Ein Leben für die Kinder – Erich Häßler 1899–2005

Ein Leben für die Kinder – Erich Häßler 1899–2005

Kinderarzt und Familienvater zwischen den Jahrhunderten

Gabriele Schluttig


EUR 28,90
EUR 23,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 286
ISBN: 978-3-99130-226-1
Erscheinungsdatum: 27.03.2023
Die Heilung und die Gesunderhaltung von Kindern – das waren Inhalt und Ziel des Lebens des Mediziners Erich Häßler, dem mit 106 Lebensjahren ältesten Kinderarzt Deutschlands. Von seinem Leben und Vermächtnis handelt das Buch „Ein Leben für die Kinder“.
„Die Kinderheilkunde der Zukunft hat die heilbaren Krankheiten zu heilen
und die unheilbaren heilbar zu machen.
Überdies hat sie dafür zu sorgen,
daß die vermeidbaren Krankheiten vermieden werden.
Der Tod des Menschen wird immer unvermeidbar bleiben;
es muß aber vermieden werden, daß Kinder sterben.“

Albrecht Peiper (1951)



Vorwort


Ein ungewöhnlich langes Leben in Gesundheit und tiefer beruflicher Befriedigung geführt zu haben, ist sicherlich eine große Gnade. Eine ebenso große Gnade ist es, dieses reiche und erfüllte Leben im hohen Alter von 106 Jahren als einer der ältesten Kinderärzte der Welt und in unverminderter geistiger Klarheit zu beschließen. Mehr noch, damit über einen außergewöhnlich weiten, vor allem auch persönlich erfahrenen Überblick über die Geschichte der Kinderheilkunde zu verfügen, ist ein Geschenk. Wegweisende und prägende Beiträge für die Erfolgsgeschichte der Kinderheilkunde geliefert zu haben, ist dagegen segensreiche Leistung.
Im neunzehnten Jahrhundert entwickelte sich aus der Inneren Medizin heraus ein neues, eigenes Fach – die Kinderheilkunde. 1894 wurde mit Otto Heubner der erste deutsche Lehrstuhl für Pädiatrie etabliert. Professor Otto Heubner gilt als einer der Väter der Kinderheilkunde.
Erich Häßler wurde 1899, fünf Jahre nach diesem Meilenstein der Medizingeschichte, in das Deutsche Kaiserreich hineingeboren und sollte in seinem Leben mit Otto Heubner in vielerlei Hinsicht in Kontakt kommen. Man schreibt 1913, als Professor Heubner im Alter von siebzig Jahren in der Charité seine Abschiedsvorlesung hielt. In dieser Zeit entwickelt sich Erich Häßlers Wunsch, Medizin zu studieren.
Seit seiner eigenen Diphtherie-Erfahrung in der frühen Kindheit hat er ein lebhaftes anatomisch-physiologisches Interesse entwickelt. Erste Anatomie-Vorlesungen erhält er von seiner Mutter in der Küche bei der Obduktion von Hühnern und Kaninchen. Und Erich stellt Fragen über Fragen. So wird es ein Leben lang bleiben.

Es waren in dieser Zeit vor allem die Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Kinderlähmung, die häufig zu einer hohen Sterblichkeit im Kindesalter geführt haben. Vor dem Ersten Weltkrieg erlebten nur etwa 63 % der lebendgeborenen Kinder ihren 10. Geburtstag. Erst in den 1920er-Jahren war es durch die Entwicklung von Impfstoffen und die Verbesserung der Ernährungs- und Hygienebedingungen möglich geworden, diese Infektionskrankheiten wirkungsvoll zu bekämpfen.
1923, als junger Kinderarzt auf seiner ersten Hilfsassistentenstelle in der Kinderklinik Dresden, behandelt Erich Häßler vor allem Kinder, die an Keuchhusten und Diphtherie erkrankt waren. In diesen Jahren konnten Kinderärzte nur versuchen, die Leiden der Kinder zu mindern, denn noch standen Antibiotika nicht zur Verfügung. Oftmals waren Ärzte in dieser Zeit auch anderen Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, Scharlach, Masern und Ruhr gegenüber hilflos.
Vorbeugung und Behandlung, Prophylaxe und Therapie von Infektionskrankheiten standen immer im Mittelpunkt der ärztlichen und naturwissenschaftlichen Arbeiten von Erich Häßler.

