Die Oama-Bauern und ihre Familien

Die Oama-Bauern und ihre Familien

Versprengt von den Wirren der Zeit

Gerhard Schmidberger


EUR 32,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 542
ISBN: 978-3-99130-360-2
Erscheinungsdatum: 24.04.2024
Dieses erzählerische Zeitgemälde über mehrere Generationen des 20. und 21. Jahrhunderts besticht durch multiperspektivisch konstruierte biografische Begebenheiten. Besondere Begegnungen innerhalb der Wirren der Zeit machen den besonderen Reiz dieses Buchs aus.
1. ANDREAS SCHMIDBERGER

Eigentlich wollte ich in meiner Kindheit und frühen Jugend Missionar in Afrika werden und dort als solcher arbeiten, auch wenn dies immer ein Dorn im Auge meines Vaters gewesen ist. Meine Mutter, Katharina Schmidberger, sagte dazu gar nichts, da sie dies nur für eine blödsinnige Spinnerei eines Kindes hielt. Wie ich darauf gekommen bin, weiß ich selbst nicht mehr so genau. Ich bin zwar katholisch erzogen worden und habe lange Zeit zu den Georgspfadfindern gehört. Doch denke ich, dass es weniger die Religion war, die ich dort verbreiten wollte, als mehr der Traum von Afrika, der mich auf solche Gedanken kommen ließ.
Als unser Vater dann plötzlich schwer krank wurde, habe ich medizinische Bücher gelesen, um zu verstehen, warum es ihm so schlecht ging. Wenige Tage vor seinem Tod war er zum letzten Mal, vollkommen kachektisch infolge seines Pankreaskarzinoms, das sich in seinem gesamten Bauch ausgebreitet hatte, bei uns zu Hause. Unser Vater war dürr und eingefallen, sein Bauch hingegen massiv aufgeschwollen durch den vielen Aszites, der sich darin entwickelt hatte.
Als er so zum letzten Mal auf unserer Terrasse in der Sonne vor unserem Haus auf der Liege lag, die wir für ihn aufgeschlagen hatten, habe ich ihm verkündet, nicht mehr Missionar, sondern Chirurg werden zu wollen. Dies war wohl die letzte Freude, die er in seinem Leben erhalten hat.
Allen seinen Freunden, die gekommen waren, um sich von ihm zu verabschieden, berichtete er voller Stolz von meinem neuen Berufsziel.
Für mich war dies ein Versprechen, das ich mich einzulösen verpflichtet fühlte.
Vielleich sollte ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass ich zwei Geschwister hatte: eine zwei Jahre ältere Schwester namens Johanna und einen drei Jahre jüngeren Bruder mit Namen Klaus. Ich selbst heiße Lukas.
Unser Vater, Andreas Schmidberger, soll angeblich in Passau aufgewachsen sein, wo er von seiner Pflegemutter, Elisabeth, allein großgezogen wurde. Einen Vater hatte er offensichtlich nie gekannt. Auf unsere Frage, was mit seinen richtigen Eltern, also unseren eigentlichen Großeltern, passiert sei, erhielten wir nur zur Antwort, dass sie bereits verstorben seien. Mehr war nicht aus unserem Vater herauszubekommen. Anscheinend gab es da ein Geheimnis, über das unser Vater nicht sprechen wollte.
Da er in der Volksschule sehr gute Noten schrieb, durfte er ins Gymnasium überwechseln, was damals für Kinder armer Eltern äußerst ungewöhnlich war. Um eine Lehrerbildungsanstalt besuchen zu können, zog er nach dem Abitur nach Landshut, wo er unsere Mutter Katharina kennen lernte. So wurde es uns jedenfalls berichtet. Da Elisabeth früh verstorben zu sein scheint, sind wir Kinder unserer Großmutter nie begegnet. Unser kleines Haus am Stadtrand von Landshut hat unsere Mutter Katharina von ihren Eltern geerbt, die wir zwar gekannt haben, die aber beide schon verstorben sind.



