Es kann die Bravste nicht in Frieden leben

Es kann die Bravste nicht in Frieden leben

Lilien Mergner


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 306
ISBN: 978-3-99048-222-3
Erscheinungsdatum: 13.10.2015

Leseprobe:

Ein Bauernhof Anfang Februar 1945 ?in Thüringen

Endlich hatte die Kleine das geeignete Versteck gefunden. Sie kroch zwischen den Zweigen hindurch – „Au! Mist!“ Da war ein Stück von der Schürze am Dorn hängen geblieben – das gab wieder tüchtigen Ärger mit Mama. Dann rutschte sie und landete in einer kleinen Kuhle, die beim Sturz des riesigen Baumes nach einem gewaltigen Unwetter entstanden war.
„Hier findet uns keiner“, flüsterte sie ihrer Puppe zu und drückte sie eng an sich. „Aber trotzdem musst du ganz still sein. Großmutter hat bisher alle Verstecke gefunden. Der liebe Gott hat ihr bestimmt hinten auch Augen gegeben, die aber keiner sehen kann. Wenn sie sich ihre Haare wäscht, schaue ich immer genau hin, ob ich vielleicht doch das Geheimnis herausbekomme, wie sie hinten sehen kann. Da, hörst du? Da ruft sie schon wieder. Ich soll beim Kühe Füttern helfen und das Futter für das Kleinvieh mischen. Pscht! Sei ganz still!“
„Wo ist denn dieses kleine Luder wieder?“, ertönte jetzt die energische Stimme der Mutter. „Hast du ihr nicht gesagt, was sie bis abends noch zu machen hat?“
„Gönne ihr doch ein paar Minuten Pause, Jenny. Sie ist erst fünf Jahre alt. Da haben wir ihr zu Weihnachten deine alte Puppe zurechtgemacht und geschenkt, und sie hat keine Zeit, damit zu spielen.“
„Kann ich etwas dafür, wenn die Männer unbedingt Krieg spielen müssen, irgendwelchen Feinden nachjagen, die keiner kennt und die ihnen wahrhaftig nichts getan haben, wenn diese Männer dann nicht mehr nach Hause kommen?! Da müssen wir Frauen eben alles alleine bewältigen, egal wie alt wir sind!“
Großmutter Alma sah ihre Tochter an. Sie hatte ja so recht. Die schönsten Jahre des Lebens stahl man den Kindern und den jungen Frauen. Durch das magere Essen und die schwere körperliche Arbeit war ihre Jenny dürr wie eine Zaunlatte. Man musste schon sehr genau hinschauen, um etwas Weibliches an ihr zu entdecken. Dabei lebten sie auf dem Dorf, wo die Hühner trotz Krieg noch Eier legen, wo es Milch gab und man ab und zu sogar heimlich ein Schwein schlachten konnte, wenn man an die verfluchte Nazi-Regierung abgegeben hatte, was sie verlangte, um die übrig gebliebene Bevölkerung zu ernähren. Der Zweite Weltkrieg ging nun schon ins sechste Jahr, und die Nachrichten wurden von Tag zu Tag besorgniserregender. Wie musste es erst den armen Frauen in der Stadt gehen, bei denen der Hunger ständiger Begleiter war. Eine furchtbare Zeit war das. Und dieser verdammte Krieg war immer noch nicht zu Ende. Dabei waren schon so viele Männer gefallen. Die Bauernhöfe waren vor Kurzem noch von der SS durchsucht worden, um alle Männer, sogar Jungen, die kaum dreizehn Jahre alt waren, aufzustöbern. Nachbars Michael war gewaltsam seiner Mutter entrissen worden, die den Jungen versteckt hatte. Sie hatte ihn im Heuschober vergraben, ein getarntes Ofenrohr hatte das Atmen erleichtern sollen. Doch ein plötzlicher Schrei hatte alle ihre Hoffnungen platzen lassen. Mit Gabeln im Heu stochernd, hatten sie ihn fast aufgespießt. Aber er war nur wenig verletzt worden, zu wenig, um als dienstuntauglich eingestuft zu werden. Es war grotesk, diese Kinder in Uniformen zu stecken, welche an den dünnen, winzigen Körpern herumschlotterten und von den weinenden Müttern eiligst etwas zurechtgenäht wurden, ehe man die armen kleinen Opfer abholte. Und diese halb verhungerten Jammergestalten sollten sozusagen die „Karre noch aus dem Dreck ziehen“ und den Nazitraum retten? Großmutter Alma konnte sich nur an den Kopf greifen, sah sich aber vorsichtshalber dabei um. Jeder vernünftig denkende Mensch wusste, dass der Krieg längst verloren war – aber sagen durfte man es niemandem – nicht einmal innerhalb von Familien. Sie kannte bereits einige, die sogar von der eigenen Verwandtschaft denunziert worden waren, weil sie Hitler und seinen Wahnsinn verflucht hatten. Vor Morgengrauen waren die Ärmsten abgeholt worden; und niemand wusste, wohin man sie gebracht hatte – womöglich in dieses geheimnisvolle Lager Buchenwald, gleich hier in der Nähe bei Weimar, in welchem Juden, Zigeuner und Verbrecher eingesperrt waren, alles Staatsfeinde oder Untermenschen, wie der hiesige Gauleiter behauptet hatte. Ab und zu raunten sich die Leute zu, was für schreckliche Dinge sich dort abspielten, aber etwas Genaues wusste man nicht.
