Elternlos

Elternlos

Hans-Joachim Risto


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 126
ISBN: 978-3-99107-460-1
Erscheinungsdatum: 18.05.2021
Ein Lebensüberblick von Zeiten der Not ab Beginn des 2. Weltkrieges - über gesicherte Existenz innerhalb von ca. 30 Jahren - bis hin zu einem erfüllten Dasein im Vorruhestand ab 1998 wird gegeben.
Geburt und Landsberg (Warthe)

1935 war Friedenszeit. Es war ein Jahr, das zu den guten Jahren nach all den Entbehrungen der Nachkriegszeit, der Inflation, der Weltwirtschaftskrise und der enormen Arbeitslosigkeit Anfang der 30iger-Jahre gehörte. Die Menschen waren wieder fröhlich und glaubten an eine großartige Zukunft. Sie jubelten Hitler zu. Er hatte es geschafft, Arbeitslosigkeit und Elend weitgehend zu beseitigen. Die meisten Leute hinterfragten nicht, wie das möglich war und was Hitler mit seiner Politik erreichen wollte. Sie wollten das alles auch gar nicht wissen, Hauptsache, es ging ihnen gut. Zweifel an den Zielen des Regimes wurden weitgehend verdrängt, man hörte nicht so genau hin, was Hitler sagte, man gab sich einfach der Euphorie dieser Zeit hin. Man hatte wieder etwas, woran man glauben konnte nach all der Schmach, die den Deutschen angetan worden war. Der verlorene Krieg, das Versailles-Diktat, die Enteignung der Kolonien, die Besetzung des Rheinlandes und die verlorene Monarchie. Deutschland war im Aufbruch, für die Masse keineswegs in Richtung eines neuen Krieges, eher nach Rehabilitierung, nach Abschütteln der Versailler Unrechte und nach wirtschaftlicher Blühte. Man traute es Hitler zu, das alles zu verwirklichen. Für die stark aufkommenden Kommunisten hatte man wenig Sympathie, obwohl sie eine erhebliche Wählerschaft hatten. In dieses Jahr hinein wurde ich nun geboren von einer jungen Frau von 24 Jahren, die selbst noch ihren Weg ins Leben suchte. So ähnlich ging es auch meinem Vater, dem einzigen Sohn einer sehr reichen Familie. Sie besaßen in Landsberg an der Warthe ganze Häuserzeilen und eine Fabrik in Czarnikau, Provinz Posen. Mein Vater, Heinz Paulsen, war Alleinerbe und hatte bis zu der Zeit, als ich geboren wurde, wohl kaum gearbeitet.


Nach dem von mir Vernommenen hatte er Ingenieur-Wissenschaft studiert und sich auf die Übernahme des Grundstück-Vermögens vorbereitet. Nach den Fotos zu urteilen, waren seine Eltern schon sehr alt. Allerdings lebten zu der Zeit noch seine Großeltern, die wohl etwa in dieser Zeit ihre Goldene Hochzeit feierten, wie aus den Fotos zu entnehmen ist. Mein Kommen scheint den Eltern und Großeltern meines Vaters nicht willkommen gewesen zu sein. Jedenfalls wollten sie eine feste Verbindung zu meiner Mutter nicht unterstützen, so sagten es mir meine Großeltern mütterlicherseits. Leichte Zweifel daran kommen mir allerdings angesichts eines Fotos aus meiner großelterlichen Wohnung, auf dem neben meinen Eltern, den Eltern meiner Mutter auch die Großmutter meines Vaters zu sehen ist. Die Zweifel werden größer, wenn ich die Fotos betrachte von der Verlobung meiner Eltern, bei der die Großeltern meines Vaters und seine Mutter anwesend sind.