2. DIE SCHAFKOPFFREUNDE

Es waren seither viele Jahre vergangen. Mein Medizinstudium hatte ich vor kurzem abgeschlossen. Johanna ist Lehrerin geworden. Klaus studierte Theologie. Er hatte meinen ursprünglichen Lebenstraum übernommen, in Afrika zu missionieren und als Priester zu arbeiten. Unsere Schwester war immer unsere Chefin. Sie gab den Ton an. Klaus und ich hatten nur eine Chance, uns gegen sie durchzusetzen, wenn wir uns zusammentaten. So kam es, dass Klaus und ich immer zusammenhielten und uns unglaublich gut verstanden und liebten.
Klaus und ich hatten eine Schafkopfrunde. Unsere beiden Partner beim Kartenspiel hießen Reinhard Hinterseher und Bernhard Habersetzer. Diese beiden Herren kannten wir bereits seit unserer frühen Kindheit. Wir sind zusammen aufgewachsen, waren zusammen bei den Georgspfadfindern, haben Zeltlager und Georgsläufe mitgemacht. Gemeinsam haben wir in unserer Pfarrei St. Martin in Landshut ministriert und an Ministrantenausflügen mit unserem Pfarrer teilgenommen, die bis zum Bodensee gingen. Zur Korbinianswallfahrt sind wir mehrmals nachts von München nach Freising gewandert, haben im Domgymnasium auf Lagern übernachtet und uns am nächsten Vormittag an Diskussionen mit unserem Bischof beteiligt.
So lange Freundschaften festigen Bindungen untereinander, die normalerweise ein ganzes Leben lang halten.
Reinhard war mittelgroß und hatte ein recht gutaussehendes Gesicht. Er war eher der intellektuelle Typ, wohingegen Bernhard recht groß und breitschultrig war und eher einem zupackenden, handwerklichen Typ entsprach.
Zum letzten Mal trafen wir uns zum Spielen im Sommer 1939. Überall hatten die Leute Angst vor einem möglichen Krieg, der in der Luft lag.
Ich hatte seit dem Frühjahr mein Studium abgeschlossen und arbeitete als Assistenzarzt auf der Chirurgie im städtischen Krankenhaus von Landshut. Reinhard war Jurist und Bernhard Krankenpfleger geworden. Klaus befand sich am Ende seines Theologiestudiums. Er war Pazifist und hasste Krieg.
Unser Vater hatte im I. Weltkrieg kämpfen müssen. Seine Erzählungen darüber waren schrecklich.
Er berichtete uns oft, wie sie vor Verdun im Schützengraben lagen und um jeden Meter Landgewinn hart kämpften, wie die Granaten neben ihnen einschlugen und seine Kameraden zerfetzten, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach und er, vor Angst gelähmt, sich nicht mehr bewegen konnte. Er hatte eine Hölle durchlebt, die er Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen konnte.
An eine Begebenheit, die er uns erzählte, habe ich oft denken müssen. Sie saßen zu dritt im Schützengraben. Es nieselte und war kalt und klamm. Sie froren. Ihr vorgesetzter Offizier versuchte aus Neugierde zu erkunden, was auf der anderen Seite vor sich ging, indem er immer kurz seinen Kopf aus dem Graben reckte und hinübersah. Unser Vater riet ihm, seinen Kopf unten zu lassen, damit er nicht getroffen würde. Als Offizier glaubte er, sich nicht nach den Ratschlägen seiner Leute richten zu müssen. Die Kugel traf ihn unterhalb des Helms in die Stirn. Er war sofort tot. In dem schlammigen, feuchten Morast benutzten seine Untergebenen seinen Leichnam als Stuhl, um bequemer sitzen zu können.
Solche Geschichten hören sich schrecklich an und waren doch Realität in solchen Kriegen.
Ein anderes Mal hat meinem Vater eine Flasche Wein das Leben gerettet, die er als Geburtstagsgeschenk von seinen Kameraden erhalten hatte. Als der Befehl zum Rückzug gegeben wurde, sprangen er und seine Kameraden aus dem Schützengraben, um zurückzulaufen, bis Vater einfiel, dass er seinen Wein im Graben vergessen hatte. Er sprang nochmals in den Graben zurück, als im gleichen Moment eine Granate dort einschlug, wo er gerade noch gestanden hatte, und seine Kameraden zerfetzte. Der Wein hat ihm das Leben gerettet.
In einer weiteren Geschichte berichtete Vater uns, wie ein Freund von ihm versehentlich zum Kriegshelden deklariert wurde. Sie lagen erneut im Schützengraben, den Franzosen gegenüber. Diese waren dabei, die Oberhand zu gewinnen, weshalb bei den Deutschen der Befehl zum Rückzug gegeben wurde. Die Soldaten sprangen aus ihren Schützengräben und rannten nach hinten los, weg vom Feind. Als die Franzosen dies bemerkten, kamen sie ebenfalls aus ihren Schützengräben heraus, um nachzurücken. Vaters Freund hatte den Befehl zum Rückzug überhört, weshalb er im Graben blieb, und mit seinem Maschinengewehr weiter schoss. Auf diese Weise traf er mehrere französische Soldaten, die aus dem Graben herausgekommen waren, um nachzurücken, und keinen Schutz mehr hatten. Als die Franzosen bemerkten, dass sie in eine Falle gelaufen waren, zogen sie sich wieder in ihre Gräben zurück. Sobald die Deutschen dies wahrgenommen hatten, kamen auch sie zurück und nahmen ihre alten Stellungen wieder ein. Vaters Freund war auf diese Weise ungewollt zum Kriegshelden aufgestiegen. Wie er es psychisch verkraftet hat, so viele Franzosen erschossen zu haben, kann ich nicht sagen.