Ein hoher Zaun verwehrte Neugierigen den Einblick. Und irgendwie wollte man es gar nicht wissen, was dort geschah. Man hatte schließlich seine eigenen Probleme, die sich mehr und mehr vergrößerten. Trotzdem waberten immer wieder Gerüchte durch Weimar, durch Apolda und die umliegenden Dörfer.
„Und doch ist der Krieg verloren“, murmelte die Großmutter verbittert. „Schon als im vorigen Jahr die britischen Bomber die Thüringer Rüstungsbetriebe angriffen, ist den vernünftigen Leuten klar geworden, dass jetzt die große Abrechnung kommt.“
Über den englischen Sender, der in mehreren Sprachen über den Äther die neuesten Informationen verbreitete und den sie heimlich hörten, erfuhren sie, dass auch über Hamburg und Peenemünde verheerende Luftangriffe erfolgt waren.
Ebenfalls über diesen Sender hatten sie erfahren, was an der Ostfront vor sich ging: Die letzte Stellung der 6. Armee hatte sich hungernd und halb erfroren in Stalingrad den sowjetischen Truppen ergeben.
Großmutter Alma kochte vor Zorn. Und was hatte daraufhin Propagandaminister Goebbels von sich gegeben? „Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen und totalen Sieg des deutschen Volkes?! Wir verlangen vom Gegner die bedingungslose Kapitulation! Seid ihr entschlossen, dem Führer bei der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen?!“
Alma stellten sich die Haare auf, wenn immer noch die hysterischen Schreie der Massen ihr Bewusstsein ausfüllten. „Jaaaa!“
Die Nazis entwickelten auf Hochtouren die geheimnisvolle neue Wunderwaffe Vz. Diese Raketenbomben sollten den Deutschen Vergeltung gegen alle Feinde verschaffen, die Schmach von Verlusten tilgen: Auge um Auge! Bombe um Bombe! Und die Leute grölten: „Jaaaaa!“
Wie ernst die Lage war, wurde Alma bewusst, als in ganz unmittelbarer Nähe ein Luftangriff der Amerikaner erfolgte, auf das Rüstungswerk Buchenwald. Dreihundert Häftlinge, die Waffen produzieren mussten, kamen dabei ums Leben. Und diese Naziverbrecher glaubten immer noch an die Wunderwaffe – wollten die Menschen an ein Wunder glauben lassen.
Der Luftkrieg war schon Ende 1943 mit voller Wucht über Mitteldeutschland hereingebrochen, wo sich viele große Waffenproduktionsstätten befanden. Hier wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit Kriegswaffen entwickelt und hergestellt: Motoren für Panzer, Bombenflugzeuge und Kriegsschiffe, unvorstellbare Mengen an Stahlhelmen. In Dessau produzierten die Junkerswerke Sturzkampfbomber. Aus Plauen und Zwickau kamen Panzer und Kraftfahrzeuge. Der Luftkrieg zur Zerstörung dieser Werke war in vollem Gange. Die mitteldeutsche Rüstungsschmiede war seit Langem bereits Kriegsschauplatz. Die Gauleiter hatten unter Strafandrohung der Bevölkerung befohlen, keine Lichter mehr anzuzünden und alles zu verdunkeln, damit die Feinde sich nicht orientieren und die großen Städte bombardieren konnten.
Daraufhin legten auch Alma und Tochter Jenny jeden Abend die Fensterläden vor und dichteten alle Lichtquellen ab. Beim Schein von Kerzen flickten sie die Arbeitskleidung und nähten für die kleine Marita, die viel zu schnell wuchs, aus Jennys alten Kleidern neue Garderobe. Jenny brauchte sowieso kein Kleid mehr, da sie nur noch schwer arbeitete und die festen Hosen und Joppen ihres verschollenen Mannes trug.
Die Lebensmittel wurden immer knapper. Kartoffeln und alles Gemüse aßen sie nur noch mit Schale. Alle Gerichte verlängerten sie mit Brennnesseln, Löwenzahn, Miere, Brunnenkresse und anderen Kräutern und Wurzeln. Rüben dienten nicht nur als Tierfutter, sondern die Frauen übten sich an vielerlei Möglichkeiten, sie einigermaßen schmackhaft zu kreieren.


