Erinnerungen

Erinnerungen

Eine biografische Erzählung

Gerhard Wolf


EUR 17,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 276
ISBN: 978-3-99131-474-5
Erscheinungsdatum: 30.06.2022
Als sein Sohn ins Visier der Stasi gerät, muss der DDR-Stabsoffizier Gerhard Wolf Stellung beziehen. Soll er sich von seinem Kind lossagen? Anekdotenreich und humorvoll schildert Wolf Szenen aus seinem bewegten Leben zwischen drei Staaten und drei Frauen.
Vorwort

Die nachfolgenden ERINNERUNGEN sind eine autobiografische Aufzählung von kleinen und großen Höhepunkten in meinem bisherigen persönlichen Leben.
Ich habe mich bemüht, auch einen Zusammenhang mit den jeweils aktuell vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen herzustellen.
Das Schreiben hat mir sehr viel Spaß gemacht! Vor allem, weil Erinnerungen an Einzelheiten aufgetaucht sind, die ich eigentlich schon längst vergessen meinte.
Ich hoffe und wünsche, dass der Leserin, dem Leser die Lektüre ebensolches Vergnügen bereitet, wie es mir beim Schreiben vergönnt war.

Gerhard Wolf



Ich komme auf die Welt

Als ich auf die Welt kam, zeigte der Kalender den Monat Juli an. Es war am frühen Vormittag eines Samstags. Meine Ankunft war wenige Augenblicke vorher vom schrillen Rasseln der Pausenklingel der Grundschule in Lobstädt angekündigt worden.
Meine Mutter war Neulehrerin und bewohnte ein kleines möbliertes Zimmer unter dem Dach dieser Schule, an der sie unterrichtete. Die Klingel war zwar bis dort hinauf zu hören, bestimmte jedoch meinen Werdegang als Neugeborenes in keiner Weise.
Mein Vater war nach der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, als Flakhelfer, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Dann hatte er seine durch den Krieg unterbrochene Schulausbildung an der Oberschule in Borna fortgesetzt und das Abitur abgelegt. Gemeinsam mit anderen Klassenkameraden hatte er dort eine Jugendtanzkapelle gegründet. Die jungen Männer probten an mehreren Tagen in der Woche nach dem Unterricht. An den Wochenenden spielten sie in verschiedenen Gasthöfen der Umgebung zum Tanz auf.
Beim Tanz in der Silvesternacht 1946/47 hatte mein Vater, der eine Ausbildung zum Kfz-Schlosser machte, meine Mutter kennengelernt. Die beiden jungen Leute verliebten sich ineinander und verbrachten viel Zeit miteinander. So blieb es nicht aus, dass die frischgebackene Neulehrerin Margot schwanger wurde und der künftige Kfz-Schlosser Klaus Vaterfreuden entgegensah.
Im März 1948 heirateten sie. Ich sollte in geordneten Familienverhältnissen aufwachsen, was ich in den folgenden Jahren auch ausgiebig genießen konnte.
Meine Großeltern waren jedoch wenig erfreut über die eingetretene Situation. So gab weder einen zünftigen Polterabend noch ein rauschendes Hochzeitsfest. Still, nur zu zweit und bescheiden verbrachten meine Eltern den Abend vor der Trauung. So setzte sich auch ihr späteres Leben fort.
Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich kein sogenanntes Wunschkind war. Ich war wohl eher ein „Verkehrsunfall“. Dennoch bin ich am 3. Juli 1948, im Sternzeichen Krebs, geboren worden. Natürlich kann ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Nur an Anekdoten, die ich später aufschnappte. Es war damals noch üblich, zu Hause zu gebären. Meine Geburt verlief wohl auch ohne nennenswerte Probleme. Es war jedenfalls kein Transport in den Kreißsaal einer Klinik nötig. Später hat man mir aber erzählt, dass die anwesende und regieführende Hebamme bei meinem Erscheinen alle Umstehenden dringlichst aufgefordert hatte, mich festzuhalten, um wohl zu verhindern, dass ich auf die Gardinenstange klettere. Mein Körper soll beinahe komplett behaart gewesen sein. So wie man das von Affen kennt.
Was ging im Kopf dieser braven Frau vor sich? Meine Mutter, noch erschöpft von den Anstrengungen des Geburtsvorgangs, aber stolz, einen Jungen auf die Welt gepresst zu haben, bekam einen derben Dämpfer ihrer Emotionen. Ihr Sohn, der künftige Stammhalter, wurde mit einem Primaten, mit einem Kletteraffen aus dem Zoo verglichen!
Nun, das mit der Körperbehaarung hatte sich dann recht bald gegeben, und ich konnte vorgezeigt werden. Über die typischen Entwicklungsetappen „zur Menschwerdung des Affen“, also vom Liegen über das Krabbeln bis zum aufrechten Gang, kann ich auch keine verbindlichen Aussagen treffen.
Mir wurde jedoch lange Zeit vorgeworfen, dass ich mich vor Spinat eklatant geekelt habe, wobei der doch aufgrund seines hohen Vitamin- und vor allem Eisengehalts sehr gesund sein soll. Ich soll den babylöffelweise gefütterten Spinatbrei jedoch wider allen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen und Empfehlungen im hohen Bogen ausgespuckt haben. Dabei soll ich mit solcher Wucht agiert haben, dass sogar die weit entfernt hängenden Gardinen unter Beschuss gerieten. Einige Zeit später hatten ja dann auch führende internationale Ernährungswissenschaftler eingestehen müssen, dass der hohe Eisengehalt im Spinat nur durch eine versehentliche Verschiebung einer Kommastelle in einem früheren Analyseprotokoll zustande gekommen war. Mein gesunder Menschenverstand hatte das schon weit vorher erkannt!
Ich kann mich aber recht gut daran erinnern, dass ich einige Zeit später leidenschaftlicher und vor allem tollkühner Pilot eines Dreirads war. Auch im Winter gab es für mich keine verschneite Piste, die ich mich nicht mit dem Rodelschlitten hinuntergewagt hätte. Zur Verwunderung aller hatte ich mir nie eine Fraktur zugezogen. Die kleinen Prellungen und Blessuren steckte ich ohne jämmerliches Gezeter oder lautes Wehgeschrei weg, denn ein Mann weint ja bekanntlich nicht.“
Ich hatte auch keinerlei Furcht vor freilaufenden Tieren. Selbst wenn sie mich an Körpergröße überragten. So schleppte ich neben streunenden Katzen oft auch herrenlose Hunde nach Hause. Einmal kam gar eine Dogge willig mit mir mitgelaufen. Ich musste meinen Arm weit nach oben strecken, um das Halsband greifen zu können. Nachdem dieses „Ungetüm“ zwölf mit Margarine bestrichene dicke Scheiben eines wagenradgroßen Bauernbrotes verschlungen hatte, kam jedoch alsbald der nach ihm suchende Besitzer vorbei und nahm den Hund mit sich.
Wir wohnten inzwischen in einer kleinen, sehr schlichten Wohnung im Obergeschoß eines ehemaligen Pferdestalls. In der einstigen Wohnung des Kutschers. Hinauf führte eine sehr steile Holztreppe. Im unteren Geschoß waren einst die Pferde und Kutschen untergebracht. Diese Räume dienten jetzt als Lagerraum. Ein Bad hatten wir nicht in dieser Wohnung. Die Toilette war ein „Häuschen“, und das stand unten im Hof.
Dort hatten meine Eltern auch einen kleinen Verschlag zurechtgezimmert, in dem sie Kaninchen züchteten. Einmal hatte die „Zibbe“, so nennt man wohl die Häsin, ihren Wurf abgelehnt und begonnen, ihre Kaninchenbabys totzubeißen. Flugs hatte meine Mutter ein Körbchen mit Watte ausgekleidet und die Kleinen hineingetan. Mit einem Fläschchen, gefüllt mit lauwarmer Kuhmilch, wurden sie nun mühevoll aufgezogen. Ob diese Rettungsaktion von Erfolg gekrönt war, weiß ich heute nicht mehr.