Danach kann es doch eigentlich keine so starke Ablehnung gegen meine Mutter als Ehefrau von Heinz Paulsen gegeben haben. Vielleicht hat sich das Ganze durch meine Anwesenheit geändert und die Familie meines Vaters glaubte an eine vorübergehende Liebschaft. Durch mein Unterwegssein und meine Geburt wurden nun Tatsachen geschaffen, die Verpflichtungen auslösten. Es wurde ernst. Möglich dass erst jetzt die Ablehnung meiner Mutter deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Meine Mutter als Tochter eines Gastwirts, gelernten Fleischers und Kochs und einer Hausfrau war nicht standesgemäß, so jedenfalls sagte es mir meine Großmutter einmal. Warum meine Mutter sich scheinbar mehr zu der Arztfamilie Tews in Landsberg in dieser Zeit hingezogen fühlte, sich dort oft mit mir aufhielt und dann nach Berlin ging, um mich dort zu entbinden, ist mir verborgen geblieben. Ich vermute, es gab meinetwegen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater. Über mögliche Treffen oder eine Beziehung zu meinem Vater während der Schwangerschaft und danach ist mir leider nichts bekannt. Auch hier nur die Vermutung, die Schwangerschaft hat die Beziehung auseinandergebracht. Die Eltern meines Vaters waren scheinbar dagegen. Damit war meine Mutter in doppelter Weise in die Enge getrieben. Einmal war sie von meinem Vater verlassen und zum anderen hatte sie Probleme mit ihrem Vater. So entband sie in einem Krankenhaus in Berlin-Neukölln. Wahrscheinlich wohnte sie bei ihrem Onkel Richard, zu dem und dessen Frau Else sie schon früher gute Beziehungen unterhielt. Mein Opa hatte in den 20er-Jahren seinem Schwager Richard die Else Wunnicke aus dem Dorf Zechow bei Landsberg als Ehegattin empfohlen. Er kam als fahrender Händler damals in zahlreiche Dörfer und lernte dadurch viele Menschen kennen, was seinen Schwager veranlasste, ihn zu fragen, ob er nicht eine junge Dame kennen würde, die für ihn als Ehefrau geeignet wäre. Tatsächlich wurde Else dann seine Ehefrau. Aus der Ehe ging eine Tochter hervor, zu deren Tochter ich heute noch in Verbindung stehe. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass 1945 Richard und Else mit ihrer Villa im Französischen Sektor angekommen waren und Einquartierung von französischen Offizieren hatten. Else, noch relativ jung und sehr hübsch, fand Anklang bei einem der Offiziere. Onkel Richard ließ sich scheiden, aber nur, um seine Else später erneut zu heiraten, nachdem die Franzosen abgezogen waren. Irgendwann zwischen 1936 und 1938 zogen wir nach Oranienburg und später in das Dorf Malz bei Oranienburg, wo wir bei einem Bauern in einem Mansardenzimmer wohnten. An diese Zeit kann ich mich noch gut erinnern. Ich müsste damals etwa 3 bis 4 Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter hatte sich mit einem Lebenspartner zusammengetan, mit dem wir in Malz in einem Bauernhaus lebten. Es war eine schlimme Zeit. Der Mann war oft betrunken und schlug meine Mutter regelmäßig. Ich erinnere mich, wie er sie einmal mit Holz „bearbeitete“, das unmittelbar vor unserer Wohnungstür im 1.Stock aufgeschichtet war. Auch kann ich mich lebhaft daran erinnern, wie uns einmal meine Oma Helene besuchte und sie mit mir spazieren ging. Wir machten an einer kleinen Brücke halt und pflückten Blumen, Sie war sehr, sehr nett zu mir – wie dann auch in meinem späteren Leben. An einem großen Wasser angelangt, warf ich ein kleines rotes Rad von einem Spielzeugwagen