Flüchtlinge

Jäh wurde Großmutter Alma aus ihren Gedanken gerissen.
Menschen näherten sich dem Gehöft und Alma erkannte sofort, was das für arme Kreaturen waren. Wahrscheinlich kamen diese heruntergekommenen Familien aus der Stadt, weil der Hunger sie in die Dörfer trieb. Als die abgerissenen Gestalten sich näherten, stutzte sie. Diese Leute waren anders gekleidet, trugen mehrere zerschlissene Kleidungsstücke übereinander, um sich vor der Kälte zu schützen. Eine leichte Schneedecke hatte das Land überzogen und ein eisiger Wind wehte.
Langsam, scheu um sich blickend, kamen die Menschen näher. Es waren fast nur Frauen und Kinder. Die Blicke der Frauen waren leer. Sie, die gewiss einmal bessere Zeiten gekannt hatten, vielleicht gebildet waren oder gar studiert hatten, demütigten sich hier, um ihre Kinder am Leben zu erhalten. Ein alter Mann, der vor Schwäche kaum noch auf den dünnen Beinen stehen konnte, deutete zögernd eine Verbeugung an, ängstlich auf den Hofhund Wotan blickend, der knurrend näher gekommen war, sich aber gleich wieder zurückzog. Großmutter hatte für einen Augenblick den makabren Gedanken, dass Wotan für solche dürren Knochen keinen Bedarf hatte. Er erhielt nahrhaftere. Weil Alma so fassungslos verharrte, kam eine Frau näher und hielt ihr ein Armband entgegen – für ein wenig Essen. Schnell schob Alma die Hand zurück. Sie wusste, dass manche Bauern aus dem Dorf den Bettlerinnen aus der Stadt Uhren, Schmuck und andere kleine Besitztümer abnahmen, für ein Stück Brot, ein wenig Milch und ein paar Eier.
Nach der ersten neugierigen Begutachtung winkte sie die Leute heran und führte sie in die Scheune. Mit Hilfe von Tochter Jenny breitete sie Decken über Heubündel, auf denen sich die armen Menschen erschöpft niederließen. Während Jenny Tee und einen großen Topf voll Hühnerbrühe kochte, fragte Alma den Alten aus und stellte fest, dass er einen merkwürdigen Dialekt sprach.
„Wir sind Flüchtlinge aus dem Ostpreußischen. Wir wurden von Stalins Truppen verjagt und durften fast nichts mitnehmen. Wer nicht freiwillig gehen wollte, wurde sofort erschossen. Wir sind bis nach Thüringen gegangen, weil die nördlichen Bereiche Deutschlands die Flüchtlinge kaum noch aufnehmen konnten – oder wollten“, fügte er verbittert hinzu.
Inzwischen schleppte Jenny Kübel mit heißem Wasser in die Scheune und schüttete sie in den Bottich, den Alma bereitgestellt hatte, damit die Erwachsenen sich reinigen konnten. Sie legte zwei Stücke Kernseife bereit, Waschlappen und große Tücher. Dann forderte sie die sieben Kinder auf, mit ihr zu kommen. Die zwei jüngsten klammerten sich an ihre Mütter und weigerten sich wimmernd. Großmutter nahm das kleinste, das sich heftig sträubte, kurzerhand auf den Arm. Das andere gab sie einem größeren Mädchen an die Hand. So brachte sie die Kinder in die Küche. Das war der einzige warme Raum, denn auch mit Holz und Torf musste gespart werden. Auf dem Tisch stand ein Waschzuber. Sie setzte die Kleinen abwechselnd hinein und weichte mühevoll den Schmutz von den mageren Körpern ab.
Den Größeren gab sie Lappen und ließ sie ihre Fetzen ablegen.
Wieder einmal rief Großmutter Alma den Herrgott an, dass er sich dieses Drama anschauen sollte: die Kinder, zitternd vor Kälte, mit Lumpen am Körper, die Köpfchen voller Läuse, Grind und Ausschlag im Gesicht.
„Lieber Gott“, betete sie, „wir Deutschen sind schuldig geworden und haben viele deiner Gebote missachtet, und du hast recht, wenn ‚die Rache dein ist‘ und wir für unsere Sünden bluten müssen. Doch du hattest damals zugelassen, dass die Priester, deine Stellvertreter auf Erden, diesen Krieg und die Soldaten segneten. Dir Allwissendem kann es doch nicht entgehen, dass Kriege aus Menschen Mörder, Diebe, Vergewaltiger und Verbrecher machen. Und deine Stellvertreter auf Erden segneten sie, bevor sie andere Länder überfielen. Wie kannst du jetzt, wo schon so viel Blut geflossen ist, mit ansehen, wie diese unschuldigen Kleinen jämmerlich zugrunde gehen?“ Und bei ihrem Anruf des Herrgotts wurde Alma mit einem Mal bewusst, wie viele Kinder in den von Deutschland überfallenen Ländern bereits ein ähnliches und viel schlimmeres Schicksal erlitten hatten und noch erlitten. Was waren Menschen nur für grausame Bestien! Und Alma flehte Gott an, dass diese armen Kinder, wenn sie noch am Leben waren, auch jemanden finden würden, der ihnen half.

