du solltest dich zunächst einmal mit einem guten Psychologen unterhalten. Der hört dir zu, dem kannst du deine verzwickte Lage – so wie sie ist – darlegen … der ist zum Schweigen verpflichtet und, was ganz wichtig ist, der könnte dir bestimmt auch einige Tipps geben, wie du dich künftig deinem Mann und seiner Familie gegenüber verhalten sollst. Zur Not kannst du dann immer noch einen Anwalt zuziehen“, schlug Silvie nachdenklich vor.
„Du willst dir das alles doch nicht ohne weiteres gefallen lassen? Schließlich hast du Rechte.“
Selina setzte sich aufrecht in ihren Stuhl hin, trank einen Schluck aus ihrer Tasse, um Zeit zu gewinnen, und sagte dann mit entschlossener Stimme:
„Das werde ich tun, da kannst du sicher sein!“
Selinas Hauptproblem war das Geld. Ihr war klar, dass es schwierig sein würde, in ihrem Alter noch eine passende Stelle in einer anderen Tierpraxis zu bekommen.
„Und … und wovon würdest du in Zukunft leben?“, fragte Silvie, als könnte sie Selinas Gedanken lesen.
„Ich kann mir vorstellen, dass diese Herrschaften dir das Leben zur Hölle machen würden“, versuchte Silvie Selina dahingehend aufmerksam zu machen.
Selina zuckte mit den Achseln. Am Ende ihrer Weisheit angelangt, seufzte sie und hatte Tränen in den Augen:
„Ich hab keine Ahnung, wie es weitergeht! Jedenfalls hab ich mir geschworen, dass ich so nicht weiterleben mag … und auch nicht kann!“
„Gut, dass du es selbst so siehst“, meinte Silvie spontan. „Du wirst dir doch nicht von diesen eiskalten Leuten reinreden lassen!“ Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr sagte sie: „Sei nicht böse, aber ich muss jetzt los, ich hab noch allerhand zu erledigen. War schön, dich mal wiederzusehen. Es würd mich aber freuen, wenn wir uns demnächst wieder auf einen Plausch treffen würden. Vergiss nur nicht, dich psychologisch beraten zu lassen“, mahnte Silvie mit Nachdruck.
Selina dachte eine Weile nach, dann fragte sie:
„Meinst du wirklich, dass ich das tun soll?“ Dabei schaute sie Silvie ratlos an.
Relativ forsch meinte Silvie:
„Na, recht begeistert scheinst du nicht zu sein! Aber es muss jetzt dringend etwas geschehen, Selina! Lass dein Mitgefühl nicht weiter von Leuten manipulieren, die im Grunde nur egoistische Ziele verfolgen. Mach endlich etwas, worüber du dich freuen kannst! Du musst dich aus dieser belastenden Situation befreien.“ Silvie atmete mehrmals tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben.
„Schau mal, ich will dir doch nur helfen, die Dinge klar zu sehen“, gab Silvie zu bedenken.
„Wenn ich dich also richtig verstehe, sollte ich erst einmal mit so einem Seelenklempner reden?“, wiederholte Selina. „Ist das wirklich ernst gemeint?“, vergewisserte sie sich noch einmal.
„Dass du das fragst“, erwiderte Silvie und schaute sie aufmunternd an, „sagt mir, dass ich Recht habe!“
„Na ja, wenn du das so siehst“, seufzte Selina. Irgendwie fühlte sie sich nach diesem Gespräch erleichtert.
Um so ein Wunder wie dich, Silvie, hab ich Gott schon immer gebeten, sagte Selina zu sich. Laut sagte sie an Silvie gerichtet: „Ich bin ehrlich froh, dass du mir zur Seite stehst!“

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