in ein großes Wasser und fragte, ob das Rad auch bei Onkel Richard ankommen werde. Meine Oma bestätigte ganz ernsthaft mein Wunschdenken. Einmal hatte mich meine Mutter allein gelassen (das kam sicher öfter mal vor), wenn sie wegging, hatte ich immer fürchterliche Angst und weinte sehr. An diesem Tag bin ich ins Dorf gelaufen und kam an einen Waldrand. Ich ging einen schönen Waldweg entlang und fand einen kleinen Karren, den ich hinter mir herzog. Langsam füllte ich ihn mit allen möglichen Gegenständen, die ich unterwegs im Wald fand. Ich erinnere mich an eine emaillierte Kaffeeflasche mit Schnappverschluss. Voller Stolz über meinen Ausflug und die gefundenen Sachen kehrte ich irgendwann um. Ich kam erst gegen Abend in das Dorf zurück. Dort gab es einen riesigen Menschenauflauf. Meine Mutter hatte das ganze Dorf zusammengetrommelt, um mich zu suchen. Da niemand meine Wegrichtung kannte, war man am Dorfausgang stehen geblieben und diskutierte gerade darüber, wo ich nun hingegangen sein könnte. Als mich meine Mutter wieder in ihre Arme schließen konnte, war sie unheimlich glücklich und ich auch. Hier lernte ich auch erstmals Spargel kennen, den uns „unser Bauer“ auf dem Feld zeigte. Meine Großeltern erfuhren dann irgendwann von den Zerwürfnissen mit dem Partner meiner Mutter. Jedenfalls stand eines Tages ein LKW vor unserem Haus, auf den die Sachen meiner Mutter aufgeladen wurden, und ehe der Partner meiner Mutter nach Hause kam, waren wir schon weg in Richtung Landsberg. Das hatte mein Großvater über die Firma Neuleib in Landsberg organisiert, bei der er eine Großgarage und einen sich über mehrere solcher Großgaragen hinziehenden Boden gemietet hatte. Es waren alles LKW-Garagen und ein sehr langgestreckter Boden, auf dem mein Opa seine Felle lagerte, die er von den Bauern als Zugabe für die Schlachtungen erhielt, die er neben seiner Handelstätigkeit auf den Bauernhöfen durchführte. Er war gelernter Koch und Fleischer, war aber jetzt selbstständiger Händler für Wolle, Strümpfe und sonstige Textilien. Bis zum Krieg war er stets mit einem Opel Blitz unterwegs. Dann hat man ihm die Autoreifen für den Krieg entzogen, so musste er alles mit einem Lastenfahrrad bewältigen. Das muss sich etwa 1939 oder 1940 abgespielt haben, denn 1941 wurde ich schon in Landsberg eingeschult. An die ersten Jahre in Landsberg kann ich mich nicht gut erinnern, wohl aber an einige Ereignisse während der Schulzeit. Wir wohnten zunächst einmal in der Wohnung meiner Großeltern. Auf der Wiese seitlich des Grundstücks und in dem gegenüberliegenden Kirchgarten der Lutherkirche haben wir als Kinder oft gespielt.

Da mehrere Kinder im Haus wohnten, kamen wir auch öfter im Hof zusammen, spielten dort an einer Schaukel oder auf dem gegenüberliegenden Zirkusgelände. Im Sommer wie im Winter war aber auch „der Kanal“, ein nicht weit entfernter künstlicher Wasserlaufmit dem Namen Brenkenhof-Kanal, unser Spielplatz. Im Winter liefen wir dort Schlittschuh, im Sommer war baden und angeln angesagt. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich hatte mir im Volksbad, einer Schwimmhalle, selbst das Schwimmen