Die kleine Marita hatte mit ihrer Puppe Paula ihr Versteck verlassen und war neugierig näher gekommen. Aus sicherer Entfernung betrachtete sie mit großen Augen das Geschehen. Sie lächelte ein Mädchen an, welches ungefähr in ihrem Alter war. Betroffen musste sie feststellen, dass das bleiche, dünne Mädchen bitterernst blieb, und Marita hatte den Eindruck, als könne das Mädchen gar nicht mehr lachen. Die Großmutter winkte ihr unmissverständlich, gab ihr einen Korb und wies sie an, im Keller Kartoffeln zu holen, obwohl der kleine Vorrat zusehends schwand und noch bis zur nächsten Ernte reichen musste. Auch ein paar der letzten verschrumpelten Äpfel sollte Marita mitbringen. Dabei murmelte die Großmutter einen ihrer Sprüche: „Geben ist besser als nehmen.“
Die Kleine schlüpfte durch ein Regal, welches vor der Kellertüre stand und mit Arbeitskleidung behängt war, damit niemand ohne Weiteres erkennen konnte, dass sich hier der Eingang eines zweiten Kellers befand. In diesem waren Lebensmittel versteckt, auf die die Nazis keinen Zugriff haben sollten.
Plötzlich stutzte Marita und blieb verwundert stehen. Hier war auf einmal alles ganz anders als bei ihrem letzten Kellerauftrag vor ein paar Wochen. Im Allgemeinen ging immer nur Großmutter in diesen Keller. Verwundert registrierte Marita die Veränderungen.
Da lagen Strohballen, ordentlich nebeneinander. In der Ecke stapelten sich Decken, exakt übereinander geschichtet. Neugierig geworden blickte sie sich um. Sie entdeckte auf einem alten Tisch Geschirrtücher, die etwas verdeckten. Obwohl Marita daran gewöhnt war, Aufträge sofort ordentlich auszuführen, überwog der Trieb der Neugierde. Sie hob das Tuch hoch und sah fasziniert eine Reihe von Bechern aus Blech, fein ordentlich nebeneinander aufgereiht. Daneben stand ein Stapel Teller. Marita zählte: sieben. „Wie bei den sieben Zwergen“, murmelte sie erfreut. „Wer hat aus meinem Becherchen getrunken? Wer hat mit meinem Löffelchen gegessen?“
Die Phantasie übermannte sie. Sie glaubte, dass sie Schneewittchen von den sieben Zwergen sei, und war so verwundert, dass sie beinahe vergaß, was sie zu tun hatte. Der energische Ruf der Großmutter brachte sie schnell in die Wirklichkeit zurück, und sie erfüllte schleunigst ihren Auftrag. Bevor sie die Großmutter über ihre Entdeckungen befragen konnte, fuhr ihr beim Blick auf sie der Schreck durch alle Glieder, und ihre Frage blieb im Hals stecken.
Großmutter, die doch immer wie ein Fels in der Brandung war, herrisch, alles bestimmend, alle Probleme kleinredend, weinte jetzt. Marita ging zu ihr, streichelte sie und half ihr, Grinde und Pusteln mit Kamillensud zu reinigen und eine desinfizierende Paste aus Arnika, selbst gebranntem Schnaps und geheimen Kräutern, die nur sie selbst kannte und deren Anwendung in mündlicher Form durch viele Generationen von Frauen weitergegeben wurde, aufzutragen. Sie war froh, noch Schafstalg zu haben, der zwar schon ranzig war, aber die Salbe geschmeidiger machte.
Die Kinder schrien, weil es schmerzte. Schnell steckte Alma ihnen Zuckerbonbons in den Mund, die sie selbst hergestellt hatte und sorgsam hütete.
Mit großer Anteilnahme beobachtete Marita das Geschehen und reichte der Großmutter zu, was diese verlangte. Sie lächelte wieder das gleichaltrige Mädchen an, hoffend, dass sich wenigstens ein winziges Lächeln zeigte. Vergebens!
Dann kam Großmutters nächster Auftrag: „Gehe in die Kammer und hole deine Anziehsachen! Wir wollen sehen, ob den Kindern etwas passt. Dir ist sowieso alles zu klein und wir müssen wieder Neues nähen. Bringe auch Schuhe und Stiefel mit“, fügte sie nach einem Blick auf die abgelatschten Treter der Kinder, die bereits stümperhaft zur Festigung mit Draht umwickelt waren, hinzu. „So wie du wächst, kannst du sowieso bald Mamas Schuhe anziehen. Mit den dicken Schafwollsocken passen dir sogar Mamas Stiefel.“

Die Reinigung, das Verarzten und die Entlausung der Kinder waren zu Ende. Wellen des Glücks durchzogen Großmutter Alma, als die abgestumpften leeren Blicke der Kinder plötzlich aufleuchteten, nachdem sie das Essen vor sich sahen. Sie gab den Kleineren die Nahrung in winzigen Portionen und ermahnte die Größeren, ganz langsam zu kauen, um zu verhindern, dass sie es in ihrer Gier zu schnell hineinschlangen und die schwachen, ausgemergelten Körper es wieder von sich gaben. Nachdem sie ihnen behutsam das einfache Essen eingeflößt hatte, bereitete sie mithilfe der Tochter und der Enkelin in ihrer Kammer ein Lager aus Stroh, überdeckt mit Laken. Hier sollten die Kinder schlafen. Die Erwachsenen konnten in der Scheune im Heu unterkommen. Decken waren genügend vorhanden, worüber die kleine Marita sehr erstaunt war. Eine Nacht wollten die Flüchtlinge bleiben, um dann weiterzuziehen, an einen von den Ämtern zugewiesenen Ort.
Bevor die Ärmsten wieder aufbrachen, wühlten die Mutter und Marita in den Schränken, um nach einfachen Kleidungsstücken zu suchen, die den Flüchtlingen passen konnten. Marita besaß selbst nur zwei Kleider, die sie im Wechsel trug. Doch ein Samtmäntelchen, welches ihr längst zu klein war, und ein paar Pullover und Strümpfe konnten noch Verwendung finden. Großmutter steuerte zwei Paar lange Socken dazu, die sie im Winter aus Schafwolle gestrickt hatte. Dadurch passten einer größeren Flüchtlingsfrau wenigstens ein Paar Stiefel von Jennys Mann, der vielleicht nie wieder von der Front heimkam. So ausgestattet zogen die armen, heimatlosen Menschen am nächsten Morgen weiter. Zum Abschied hatten sie noch ein paar Becher Milch und einen Kanten Brot bekommen sowie ein Ei gegessen. Sie sahen durch die zusammengewürfelten Kleidungsstücke verwegen aus. Aber alles war sauber und warm. Es war erst Februar, und der Winter war noch lange nicht zu Ende. Immer wieder gab es kurze, heftige Schneestürme.
Die kleine Marita hatte verstohlen die fremden Menschen beobachtet, die so traurig und niedergeschlagen aussahen. Sie hatte ihre Großmutter bewundert, die sich gar nicht fürchtete und ganz freundlich zu allen war. Es hatte sich in die Seele der Kleinen eingeprägt und beeinflusste auch später noch ihr Tun und Handeln.