Als wir so zum Kartenspielen zusammensaßen und über einen möglichen Krieg zu reden begannen, sagte ich zu den anderen, dass ich mich, falls es zum Krieg käme, zur Marine melden würde, um dem Kampf Mann gegen Mann entgehen zu können.
Unser Haus war klein. Es bestand aus einer Küche mit Holzofen, auf dem Wasser zum Waschen und Kochen warmgemacht wurde, einem mäßig großen Wohnzimmer mit Couch und zwei Stühlen und einem Tischlein, sowie einem Radio, über das wir in späterer Zeit die Propagandanachrichten der Nazis empfingen, als die Angst vor einem erneuten Krieg immer größer wurde.
Eine Toilette mit Toilettenschüssel ohne Waschbecken schloss sich einem kleinen Hausgang an, von dem neben dem Wohnzimmer auch noch das Elternschlafzimmer abging. Eine Außentreppe führte zum ersten Stock hinauf, wo wir Kinder jeweils ein Zimmer für uns bewohnen konnten. Die Zimmer waren durch einen Gang verbunden.
Zur Toilette und zum Waschen mussten wir allerdings ins Parterre hinabsteigen, wobei der Stuhlgang nach draußen in eine Versitz Grube lief und das Waschen in der Küche stattfand, da man nur hier Wasser mit unserem Holzofen erwärmen konnte, das wir vom Brunnen im Garten holen mussten. Die Heizung des ganzen Hauses lief über diesen Holzofen, was besonders im ersten Stock im Winter wenig Wärme brachte, so dass wir zu dieser Jahreszeit in unserer Kindheit recht häufig froren.
Der Garten war hingegen ziemlich groß, so dass wir unser Obst und Gemüse fast gänzlich selbst anbauen konnten, was mein Vater genau genommen furchtbar hasste. Ich werde nie vergessen, wie ich als Kind meinen Vater fluchen hörte, wenn er dabei war, unser Gemüsebeet zu bearbeiten.
Wir hatten aber auch zahlreiche schöne Blumen im Garten. Am meisten begeisterte mich ein Schmetterlingsstrauch mit seinen vielen blauen Blüten, auf denen sich ungezählte Schmetterlinge tummelten. Ich musste oft daran denken, wie ich zeitweise lange davorgestanden bin, um diese herrlichen Tiere zu beobachten.
Es war ein lauer Sommerabend, als die Sonne bereits untergegangen war, dennoch aber eine gewisse Schwüle in meinem Zimmer im ersten Stock unseres Hauses herrschte, in dem wir auf meinem Bett – das wir zu einer Couch umgeklappt hatten, die sich so in die Mansarde einschmiegte, dass man gerade noch darauf sitzen konnte – und zwei Stühlen um eine Art Campingtisch herumsaßen. Klaus und ich hatten uns auf der Couch niedergelassen und die beiden anderen mussten mit den einfachen Stühlen vorliebnehmen.
Mit Ausnahme einiger bunter, selbst gemalter Aquarellbilder, die auf der weiß gekachelten Wand von einer heilen Welt sprachen, die gerade dabei war, zusammenzubrechen, war mein Zimmer vollkommen einfach und schmucklos eingerichtet. Am besten gefiel mir noch der braune Holzboden.
Von dem kleinen Fenster mit weißem Rahmen, das man nach Süden hin hätte öffnen können, das wir aber wegen der Mücken geschlossen lassen mussten, die in diesem Sommer eine besondere Plage darstellten, drang nur noch wenig Licht herein, so dass die schwache Deckenlampe als einzige Lichtquelle diente, die das Zimmer aber nur matt erhellte. Auf der anderen Seite führte eine einfache Holztüre zum Gang hinaus, der unsere drei kleinen Zimmer miteinander verband.
Trotz der Schweißperlen auf unseren Gesichtern, die wir von Zeit zu Zeit abwischten, versuchten wir uns auf das Kartenspiel zu konzentrieren. Vor allem Klaus mit seinem fein geschnittenen, fast mädchenhaft schönen Antlitz wirkte angespannt, beinahe verzweifelt. Mit seiner schwarzen Hose und seinem weißen Hemd versuchte er sich bereits ein priesterliches Aussehen zu geben, wohingegen wir drei anderen ziemlich leger gekleidet waren mit einfacher Hose und bunten Hemden. Meines war überwiegend rot gesprenkelt, während bei dem von Reinhard die Blautöne überwogen. Das Hemd von Bernhard war einfarbig grau.