beigebracht, da war ich etwa 8 Jahre alt. Zunächst badete ich im Nichtschwimmerbereich,später schwamm ich immer im Schwimmerbecken am Seil entlang von einer Seite zur anderen hinüber. Als ich das geschafft hatte, konnte ich richtig schwimmen.Im Sommer war ich bald jeden Tag am Kanal. Ich angelte viele kleine Fische, die ich manchmal an eine Katze verfütterte, die in unserer Nähe am Hauseingang saß. Einmal vertilgte sie 8 kleine Plötzen. Ich wundere mich heute noch darüber, wie die Katze diese Menge in ihrem kleinen Magen untergebracht hat. Meine Freunde kamen aus unserem Haus und der näheren Umgebung. Wir spielten gern auf unserem Hof und auf der Wiese neben uns und an der Kirche. Deren Wiesen und Sträucher luden geradezu zum Versteckspielen ein, wie auch der dahinter liegende Lunapark. Ein guter Freund von mir wurde mit uns zusammen und seiner Familie vertrieben. 1947 gingen wir in dieselbe Schule in Leißling bei Weißenfels. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Erst im Jahr 2000 habe ich ihn über das Internet gefunden. Leider verstarb er 2 Monate später in Duisburg, wo er die ganzen Jahre im Bergbau tätig war. Als ich mit ihm sprach, merkte ich schon seine Teilnahmslosigkeit und erfuhr von seiner schlimmen Krankheit. Nach 2 Monaten rief mich seine Frau an und sagte mir, dass er verstorben ist. Zurück zu Landsberg. Meine Großeltern hatten eine 2-Zimmer-Wohnung mit Küche, Klo war eine halbe Treppe tiefer, im Stall auf dem Hof lagerte unser Brennmaterial für die Ofenheizung. Meine Großeltern wohnten und schliefen im vorderen Zimmer, das ein Durchgangszimmer war. Meine Mutter und ich bekamen das hintere Zimmer, in dem auch im Winter kaum geheizt wurde. Da stand auch noch das Klavier meiner Mutter. So lebten wir einige Jahre bis etwa Mitte 1944 dort zusammen. Dann bekamen wir eine eigene Wohnung am Wall 8, auch in Brückenvorstadt, nur wenige Meter von der Warthe und der großen Warthebrücke entfernt. Das Haus war ehemals eine Pension mit Fremdenzimmern. Unten gab es eine Gaststätte und eine Bäckerei. Meine Mutter hatte eine Anstellung als Kassiererin im Kino „Kyffhäuser-Lichtspiele“ angenommen. Da sie manchmal abends nicht wusste, wo sie mich unterbringen sollte, nahm sie mich mit ins Kino. Ich saß dann immer in einer nicht besetzten Loge und konnte mit großer Freude Filme sehen, die eigentlich für Kinder verboten waren. Darunter „Quax, der Bruchpilot“, „Alkazar“ und auch ein U-Boot-Film, in dem das Boot wegen Sabotage zu sinken drohte. Manchmal überredete meine Mutter unseren Gastwirt, mich im Gastraum auf einem Sofa zum Schlafen zu legen. Wenn mir das nicht mehr gefiel, lief ich schon nachmittags zu meiner Oma und übernachtete dort. Da meine Mutter davon nichts wusste, kam sie nach ihrem Dienst zum Haus ihrer Eltern und warf Steinchen gegen die Fensterscheibe – das Haus war ab 8.00 Uhr abends verschlossen – um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn meine Oma ihr durch das geöffnete Fenster sagte, dass ich bei ihr sei, war alles in Ordnung und meine Mutter ging wieder in ihre Wohnung. Die Kinobelegschaft hatte sich im Laufe der Zeit zu einer richtig guten Gemeinschaft entwickelt, in der sich meine Mutter sehr wohlfühlte. Im Jahre 1943 oder 1944 erhielten wir die Nachricht, dass mein Vater an der Ostfront als vermisst gemeldet wurde. Wir wussten, dass das eine Todesnachricht war. Von der Nachricht war meine Mutter wie auch ihre Eltern sehr betroffen, für mich als Kind spielte das keine große Rolle, da ich meinen Vater noch nie gesehen hatte. Mein Vater wurde als Wehrdienstverweigerer verurteilt und ins Landsberger Gefängnis gebracht, später wohl in ein KZ. In den letzten Kriegsjahren wurde das sog. Todesbataillon 999 