Es war sein großes Verdienst, mit der Penicillin-Behandlung eine Ende der 40er-Jahre auftretende Scharlach-Epidemie in Chemnitz erfolgreich eingedämmt zu haben. Dabei wurden nicht nur Neuinfektionen vermieden, sondern Mortalität und die Komplikationsrate bei Kindern gesenkt und die Verweildauer der kleinen Patienten im Krankenhaus drastisch reduziert. Ein weiteres hohes Verdienst des schon fast Sechzigjährigen, vor allem basierend auf seinem persönlichen Engagement, ist die Erhöhung der Impfbereitschaft zur Eindämmung der Tuberkulose während seiner Zeit als Direktor der Jenaer Kinderklinik.

Bei der Betrachtung seines Lebens beeindruckt vor allem die Zielstrebigkeit, das zu erreichen und zu leben, was er von Jugend an gewollt hatte – Arzt für kranke Kinder zu sein.

Durch diese Zielstrebigkeit und Konzentrationsfähigkeit gelang es ihm, in mehreren Gesellschaftssystemen stets einzig das kranke Kind in den Mittelpunkt seines Lebens und Arbeitens zu stellen, immer und ausschließlich auf der Suche nach Verbesserung der Behandlungen seiner Leiden. In einem seiner letzten Vorträge sprach Professor Erich Häßler über den Wandel des Krankheitsbildes in den letzten 100 Jahren:

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann notwendige Maßnahmen der Gegenwart verstehen. Nur wer die verheerende Wirkung der Infektionskrankheiten, einschließlich der Tuberkulose, erlebt hat, kann die Notwendigkeit aktiver Impfungen begreifen.“

Das stetige Suchen nach neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten, Krankheiten zu erkennen und ärztliche Mittel und Wege zu finden, sie wirkungsvoll zu bekämpfen, war und ist Aufgabe und zugleich hohes Privileg der Ärzte und Wissenschaftler. Professor Erich Häßler war eine Persönlichkeit, die über eine Periode von mehr als sechzig Jahren die Kinderheilkunde aktiv gestaltet und an deren Entwicklung bis ins höchste Alter interessierten Anteil genommen hat. Er sprach zu seinen Schülern euphorisch von den Chancen einer Heilung und in großem Vertrauen darauf, dass es immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse geben werde, die nicht hoch genug wertgeschätzt werden könnten, da nur durch sie die Gesundheit unserer Kinder und damit unsere Zukunft bewahrt werden können. Er war nicht nur ein überzeugter und überzeugender Kinderarzt, sondern gleichzeitig in allen Lebensbereichen Vorbild für seine Studenten und Mitarbeiter und nicht zuletzt auch für seine eigenen neun Kinder.
Und so ist er im Gedächtnis derer geblieben, die sich noch heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Heimgang, entweder daran erinnern, seine kleinen Patienten gewesen zu sein, oder daran, wie der Doktor Häßler ihnen als jungen Eltern in höchster Not und Sorge um ihr Kind als Arzt und Mensch mit Wärme und Wissen geholfen hat.

Mit Freude durfte ich mich dem Leben und Wirken Erich Häßlers nähern, mit höchster Achtung ist der vorliegende Text entstanden. Auch die vielfache und freudige Unterstützung durch diejenigen, die Professor Erich Häßler, einer der wohl ältesten Kinderärzte der Welt, kannten, haben mich darin bestärkt, dass es nützlich wäre, die hier vorliegenden Skizzen aus seinem Leben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Lauta, im Dezember 2022

Dr. Gabriele Schluttig



Kindheit und Jugend
(1899–1914)


April 1899
In acht Monaten wird ein neues Jahrhundert beginnen.