Ich bleibe kein Einzelkind

Während ich meine erste Zeit als Baby in warmen Sommermonaten genießen konnte, kam meine Schwester knapp drei Jahre später Anfang März zur Welt. An diesem Tage hatte es wohl sogar geschneit. Ich durfte weder Augen- noch Ohrenzeuge der Geburt sein. So wurde ich vorsorglich bei den Großeltern untergebracht. Erst als alles vorbei war, holte mich mein Vater nach Hause. Schon vor dem Gebäude hörte ich das Babygewimmer, deutete es aber zunächst als das Miauen einer neuen Katze. Wir hatten eigentlich immer eine Katze im Haus. Es war immer etwas zum Streicheln und Spielen da.
Wenig später wurde mir meine Schwester präsentiert. Zu meinem Leidwesen war ich nun nicht mehr Mittelpunkt der Familie. Zudem konnte man ja mit diesem wimmernden Knäuel nicht spielen. Ich stand auch immer irgendwie im Weg, musste mich still verhalten, wenn sie schlief. Wozu war Barbara also gut? Erst viel später war sie einigermaßen als Spielgefährtin zu gebrauchen.
Das dauerte mir zu lange. Ich sah mich nach anderen Beschäftigungen um. Gegenüber, in dem Haus auf der anderen Straßenseite, wohnten zwei Schwestern. Ältere Damen schon. Sie betrieben einen kleinen Getränkehandel. Die Getränke wurden in Holzfässern angeliefert. Es gab Bier, Malzbier und Brauselimonade. Diese Getränke wurden in Flaschen abgefüllt, die mit einem Schnappbügel verschlossen wurden. Die gefüllten Flaschen wurden in Bierkästen aus Holz gelagert und zum Verkauf angeboten. Leergetrunkene Flaschen wurden wieder dort abgegeben. Sie wurden gereinigt und erneut befüllt. Die Flaschenreinigung erfolgte mit heißem Wasser, in das wohl auch ein mildes Reinigungs- und Desinfektionsmittel gegeben wurde. Diese Lauge war in einen großen Holzbottich gefüllt. Die Flaschen wurden hineingelegt und füllten sich dort blubbernd mit dem Reinigungswasser. Nun begann der Reinigungsvorgang. Immer zwei Flaschen wurden dem Bottich entnommen. Eine davon wurde entleert und etwa halbvoll mit sehr kleinen Stahlkugeln gefüllt. Geschickt wurden dann die Flaschenhälse mit ihren Öffnungen aneinandergehalten, senkrecht gestellt und kräftig geschüttelt. Wenn die Stahlkugeln aus der oberen Flasche in die untere Flasche gelangt waren, wurden die Flaschen gedreht und der Vorgang mehrfach wiederholt.
Ich konnte stundenlang dieser fingerfertigen Handhabung zusehen. Mich faszinierte auch das Geräusch der herabrieselnden Stahlkugeln. Wenn man die Augen geschlossen hielt, hörte man einen leichten Sommerregen. Damals wusste ich noch nichts über die australischen Aborigines und ihr Didgeridoo, ihr „Regenrohr“.
Ich spielte auch mit den zahlreichen Katzen, die dort herumliefen. Ein hochkant gestellter Bierkasten, bei dem der Boden fehlte, diente mir als „Dompteurutensil“. Dort lockte ich die Katzen, von einem Fach ins andere zu kriechen. Also vorn herein und auf der anderen Seite in einem der nächsten Fächer wieder zurück. Eine Art „Bierkasten-Slalom“.
Die beiden Damen spendierten mir auch hin und wieder ein Bier. Ein Malzbier. Dazu luden sie mich sogar in ihr Wohnzimmer ein. Dort stand eine richtige Palme. Ich durfte mich in einen der wuchtigen Plüschsessel setzen. Das Malzbier wurde mir natürlich in einem Trinkglas serviert. Ich genoss es, den Bierschaum von den Lippen zu lecken.
Eine der beiden Damen hatte ihren Sohn schon im Ersten Weltkrieg verloren. Mit meiner Erscheinung erinnerte ich wohl sehr an ihn. Sie hatte mir einmal ein verblichenes Foto von ihm gezeigt. Ich konnte jedoch keine Ähnlichkeit mit mir entdecken. Das Foto zeigte ja auch einen jungen Mann und keinen Dreikäsehoch mit knapp vier Jahren, der ich damals war.
An den Sonntagen machten wir stets einen Familienspaziergang. Wenn es nicht gerade regnete. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob es in diesen Jahren überhaupt einmal geregnet hatte. Vielleicht einmal nachts, wenn ich schlief.