Ein Bauernhof Anfang Februar 1945 ?in Thüringen

Endlich hatte die Kleine das geeignete Versteck gefunden. Sie kroch zwischen den Zweigen hindurch – „Au! Mist!“ Da war ein Stück von der Schürze am Dorn hängen geblieben – das gab wieder tüchtigen Ärger mit Mama. Dann rutschte sie und landete in einer kleinen Kuhle, die beim Sturz des riesigen Baumes nach einem gewaltigen Unwetter entstanden war.
„Hier findet uns keiner“, flüsterte sie ihrer Puppe zu und drückte sie eng an sich. „Aber trotzdem musst du ganz still sein. Großmutter hat bisher alle Verstecke gefunden. Der liebe Gott hat ihr bestimmt hinten auch Augen gegeben, die aber keiner sehen kann. Wenn sie sich ihre Haare wäscht, schaue ich immer genau hin, ob ich vielleicht doch das Geheimnis herausbekomme, wie sie hinten sehen kann. Da, hörst du? Da ruft sie schon wieder. Ich soll beim Kühe Füttern helfen und das Futter für das Kleinvieh mischen. Pscht! Sei ganz still!“
„Wo ist denn dieses kleine Luder wieder?“, ertönte jetzt die energische Stimme der Mutter. „Hast du ihr nicht gesagt, was sie bis abends noch zu machen hat?“
„Gönne ihr doch ein paar Minuten Pause, Jenny. Sie ist erst fünf Jahre alt. Da haben wir ihr zu Weihnachten deine alte Puppe zurechtgemacht und geschenkt, und sie hat keine Zeit, damit zu spielen.“
„Kann ich etwas dafür, wenn die Männer unbedingt Krieg spielen müssen, irgendwelchen Feinden nachjagen, die keiner kennt und die ihnen wahrhaftig nichts getan haben, wenn diese Männer dann nicht mehr nach Hause kommen?! Da müssen wir Frauen eben alles alleine bewältigen, egal wie alt wir sind!“
Großmutter Alma sah ihre Tochter an. Sie hatte ja so recht. Die schönsten Jahre des Lebens stahl man den Kindern und den jungen Frauen. Durch das magere Essen und die schwere körperliche Arbeit war ihre Jenny dürr wie eine Zaunlatte. Man musste schon sehr genau hinschauen, um etwas Weibliches an ihr zu entdecken. Dabei lebten sie auf dem Dorf, wo die Hühner trotz Krieg noch Eier legen, wo es Milch gab und man ab und zu sogar heimlich ein Schwein schlachten konnte, wenn man an die verfluchte Nazi-Regierung abgegeben hatte, was sie verlangte, um die übrig gebliebene Bevölkerung zu ernähren. Der Zweite Weltkrieg ging nun schon ins sechste Jahr, und die Nachrichten wurden von Tag zu Tag besorgniserregender. Wie musste es erst den armen Frauen in der Stadt gehen, bei denen der Hunger ständiger Begleiter war. Eine furchtbare Zeit war das. Und dieser verdammte Krieg war immer noch nicht zu Ende. Dabei waren schon so viele Männer gefallen. Die Bauernhöfe waren vor Kurzem noch von der SS durchsucht worden, um alle Männer, sogar Jungen, die kaum dreizehn Jahre alt waren, aufzustöbern. Nachbars Michael war gewaltsam seiner Mutter entrissen worden, die den Jungen versteckt hatte. Sie hatte ihn im Heuschober vergraben, ein getarntes Ofenrohr hatte das Atmen erleichtern sollen. Doch ein plötzlicher Schrei hatte alle ihre Hoffnungen platzen lassen. Mit Gabeln im Heu stochernd, hatten sie ihn fast aufgespießt. Aber er war nur wenig verletzt worden, zu wenig, um als dienstuntauglich eingestuft zu werden. Es war grotesk, diese Kinder in Uniformen zu stecken, welche an den dünnen, winzigen Körpern herumschlotterten und von den weinenden Müttern eiligst etwas zurechtgenäht wurden, ehe man die armen kleinen Opfer abholte. Und diese halb verhungerten Jammergestalten sollten sozusagen die „Karre noch aus dem Dreck ziehen“ und den Nazitraum retten? Großmutter Alma konnte sich nur an den Kopf greifen, sah sich aber vorsichtshalber dabei um. Jeder vernünftig denkende Mensch wusste, dass der Krieg längst verloren war – aber sagen durfte man es niemandem – nicht einmal innerhalb von Familien. Sie kannte bereits einige, die sogar von der eigenen Verwandtschaft denunziert worden waren, weil sie Hitler und seinen Wahnsinn verflucht hatten. Vor Morgengrauen waren die Ärmsten abgeholt worden; und niemand wusste, wohin man sie gebracht hatte – womöglich in dieses geheimnisvolle Lager Buchenwald, gleich hier in der Nähe bei Weimar, in welchem Juden, Zigeuner und Verbrecher eingesperrt waren, alles Staatsfeinde oder Untermenschen, wie der hiesige Gauleiter behauptet hatte. Ab und zu raunten sich die Leute zu, was für schreckliche Dinge sich dort abspielten, aber etwas Genaues wusste man nicht.