Für das Ehepaar Otto und Ida Häßler, geborene Uhlmann, begann bereits am 22. April 1899 eine neue Zeit. Der Tag war ein Sonnabend und gegen 16.00 Uhr wurde ihnen das erste Kind geboren – ein Sohn, den sie Fritz Otto Erich nannten. Erich wurde sein Rufname.

Später sollte er lernen, dass der 22. April auch der Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin, Immanuel Kant und Robert Bárány ist, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der als erster Österreicher den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt.

Der Vater Otto Häßler war das zwölfte Kind eines Bauern aus der Umgebung von Leipzig. Er erlernte den Beruf eines Kaufmanns und pachtete in der Wurzener Straße in Leipzig ein Geschäft. Die Mitgift seines Schwiegervaters ermöglichte den käuflichen Erwerb dieses Grundstückes und später auch den des Nachbargrundstückes. Die Familie konnte dadurch eine Wohnung mit vier Räumen in der 2. Etage des Hauses bewohnen.

„Der Korridor der Wohnung eignete sich für uns Kinder ausgezeichnet zum Kegel-Schieben und wurde deshalb ‚Kullerkorridor‘ genannt.“

Die Mutter Ida Häßler stammte aus Bad Schmiedeberg. Von ihrem Großvater wurden die „Locken“ in der Familie vererbt, die man noch heute bei manchem Enkel von Erich Häßler findet.

Das Kolonialwarengeschäft in Leipzig, verbunden mit einer Futtermittelhandlung und einer eigenen Kaffee-Rösterei, florierte gut. Der Tagesumsatz soll im Durchschnitt 1.000 Mark betragen haben.

Am 24. Juni 1901 wurde die Schwester Johanna geboren.

Die Wurzener Straße war sehr verkehrsreich und der Hof des Hauses eng. Auf diesem hielt der Vater außerdem noch in einer Voliere Hühner und bis zu fünfzig Paar Tauben. Um einen familienfreundlichen Platz zu haben, pachtete er etwa fünfzehn Minuten stadteinwärts einen Schrebergarten mit Obstbäumen, einer Laube und einer Schaukel für die Kinder. Neben den Obstbäumen gab es im Garten eine Blumenrabatte, u. a. mit Rosen, darunter auch eine Neuzüchtung: eine gelbe Stockrose. Ein besonderer Stolz von Erich war sein eigenes Beet. Die Liebe zu seinem Garten und besonders zu Rosen blieb sein ganzes Leben lang erhalten.

In der damaligen Zeit durften Mütter mit einem Kinderwagen nicht den Bürgersteig benutzen, sondern hatten den Wagen auf der Fahrbahn zu schieben. Die Mutter von Erich und Johanna, die noch im Kinderwagen lag, wurde einmal auf ihrem Weg in den Schrebergarten von einem Schutzmann darauf aufmerksam gemacht und vom Bürgersteig verwiesen.

Die Kinder verbrachten einen großen Teil der Sommer bei den Großeltern in Bad Schmiedeberg. Häufig wurden Ausflüge in die Dübener Heide unternommen, man konnte für fünf Pfennige mit der Eisenbahn bis nach Loschwitz fahren. Wenn die Großmutter mitkam, blieb sie allerdings im erstbesten Restaurant sitzen. Besonders die Jahreszeit, in der Heidelbeeren und Pilze gesammelt wurden, war für die ganze Familie interessant. Bis in das hohe Alter bewahrte sich Erich Häßler die Lust am Wandern und das Interesse am Pilzesuchen. Die Großmutter selbst verwendete nur Steinpilze und Pfifferlinge, andere zu probieren, dazu war sie nicht zu bewegen.

Eine andere Erinnerung aus der Kindheit wird Erich Häßler bis an sein Lebensende begleiten.