Zu diesen Spaziergängen musste man sich natürlich fein anziehen. Fein bedeutete für mich: blitzblankgeputzte Schuhe, irgendein helles Oberteil, eine helle kurze Hose und weiße lange Strümpfe. Ich durfte schon die steile Treppe nach unten gehen, musste aber vor dem Haus auf die Familie warten, die noch damit zu tun hatte, sich selbst festlich zu kleiden. Am langsamsten war wohl meine Schwester. Denn es dauerte immer ewig, bis sie unten auftauchte. Sie wurde natürlich die Treppe heruntergetragen und dann in den Kinderwagen gesetzt. Ich musste laufen. Es kam nicht selten vor, dass mir die Warterei zu lange dauerte und ich inzwischen eine kleine Beschäftigung gefunden hatte. Natürlich blieben dabei vor allem meine weißen Strümpfe nicht sauber. Dann tolerierten meine Eltern zwar die inzwischen mit Tarnmusterung versehenen Strümpfe, aber mein verschmutztes Gesicht nicht. Mutti nahm dann ein Taschentuch, befeuchtete es mit Speichel und rubbelte mir die Verunreinigungen aus dem Gesicht. Mich schüttelt es heute noch, wenn ich daran denke.
Dann ging es endlich los. Es gab zwei Standardziele für den Spaziergang. Entweder eine Runde um den Breiten Teich oder eine Wanderung zum Lerchenberg. Am Breiten Teich gab es immer viel zu sehen. Auf dem Wasser konnte man mit Ruderkähnen fahren, die man sich ausleihen konnte. Mit meiner Schwester im Kinderwagen war das ein riskantes Unterfangen und kam deshalb nicht infrage. Zum anderen brauchten meine Eltern das Geld, das man für die Kahnausleihe hätte zahlen müssen, sicherlich für nützlichere und dringlichere Dinge. So blieb der Rundgang um den See zu Fuß. Man konnte viele Leute sehen, was auch sehr interessant war. Es war erstaunlich, welche Garderobe manche trugen. Aber man musste auch höllisch aufpassen, dass man jeden entgegenkommenden Bekannten aus der Nachbarschaft rechtzeitig und freundlich grüßte.
Der Lerchenberg ist eine kleine bewaldete Anhöhe etwas außerhalb der Stadt. Dort ging ich lieber spazieren. Ich musste zu diesem Spaziergang auch nicht unbedingt weiße Strümpfe tragen. Es war ein richtiger kleiner Wald. Meine Eltern erklärten mir die einzelnen Baumarten und nannten mir die Namen der Vögel, die dort herumflatterten. Einige erkannte ich recht bald an ihrem typischen Gezwitscher. Auch verschiedene Pflanzen lernte ich kennen.
Im Herbst sammelten wir dort Pilze. Manchmal reichte es für eine kleine Mahlzeit. Es war aber immer kaum mehr als eine Kostprobe.
Am südlichen Waldrand gab es eine Silberfuchsfarm. Durch den penetranten Gestank wurde man schon von Weitem darauf aufmerksam. Es war für mich sehr interessant, die Tiere in ihren Käfigen zu beobachten.
In den Sommermonaten gab es keine Sonntagsspaziergänge. Wir fuhren mit den Fahrrädern ins Grüne. Meine Schwester saß im Körbchen, das am Lenker von Muttis Fahrrad befestigt war. Ich saß auf einem kleinen Fahrradsattel, der auf der Querstange bei Vatis Fahrrad montiert war. Auf den großen Gepäckträgern wurde ein großer Picknickkorb, aber auch eine große Regenplane und eine Decke verstaut. So ging es los!
Unser Lieblingsziel war der Colditzer Wald. Meist rasteten wir auf dem dortigen Hochbehälter. Das war eine spärlich bewachsene Erhebung über einer Anlage der Wasserwirtschaft. Vergleichbar mit einem Wasserturm. Von dieser Anhöhe aus hatte man einen herrlichen Rundblick über die Landschaft. Die Decke wurde ausgebreitet, und alle nahmen darauf Platz. Zum Picknick gab es meist Kartoffelsalat mit gekochtem Ei. Den Durst konnte man sich mit kaltem Pfefferminztee löschen. Den Tee hatte Mutti in solche Bügelverschlussflaschen abgefüllt, wie ich sie im Haus gegenüber kennengelernt hatte.
Im Spätsommer fuhren wir dorthin, um Hagebutten zu pflücken. Diese Früchte der Wildrose wurden grob zerkleinert und getrocknet. Man konnte sie dann mit heißem Wasser überbrühen und erhielt einen sehr wohlschmeckenden und gesunden Tee. Durch den hohen Vitamin-C-Gehalt der Hagebutte wird das Immunsystem gestärkt.
In dieser letzten Phase des Sommers fuhren wir auch mit den Fahrrädern ein Stück weiter aus dem Ort als gewöhnlich. Entlang einiger Chausseen standen Apfelbäume, die viele ihrer Früchte abgeworfen hatten. Diese Äpfel sammelten wir auf und brachten sie nach Hause. Dort wurden sie gewaschen, geschält, in mundgerechte Stücke geschnitten, in Gläser gefüllt und eingeweckt. Oder die Stücke wurden gekocht und durch die Fruchtpresse gegeben, auf diese Weise wurde Apfelmus gewonnen. Dieses Apfelmus wurde auch eingekocht. Das schmeckte später sehr lecker zu knusprig gebratenen Kartoffelpuffern.
Wir Kinder, meine Schwester Barbara und ich, halfen oft und auch gern im Haushalt. Besonders gern beim Kuchenbacken. Dann galt es oft, einen Rührlöffel abzulecken oder eine Schüssel auszuschaben. Ich sah Mutti auch gern beim Kochen zu, durfte umrühren und auch abschmecken. Später wollte ich immerhin Koch werden. Koch auf einem großen Überseedampfer.