Ein hoher Zaun verwehrte Neugierigen den Einblick. Und irgendwie wollte man es gar nicht wissen, was dort geschah. Man hatte schließlich seine eigenen Probleme, die sich mehr und mehr vergrößerten. Trotzdem waberten immer wieder Gerüchte durch Weimar, durch Apolda und die umliegenden Dörfer.
„Und doch ist der Krieg verloren“, murmelte die Großmutter verbittert. „Schon als im vorigen Jahr die britischen Bomber die Thüringer Rüstungsbetriebe angriffen, ist den vernünftigen Leuten klar geworden, dass jetzt die große Abrechnung kommt.“
Über den englischen Sender, der in mehreren Sprachen über den Äther die neuesten Informationen verbreitete und den sie heimlich hörten, erfuhren sie, dass auch über Hamburg und Peenemünde verheerende Luftangriffe erfolgt waren.
Ebenfalls über diesen Sender hatten sie erfahren, was an der Ostfront vor sich ging: Die letzte Stellung der 6. Armee hatte sich hungernd und halb erfroren in Stalingrad den sowjetischen Truppen ergeben.
Großmutter Alma kochte vor Zorn. Und was hatte daraufhin Propagandaminister Goebbels von sich gegeben? „Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen und totalen Sieg des deutschen Volkes?! Wir verlangen vom Gegner die bedingungslose Kapitulation! Seid ihr entschlossen, dem Führer bei der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen zu folgen?!“
Alma stellten sich die Haare auf, wenn immer noch die hysterischen Schreie der Massen ihr Bewusstsein ausfüllten. „Jaaaa!“
Die Nazis entwickelten auf Hochtouren die geheimnisvolle neue Wunderwaffe Vz. Diese Raketenbomben sollten den Deutschen Vergeltung gegen alle Feinde verschaffen, die Schmach von Verlusten tilgen: Auge um Auge! Bombe um Bombe! Und die Leute grölten: „Jaaaaa!“
Wie ernst die Lage war, wurde Alma bewusst, als in ganz unmittelbarer Nähe ein Luftangriff der Amerikaner erfolgte, auf das Rüstungswerk Buchenwald. Dreihundert Häftlinge, die Waffen produzieren mussten, kamen dabei ums Leben. Und diese Naziverbrecher glaubten immer noch an die Wunderwaffe – wollten die Menschen an ein Wunder glauben lassen.
Der Luftkrieg war schon Ende 1943 mit voller Wucht über Mitteldeutschland hereingebrochen, wo sich viele große Waffenproduktionsstätten befanden. Hier wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit Kriegswaffen entwickelt und hergestellt: Motoren für Panzer, Bombenflugzeuge und Kriegsschiffe, unvorstellbare Mengen an Stahlhelmen. In Dessau produzierten die Junkerswerke Sturzkampfbomber. Aus Plauen und Zwickau kamen Panzer und Kraftfahrzeuge. Der Luftkrieg zur Zerstörung dieser Werke war in vollem Gange. Die mitteldeutsche Rüstungsschmiede war seit Langem bereits Kriegsschauplatz. Die Gauleiter hatten unter Strafandrohung der Bevölkerung befohlen, keine Lichter mehr anzuzünden und alles zu verdunkeln, damit die Feinde sich nicht orientieren und die großen Städte bombardieren konnten.
Daraufhin legten auch Alma und Tochter Jenny jeden Abend die Fensterläden vor und dichteten alle Lichtquellen ab. Beim Schein von Kerzen flickten sie die Arbeitskleidung und nähten für die kleine Marita, die viel zu schnell wuchs, aus Jennys alten Kleidern neue Garderobe. Jenny brauchte sowieso kein Kleid mehr, da sie nur noch schwer arbeitete und die festen Hosen und Joppen ihres verschollenen Mannes trug.
Die Lebensmittel wurden immer knapper. Kartoffeln und alles Gemüse aßen sie nur noch mit Schale. Alle Gerichte verlängerten sie mit Brennnesseln, Löwenzahn, Miere, Brunnenkresse und anderen Kräutern und Wurzeln. Rüben dienten nicht nur als Tierfutter, sondern die Frauen übten sich an vielerlei Möglichkeiten, sie einigermaßen schmackhaft zu kreieren.