Die Luft war zum Schneiden in dem kleinen Zimmer, da Reinhard, als einziger Raucher unter uns, sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten nach der anderen ansteckte, so dass sich die Kippen im Aschenbecher vor ihm nur so stapelten.
Vom Wohnzimmer, in dem Johanna und unsere Mutter saßen, drang sanft plätschernde Musik aus dem Radio zu uns herauf, die mich beinahe zum Träumen brachte, vor allem als das Lied von Lilly Marlen gebracht wurde, das ich am meisten liebte.
Wenn mich Reinhard mit seinen hübschen, blauen Augen anblickte, verzog manchmal ein nervöses Zucken seinen rechten Mundwinkel, so dass ich glaubte, die Zigarette in seinem Mund hin und her wackeln zu sehen.
Ob der Alkohol daran schuld war, von dem wir bereits etwas zu viel genossen hatten, oder ihre Verluste beim Kartenspiel oder überhaupt die angespannte Situation, die im Sommer 1939 überall zu spüren war, als so viele Menschen vor einem erneuten Krieg Angst hatten, dass Klaus und Bernhard sich so in einen Streit hineinsteigerten, kann ich nicht sagen. Einem Beobachter von außen wäre die ganze Situation in unserem halbdunklen Zimmer, in dem wir Mühe hatten, unsere Karten überhaupt zu sehen, sicherlich gespenstisch erschienen. Reinhard sah ihnen mit großen Augen zu, ohne etwas zu sagen, wobei er offensichtlich so vom Streit dieser beiden, deren Köpfe mittlerweile vor Ärger rot anliefen, fasziniert war, dass er sogar vergaß, seine Zigarette anzuzünden, die bereits in seinem Mund steckte.
Klaus wetterte furchtbar gegen diese schrecklichen Nationalsozialisten, die eine solch enorme Kriegsgefahr heraufbeschwören würden. Bernhard, als großer Bewunderer der Nazis, hielt dagegen und meinte, sie hätten Deutschland nach verlorenem I. Weltkrieg, der ihnen diesen schrecklichen Versailler Friedensvertrag eingebracht hatte, und Reparationszahlungen, nach Weltwirtschaftskrise und Inflation wieder hochgebracht.
Ich hatte viele Solos gespielt und war dabei, zu gewinnen. Bei mir stapelten sich die Geldstücke der anderen, die sie an mich abliefern mussten, da ich eine tolle Gewinnserie hatte. Bei Reinhard hielten sich Gewinn und Verlust die Balance, Klaus und Bernhard mussten bezahlen. Vielleicht lag es auch am Bier, von dem sie in ihrem Frust mittlerweile etwas zu viel getrunken hatten, dass ihre Diskussion über den Krieg, die Nazis und die Verhältnisse in Deutschland so eskalierte. Während Reinhard und ich uns zurückhielten, begannen sich Bernhard und Klaus irgendwann anzubrüllen. Klaus schimpfte über die Nazis; Bernhard verteidigte sie. Dies ging so weit, dass sie sich fast die Köpfe eingeschlagen hätten, wäre ich nicht eingeschritten und hätte schlussendlich gesagt: „Liebe Leute, für heute reicht es. Wir beenden unser Spiel. Ihr geht nach Hause.“ Damit waren Reinhard und Bernhard gemeint, da das Spiel bei uns zu Hause stattfand. „Klaus und ich legen uns schlafen.“ Die beiden Streithähne waren so aufeinander eingeschossen, dass Reinhard und ich Mühe hatten, sie zu trennen. Letztendlich verabschiedeten sie sich und verschwanden. Klaus konnte ich hinterher kaum beruhigen, so sehr hatte er sich in den Streit mit Bernhard verbissen.
So unschön, wie dieser Abend endete, so fröhlich hatte er ursprünglich begonnen. Unsere Mutter und Johanna hatten für unsere Gäste eine gute Flasche Rotwein entkorkt, die sie am Vortag eigens für dieses Ereignis im Geschäft gekauft hatten, zusammen mit einem Korkenzieher, da ein solcher bisher in unserem Haushalt nicht vorhanden war, damit wir, wie Mutter es vorschlug, auf einen gelungenen Abend und eine friedliche Zukunft anstoßen könnten.
Im Radio erklangen sanfte, melodische Lieder, die zu einer entspannten, beruhigenden Atmosphäre beitrugen, wodurch sich angenehme Gespräche zwischen den einzelnen Leuten entwickelten, wobei mir besonders Johanna und Reinhard auffielen, wie sie sich ausgesprochen angeregt unterhielten. Sie schienen sich sehr gut zu verstehen, was meine Meinung bestärkte, wonach Johanna schon seit längerer Zeit heimlich in Reinhard verliebt war. Dass er ihr zumindest sehr gut gefiel, war für mich nicht zu übersehen.
Zu diesem Zeitpunkt sprachen sogar Klaus und Bernhard noch recht freundlich miteinander.
Viel Zeit blieb nicht für solche Gespräche, da wir schließlich zur Sache, sprich zum Kartenspiel, schreiten mussten, wofür wir uns eine Etage höher zu begeben hatten.