Schon in meinen ersten Lebensjahren besaß ich ja einen fahrbaren Untersatz. Ein Dreirad. Das war sehr stabil, was es auch sein musste, denn ich strapazierte es außerordentlich. Hügel, aber auch Treppenstufen fuhr ich oft im Stehen hinunter. Das Dreirad hatte jedoch keine Handbremse, und wenn ich auf der Sitzfläche stehend einen Abhang hinunterfuhr, konnte ich nicht mit den Pedalen bremsen. Also lenkte ich das Dreirad in eine Richtung, in der ein „weiches“ Hindernis, wie etwa ein Gebüsch, vorhanden war oder die rasante Bergabfahrt in eine Bergauffahrt überging. Es war damals kaum Verkehr auf den Straßen und in unserer Wohngegend sowieso nicht.
In Erinnerung habe ich, dass ich einmal dennoch unter einem Pferdegespann zum Halten kam. Stets hatte ich aufgeschlagene Knie und Ellenbogen, und mein Dreirad hatte eine kaum noch erkennbare Lackierung.
Als ich dann etwas größer und älter war, bekam ich einen Holzroller. Der war rotlackiert und hatte Hartgummibereifung. Den strapazierte ich ebenso wie einst mein Dreirad. Keine Abfahrt war rasant genug, und bei den Rennen im Gelände oder auf dem Fußweg, die ich mir mit den Nachbarskindern lieferte, schonte ich das Fahrzeug keineswegs.