Flüchtlinge

Jäh wurde Großmutter Alma aus ihren Gedanken gerissen.
Menschen näherten sich dem Gehöft und Alma erkannte sofort, was das für arme Kreaturen waren. Wahrscheinlich kamen diese heruntergekommenen Familien aus der Stadt, weil der Hunger sie in die Dörfer trieb. Als die abgerissenen Gestalten sich näherten, stutzte sie. Diese Leute waren anders gekleidet, trugen mehrere zerschlissene Kleidungsstücke übereinander, um sich vor der Kälte zu schützen. Eine leichte Schneedecke hatte das Land überzogen und ein eisiger Wind wehte.
Langsam, scheu um sich blickend, kamen die Menschen näher. Es waren fast nur Frauen und Kinder. Die Blicke der Frauen waren leer. Sie, die gewiss einmal bessere Zeiten gekannt hatten, vielleicht gebildet waren oder gar studiert hatten, demütigten sich hier, um ihre Kinder am Leben zu erhalten. Ein alter Mann, der vor Schwäche kaum noch auf den dünnen Beinen stehen konnte, deutete zögernd eine Verbeugung an, ängstlich auf den Hofhund Wotan blickend, der knurrend näher gekommen war, sich aber gleich wieder zurückzog. Großmutter hatte für einen Augenblick den makabren Gedanken, dass Wotan für solche dürren Knochen keinen Bedarf hatte. Er erhielt nahrhaftere. Weil Alma so fassungslos verharrte, kam eine Frau näher und hielt ihr ein Armband entgegen – für ein wenig Essen. Schnell schob Alma die Hand zurück. Sie wusste, dass manche Bauern aus dem Dorf den Bettlerinnen aus der Stadt Uhren, Schmuck und andere kleine Besitztümer abnahmen, für ein Stück Brot, ein wenig Milch und ein paar Eier.
Nach der ersten neugierigen Begutachtung winkte sie die Leute heran und führte sie in die Scheune. Mit Hilfe von Tochter Jenny breitete sie Decken über Heubündel, auf denen sich die armen Menschen erschöpft niederließen. Während Jenny Tee und einen großen Topf voll Hühnerbrühe kochte, fragte Alma den Alten aus und stellte fest, dass er einen merkwürdigen Dialekt sprach.
„Wir sind Flüchtlinge aus dem Ostpreußischen. Wir wurden von Stalins Truppen verjagt und durften fast nichts mitnehmen. Wer nicht freiwillig gehen wollte, wurde sofort erschossen. Wir sind bis nach Thüringen gegangen, weil die nördlichen Bereiche Deutschlands die Flüchtlinge kaum noch aufnehmen konnten – oder wollten“, fügte er verbittert hinzu.
Inzwischen schleppte Jenny Kübel mit heißem Wasser in die Scheune und schüttete sie in den Bottich, den Alma bereitgestellt hatte, damit die Erwachsenen sich reinigen konnten. Sie legte zwei Stücke Kernseife bereit, Waschlappen und große Tücher. Dann forderte sie die sieben Kinder auf, mit ihr zu kommen. Die zwei jüngsten klammerten sich an ihre Mütter und weigerten sich wimmernd. Großmutter nahm das kleinste, das sich heftig sträubte, kurzerhand auf den Arm. Das andere gab sie einem größeren Mädchen an die Hand. So brachte sie die Kinder in die Küche. Das war der einzige warme Raum, denn auch mit Holz und Torf musste gespart werden. Auf dem Tisch stand ein Waschzuber. Sie setzte die Kleinen abwechselnd hinein und weichte mühevoll den Schmutz von den mageren Körpern ab.
Den Größeren gab sie Lappen und ließ sie ihre Fetzen ablegen.
Wieder einmal rief Großmutter Alma den Herrgott an, dass er sich dieses Drama anschauen sollte: die Kinder, zitternd vor Kälte, mit Lumpen am Körper, die Köpfchen voller Läuse, Grind und Ausschlag im Gesicht.
„Lieber Gott“, betete sie, „wir Deutschen sind schuldig geworden und haben viele deiner Gebote missachtet, und du hast recht, wenn ‚die Rache dein ist‘ und wir für unsere Sünden bluten müssen. Doch du hattest damals zugelassen, dass die Priester, deine Stellvertreter auf Erden, diesen Krieg und die Soldaten segneten. Dir Allwissendem kann es doch nicht entgehen, dass Kriege aus Menschen Mörder, Diebe, Vergewaltiger und Verbrecher machen. Und deine Stellvertreter auf Erden segneten sie, bevor sie andere Länder überfielen. Wie kannst du jetzt, wo schon so viel Blut geflossen ist, mit ansehen, wie diese unschuldigen Kleinen jämmerlich zugrunde gehen?“ Und bei ihrem Anruf des Herrgotts wurde Alma mit einem Mal bewusst, wie viele Kinder in den von Deutschland überfallenen Ländern bereits ein ähnliches und viel schlimmeres Schicksal erlitten hatten und noch erlitten. Was waren Menschen nur für grausame Bestien! Und Alma flehte Gott an, dass diese armen Kinder, wenn sie noch am Leben waren, auch jemanden finden würden, der ihnen half.