„Von den sonstigen Geschenken [Anm.: gemeint sind Weihnachtsgeschenke] erfreuten mich immer wieder besonders schon angetriebene Hyazinthen in Gläsern und Krokusse in länglichen Glasschalen.“

Wann immer in der Zeit nach 1961 Kinderärztetagungen in der Bundesrepublik stattfanden, brachte er von dort Hyazinthenzwiebeln mit und zog diese während der Weihnachtszeit in Töpfen vor. Alle Kinder und Schwiegerkinder, die in den Wintermonaten Geburtstag hatten, bekamen von ihm jährlich eine blühende Hyazinthe geschenkt.

1905 meldete ihn sein Vater zur 1. Höheren Bürgerschule an, nur Knaben wurden aufgenommen. Sein Schuljahr begann nach Ostern und auf den Straßen lagen noch Schneehaufen.
Das „Höhere“ bezog sich auf das Schulgeld, dafür konnte die Schülerzahl in den Klassen relativ klein gehalten werden. Nach dem 4. Schuljahr wechselte die Mehrzahl der Schüler auf eine Realschule oder ein Gymnasium. In diesem betrug die Schulzeit nochmals 9 Jahre und endete mit dem Abitur.

In der Weihnachtszeit des 2. Schuljahres erkrankte Erich Häßler an Halsbeschwerden. Nach einem Abstrich erklärte der Hausarzt, es handele sich um Diphtherie und er müsse dem Kind eine Spritze in den Oberschenkel geben.

Noch im 19. Jahrhundert starben in Deutschland jährlich etwa 50.000 Kinder an Diphtherie, die Krankheit wurde einst als „Würgeengel der Kinder“ bezeichnet. Diese Bezeichnung rührt daher, dass die Kinder meist sehr qualvoll durch Ersticken starben. Ursache für die Erkrankung ist eine Infektion mit dem Bakterium Corynebacterium diphtheriae, dessen Toxin zu massiven Schwellungen im Hals führt.

Erst im Jahr 1890, nach der Entdeckung und Entwicklung eines Diphtherieimpfstoffes durch Emil von Behring, wurde es möglich, die bis dahin klassische Behandlung durch einen Luftröhrenschnitt abzulösen. Das Gegenmittel gegen das Diphtherie-Toxin (passive Impfung) neutralisiert dieses, wenn es sich frei im Körper befindet. Allerdings kann es nichts gegen jenes Toxin ausrichten, das bereits an Körperzellen gebunden ist. Deshalb kam es darauf an, bei Diphtherieverdacht so schnell wie möglich zu handeln.

Im Jahr 1901 erhielt Emil von Behring für seine Arbeiten den ersten Nobelpreis für Medizin.

Nach Einschätzung des späteren Mediziners Erich Häßler [Anm.: gemeint: 1980er-Jahre] hat der Hausarzt der Familie Häßler zu lange mit der Behandlung gewartet. Die Folge war bei dem Kind Erich eine Stimmbandlähmung, er wurde tonlos und konnte längere Zeit die Schule nicht besuchen. In sein Zensurenbuch schrieb der Lehrer in allen Fächern eine 0, die Versetzung in die nächste Klasse erfolgte aber trotzdem.

Bedingt durch die eigene Krankheit, begann Erich in dieser Zeit sein erstes anatomisches Interesse zu entwickeln. Er war immer dabei, wenn seine Mutter ein geschlachtetes Huhn für das Essen vorbereitete. Sie musste ihm jedes der ausgenommenen Organe zeigen und eingehend erklären.

Im September 1907 verlor Erich seinen Vaterdurch dessen Freitod. Dieser hatte Verbindlichkeiten unterschrieben, die zu diesem Zeitpunkt fällig wurden, für deren Begleichung aber kein Bargeld vorhanden war. Sein Schwiegervater, der Schmiedeberger Großvater trat zwar für die Verbindlichkeiten ein, aber für die Familie Häßler änderte sich vieles – das Geschäft wurde verpachtet, die Wohnung verkleinert und vor allem der von Erich geliebte Schrebergarten aufgegeben.

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