Mein erstes selbstverdientes Geld

Wir waren umgezogen und wohnten jetzt zur Miete in einer Hälfte einer großen Wohnung im Parterre einer Villa. Dort hatten wir endlich ein Bad mit Badewanne und eine Toilette mit Wasserspülung. Vati arbeitete als Kfz-Schlosser im Fuhrpark der Handelsorganisation Konsum.
Der Konsum war eine Handelsgenossenschaft, die flächendeckend in der DDR Lebensmittel- und sogenannte Industriewarengeschäfte unterhielt. Man konnte also neben Lebensmitteln aller Art auch Fahrräder, Küchenutensilien und Elektrogeräte wie Heizkörper, Kühlschränke und Waschmaschinen kaufen. Da es bei Waschmaschinen und Kühlschränken ständig Lieferengpässe gab, musste man sich in eine lange Warteliste eintragen. Die Wartezeiten erstreckten sich auf bis zu zwei Jahre! Als Konsum-Genossenschaftsmitglied bekam man nach jedem Einkauf, der Einkaufssumme entsprechend, sogenannte Rabattmarken. Diese konnte man säuberlich in ein spezielles Rabattmarkenheft einkleben. Einmal im Jahr konnte man diese Rabattmarken abrechnen und bekam dafür eine winzige Prozentzahl der Gesamteinkaufssumme rückerstattet.
Im Volksmund wurde Konsum so buchstabiert: Kaufe ohne nachzudenken sofort unsern Mist!
Es gab noch die Läden der Handelsorganisation (HO). Dort bekam man keine Rabattmarken. Die Verkaufsartikel waren in der Qualität geringfügig besser und der Verkaufspreis auch höher. Einen winzigen Teil des Lebensmittelverkaufs bestritten einige kleine „Tante-Emma-Läden“. Es gab auch wenige private Verkaufseinrichtungen für sogenannte Eisenwaren.
Vati war eine Zeit lang als Kraftfahrer beim Konsum eingesetzt. Oft brachte er leere Obststiegen mit. Wir hatten Ofenheizung, und mit dem Holz dieser Kisten konnte man vorzüglich das Feuer entfachen und dann die Kohle drauflegen.
Ich bekam meine erste bezahlte Arbeit! Vati erklärte mir, wie man mit der Zange die Nägel aus den Kistenbrettchen ziehen kann. Diese Stahlstifte waren natürlich oft krumm und verbogen. Dann hieß es, sie gerade zu klopfen. Zum Schluss sortierte ich sie in leere Streichholzschachteln. Für jede mit Nägeln gefüllte Streichholzschachtel erhielt ich zehn Pfennige. Das war eine mühsame Arbeit, aber ich konnte mir von dem Geld Naschereien kaufen. Noch wichtiger war für mich, das Kleingeld zu sparen und dann auf dem Rummel auszugeben.

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