Die kleine Marita hatte mit ihrer Puppe Paula ihr Versteck verlassen und war neugierig näher gekommen. Aus sicherer Entfernung betrachtete sie mit großen Augen das Geschehen. Sie lächelte ein Mädchen an, welches ungefähr in ihrem Alter war. Betroffen musste sie feststellen, dass das bleiche, dünne Mädchen bitterernst blieb, und Marita hatte den Eindruck, als könne das Mädchen gar nicht mehr lachen. Die Großmutter winkte ihr unmissverständlich, gab ihr einen Korb und wies sie an, im Keller Kartoffeln zu holen, obwohl der kleine Vorrat zusehends schwand und noch bis zur nächsten Ernte reichen musste. Auch ein paar der letzten verschrumpelten Äpfel sollte Marita mitbringen. Dabei murmelte die Großmutter einen ihrer Sprüche: „Geben ist besser als nehmen.“
Die Kleine schlüpfte durch ein Regal, welches vor der Kellertüre stand und mit Arbeitskleidung behängt war, damit niemand ohne Weiteres erkennen konnte, dass sich hier der Eingang eines zweiten Kellers befand. In diesem waren Lebensmittel versteckt, auf die die Nazis keinen Zugriff haben sollten.
Plötzlich stutzte Marita und blieb verwundert stehen. Hier war auf einmal alles ganz anders als bei ihrem letzten Kellerauftrag vor ein paar Wochen. Im Allgemeinen ging immer nur Großmutter in diesen Keller. Verwundert registrierte Marita die Veränderungen.
Da lagen Strohballen, ordentlich nebeneinander. In der Ecke stapelten sich Decken, exakt übereinander geschichtet. Neugierig geworden blickte sie sich um. Sie entdeckte auf einem alten Tisch Geschirrtücher, die etwas verdeckten. Obwohl Marita daran gewöhnt war, Aufträge sofort ordentlich auszuführen, überwog der Trieb der Neugierde. Sie hob das Tuch hoch und sah fasziniert eine Reihe von Bechern aus Blech, fein ordentlich nebeneinander aufgereiht. Daneben stand ein Stapel Teller. Marita zählte: sieben. „Wie bei den sieben Zwergen“, murmelte sie erfreut. „Wer hat aus meinem Becherchen getrunken? Wer hat mit meinem Löffelchen gegessen?“
Die Phantasie übermannte sie. Sie glaubte, dass sie Schneewittchen von den sieben Zwergen sei, und war so verwundert, dass sie beinahe vergaß, was sie zu tun hatte. Der energische Ruf der Großmutter brachte sie schnell in die Wirklichkeit zurück, und sie erfüllte schleunigst ihren Auftrag. Bevor sie die Großmutter über ihre Entdeckungen befragen konnte, fuhr ihr beim Blick auf sie der Schreck durch alle Glieder, und ihre Frage blieb im Hals stecken.
Großmutter, die doch immer wie ein Fels in der Brandung war, herrisch, alles bestimmend, alle Probleme kleinredend, weinte jetzt. Marita ging zu ihr, streichelte sie und half ihr, Grinde und Pusteln mit Kamillensud zu reinigen und eine desinfizierende Paste aus Arnika, selbst gebranntem Schnaps und geheimen Kräutern, die nur sie selbst kannte und deren Anwendung in mündlicher Form durch viele Generationen von Frauen weitergegeben wurde, aufzutragen. Sie war froh, noch Schafstalg zu haben, der zwar schon ranzig war, aber die Salbe geschmeidiger machte.
Die Kinder schrien, weil es schmerzte. Schnell steckte Alma ihnen Zuckerbonbons in den Mund, die sie selbst hergestellt hatte und sorgsam hütete.
Mit großer Anteilnahme beobachtete Marita das Geschehen und reichte der Großmutter zu, was diese verlangte. Sie lächelte wieder das gleichaltrige Mädchen an, hoffend, dass sich wenigstens ein winziges Lächeln zeigte. Vergebens!
Dann kam Großmutters nächster Auftrag: „Gehe in die Kammer und hole deine Anziehsachen! Wir wollen sehen, ob den Kindern etwas passt. Dir ist sowieso alles zu klein und wir müssen wieder Neues nähen. Bringe auch Schuhe und Stiefel mit“, fügte sie nach einem Blick auf die abgelatschten Treter der Kinder, die bereits stümperhaft zur Festigung mit Draht umwickelt waren, hinzu. „So wie du wächst, kannst du sowieso bald Mamas Schuhe anziehen. Mit den dicken Schafwollsocken passen dir sogar Mamas Stiefel.“

Die Reinigung, das Verarzten und die Entlausung der Kinder waren zu Ende. Wellen des Glücks durchzogen Großmutter Alma, als die abgestumpften leeren Blicke der Kinder plötzlich aufleuchteten, nachdem sie das Essen vor sich sahen. Sie gab den Kleineren die Nahrung in winzigen Portionen und ermahnte die Größeren, ganz langsam zu kauen, um zu verhindern, dass sie es in ihrer Gier zu schnell hineinschlangen und die schwachen, ausgemergelten Körper es wieder von sich gaben. Nachdem sie ihnen behutsam das einfache Essen eingeflößt hatte, bereitete sie mithilfe der Tochter und der Enkelin in ihrer Kammer ein Lager aus Stroh, überdeckt mit Laken. Hier sollten die Kinder schlafen. Die Erwachsenen konnten in der Scheune im Heu unterkommen. Decken waren genügend vorhanden, worüber die kleine Marita sehr erstaunt war. Eine Nacht wollten die Flüchtlinge bleiben, um dann weiterzuziehen, an einen von den Ämtern zugewiesenen Ort.
Bevor die Ärmsten wieder aufbrachen, wühlten die Mutter und Marita in den Schränken, um nach einfachen Kleidungsstücken zu suchen, die den Flüchtlingen passen konnten. Marita besaß selbst nur zwei Kleider, die sie im Wechsel trug. Doch ein Samtmäntelchen, welches ihr längst zu klein war, und ein paar Pullover und Strümpfe konnten noch Verwendung finden. Großmutter steuerte zwei Paar lange Socken dazu, die sie im Winter aus Schafwolle gestrickt hatte. Dadurch passten einer größeren Flüchtlingsfrau wenigstens ein Paar Stiefel von Jennys Mann, der vielleicht nie wieder von der Front heimkam. So ausgestattet zogen die armen, heimatlosen Menschen am nächsten Morgen weiter. Zum Abschied hatten sie noch ein paar Becher Milch und einen Kanten Brot bekommen sowie ein Ei gegessen. Sie sahen durch die zusammengewürfelten Kleidungsstücke verwegen aus. Aber alles war sauber und warm. Es war erst Februar, und der Winter war noch lange nicht zu Ende. Immer wieder gab es kurze, heftige Schneestürme.
Die kleine Marita hatte verstohlen die fremden Menschen beobachtet, die so traurig und niedergeschlagen aussahen. Sie hatte ihre Großmutter bewundert, die sich gar nicht fürchtete und ganz freundlich zu allen war. Es hatte sich in die Seele der Kleinen eingeprägt und beeinflusste auch später noch ihr Tun und Handeln.

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