gegründet, in dem meist Strafgefangene an die vorderste Frontlinie geschickt und als „Kanonenfutter“ geopfert wurden. In diesem Bataillon hat mein Vater gedient und ist dabei in Russland ums Leben gekommen. Ich bedaure sehr, dass ich bei meinen zahlreichen Recherchen im Internet nie etwas über meinen Vater und seine Familie finden konnte. Ich kenne weder sein Geburtsdatum noch seinen Wohnsitz. Ein einziger Hinweis ergab sich bei der Suche durch eine Annonce in der „ Neumärkischen Zeitung“, dass er sich im Mai 1931 mit einer Dame namens Heddy Gläser in dem Städtchen Soldin bei Landsberg verlobt hatte. Ich ging in Landsberg bis etwa Weihnachten 1944 in die Schule und war damals in der 4. Klasse. An die Schule habe ich nicht die beste Erinnerung. In meinem Gedächtnis sind immer nur der Lehrer auf dem Podium (1-2 Stufen höher als die Schülerbänke) und der Rohrstock, der meist längs der Tafel auf den Haltestöpseln lag, haften geblieben. Damit wurden die Jungs wegen geringster Vergehen oder schlechter Leistungen in gebückter Haltung und stramm gezogener Hose geschlagen. So zog uns der Lehrer die Hosen stramm. Einmal wurde ich vom Geigenstock des Gesangslehrers getroffen, der mir dabei eine Wunde unter der linken Augenbraue beibrachte. Sonst weiß ich nicht mehr viel über die Schule zu berichten. Außer, dass wir bei Fahnenappellen immer sehr lange mit zum Hitlergruß erhobenem rechten Arm stehen und uns die Reden und Fanfarenbläser anhören mussten. Das mochte ich nicht. Was mir sehr imponierte, waren die Geländespiele der Hitlerjugend (HJ). Die Jungs hatten schwarze, kurze Manchesterhosen, braune Hemden, Ledergürtel, Lederriemen quer über der Brust an und trugen Fahrtenmesser. Ich war ja erst 9 Jahre, durfte also noch nicht daran teilnehmen. Ich war voller Bewunderung und auch etwas neidisch. Besonders gefielen mir die Fähnriche mit ihren Kordeln und anderen Dekorationen. Eine Attraktion war der Zirkus Brumbach, der genau uns gegenüber sein Winterquartier hatte. Jeden Tag konnte ich die 2 Liliputaner sehen, die uns gegenüber neben dem Tor Tag für Tag viele Stunden standen, die bunten Fahrzeuge und auch die Tiere, Elefanten, Tiger und Löwen. wie sie ihr Futter bekamen. Es waren für mich kleinen Kerl ganz tolle Erlebnisse, auch in den Fahrzeugen zu spielen, z. B. im Fahrerhaus der großen Zirkuswagen oder zwischen den verschiedenen Gerätschaften. Höhepunkte waren der Auszug des Zirkus im Frühjahr und der Einzug im Herbst ins Winterquartier. Da kam der ganze Zirkus mit allen Wagen und Tieren an unseren Fenstern vorbei, das dauerte mehrere Stunden. Im letzten Jahr bin ich sogar bis zum Bahnhof mitgelaufen, um das Verladen auf die Waggons zu beobachten. Natürlich habe ich auch einmal eine Vorstellung des Zirkus Brumbach in Landsberg besucht, um alles mal in Aktion zu sehen. Eines Tages wurde die Straßenbahn, die durch unsere Straße bis zur Roswieser Straße hinausfuhr, eingestellt und durch Oberleitungsbusse ersetzt. Die Leitungen wurden an Betonmasten angebracht, die entlang der Straße errichten wurden. Wir wohnten einerseits gegenüber dem Zirkus und andererseits gegenüber der Lutherkirche mit ihren Grünanlagen und dem angrenzenden Lunapark. Eine ideale Gegend zum Spielen für uns Kinder. Auch nach dem Umzug mit meiner Mutter an den Wall 8 war ich meistens bei meinen Großeltern in der Dammstraße 65 zu finden, wo ich meine Freunde hatte und wo es die besseren Spielmöglichkeiten gab. Außerdem war dort in der Nähe auch meine Schule (Knabenschule II), zu der ich durch den Park gelangte. Einmal fuhren wir mit dem Zug zu der Großmutter meiner Mutter nach Hohensalza (Inowrazlaw) zur Trauerfeier. Der Großvater war 1942 gestorben. Sie hatten dort ein Fuhrgeschäft und besaßen 2 Mietshäuser. In einem großen Garten stand eine Schaukel für vielleicht 10 Personen, da durfte ich mitschaukeln. Wir waren auch auf einer Kirmes mit meiner Mutter und Urgroßmutter, dort konnte man an einer langen Leine aufgehängte Dinge wie Bobontüten, Spielsachen oder Plüschtiere im Vorüberlaufen abschlagen und als Preis behalten. Das fand ich ganz toll. Wir besuchten dann dort in Hohensalza die Essig- und Mostrichfabrik des Onkels meiner Mutter, Alfred, der dort im Ort lebte und seine Mutter betreute. Er war verheiratet und hatte 2 Kinder, die etwas älter als ich waren. Bevor er die Fabrik übernahm, hat er als Dentist gearbeitet. 1945 sind alle zusammen geflüchtet. Zunächst zu Richard nach Berlin, nach kurzem Aufenthalt dort sind sie nach Kempten im Allgäu weitergereist und von dort später nach Villingen im Schwarzwald gezogen, wo meine Urgroßmutter Hulda, am 22.08. 1956 mit ca. 88 Jahren gestorben ist. Alfred und Richard wie Arthur (wohnhaft in Kiel) waren Brüder meiner Oma Helene und Kinder der Hulda. Alfred und Richard haben sich wegen des Erbes der Mutter, das ausschließlich aus einem Lastenausgleich in Höhe von 24 000 DM bestand, heftig gestritten. Arthur war zu diesem Zeitpunkt schon tot, von ihm erbten zwei Kinder zu gleichen Teilen und auch ich 1964 mein erstes Auto, einen Trabant 601. Der Wagen kostete damals im Westen 4100 DM. So behielt ich noch 2000 DM übrig, die ich gegen 8000 Ostmark eintauschen konnte. Zurück zu Landsberg. Ich erinnere mich an einige dramatische Ereignisse: Als ich noch nicht schwimmen konnte, hatten mich mehrere Schüler der höheren Klassen in den Kanal geworfen, mich also an Händen und Füßen gepackt und ins Wasser geschleudert. Dabei hätte ich leicht ertrinken können. Meine Mutter ging mit mir zum Direktor der Schule und beschwerte sich darüber. Das fand ich toll. Wir waren öfter mal baden an den sogenannten Schafspfuhlen, die in der Nähe des Kanals lagen. Meine Mutter saß auf der Wiese, unterhielt sich mit irgendwelchen Bekannten und achtete nicht auf mich, der ich zwar Wasser sehr mochte, aber eben noch nicht schwimmen konnte. So kam es, dass ich allein an einem der kleinen Pfuhle ins Wasser ging. Ich bewegte mich aber nur am Rande entlang, wollte den Pfuhl in Ufernähe umlaufen, so etwa bis zum Bauch im Wasser. Plötzlich kam ich an eine Stelle, wo das Wasser viel tiefer war und ich geriet unversehens unter Wasser. Da ich nicht schwimmen konnte, kam ich mir ziemlich hilflos vor und wäre wohl in Kürze ertrunken, hätte nicht unser Nachbar, Bäckermeister Jordan, mein Untergehen von einem anderen Pfuhl, in dem er gerade badete, zufällig gesehen. Er kam mir zu Hilfe und rettete mich. Später, nachdem ich mir selbst das Schwimmen beigebracht hatte, überraschte ich einmal meine Mutter mit einem Sprung vom 7,5-Meter-Turm, als sie gerade zur Tür des Schwimmbades hereinkam. Dabei blieb ich dann noch extra lange unter Wasser, um ein Unglück vorzutäuschen. Als ich dann an der Leiter wieder auftauchte, war ich ganz stolz auf mein Können. Meine Mutter war beeindruckt und aber auch entsetzt.

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