3. DIE VERHAFTUNG

Am nächsten Morgen war Klaus ziemlich verkatert. Er klagte über Kopfschmerzen und Übelkeit. Johanna brachte ihm etwas zu trinken. Unsere Mutter hatte Mitleid mit ihm und fragte, was gestern alles geschehen wäre, dass er immer noch so aufgewühlt sei.
Mutter und Johanna richteten Frühstück her. Beim Essen berichtete ich über den gestrigen Streit.
Mutter mahnte zur Vorsicht. Über die Nazis zu schimpfen könnte heutzutage gefährlich sein. Die Wände hätten Ohren, meinte sie. Ich sagte, dass man unter Freunden zwar streiten könne, dass man aber nicht denunziert würde. Kaum hatte ich dies ausgesprochen, als es auch schon an der Türe klopfte. Johanna öffnete neugierig unsere Eingangstüre und fragte sich, wer denn zu so früher Stunde uns beim Frühstücken stören würde. Draußen standen zwei uniformierte, ziemlich unsympathisch aussehende Herren, die nach Klaus Schmidberger fragten. Als Klaus erstaunt aufstand und sagte, dass er dies sei, erklärte der ältere der beiden Herren, dass sie einen Haftbefehl gegen Klaus Schmidberger hätten wegen Beleidigung unseres Staates. Wir waren entsetzt. Mutter begann zu weinen. Ich umarmte Klaus und drückte ihn fest an mich. Sollte Bernhard ihn wirklich denunziert haben? Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte ihn bisher zwar für etwas fanatisch, im Grunde genommen aber für harmlos und gutmütig gehalten. Dass er fähig sein könnte, seinen Freund den Nazis auszuliefern, hätte ich mir nie vorstellen können. Johanna stellte sich vor Klaus und schrie die Herren von der Gestapo an: „Lasst unseren Bruder in Ruhe. Er hatte doch nur zu viel Bier getrunken.“ Der jüngere der beiden, der bei mir einen besonders fanatischen Eindruck hinterließ, schob Johanna unsanft zur Seite und legte Klaus Handschellen an. Wie einen Schwerverbrecher führten sie ihn ab. Ich lief Klaus nach, bis er in dem Kastenwagen verschwand, in dem bereits mehrere Soldaten warteten. Gleich darauf fuhren sie ab. Mutter und Johanna heulten. Ich war verzweifelt und versuchte die beiden zu trösten, indem ich sagte, dass er vielleicht bald wieder freikommen würde, dass sie erkennen würden, dass der Streit von gestern Abend nur durch den Alkohol zustande gekommen sei. Einem künftigen Priester würde man nichts antun, fügte ich noch hinzu, obwohl ich bereits zu ahnen begann, dass wir Klaus nie wiedersehen sollten.
Zu erwähnen bleibt noch, dass der jüngere der beiden Gestapomänner, der Klaus die Handschellen anlegte, ein durch massive Akne wie pockennarbig verunstaltetes Gesicht hatte, dem kalte, böse blickende Augen einen fast gruseligen Ausdruck verliehen, so dass ich richtig entsetzt war, als ich ihn erblickte. Der andere Herr hingegen, der sich mehr im Hintergrund hielt und den jüngeren agieren ließ, hatte einen völlig normalen, ernst und entschlossen wirkenden Gesichtsausdruck, von dem ich den Eindruck bekam, dass ihm die Situation fast etwas unangenehm und peinlich war.
Von meinen tollen Freunden Reinhard und Bernhard habe ich nichts mehr gehört. Ich wollte sie nie wieder sehen. Vor allem Bernhard, den Denunzianten, hasste ich aus tiefstem Herzen.
Ich habe Zeit meines Lebens nach meinem Bruder gesucht. Viel später habe ich erfahren, dass man ihn nach Dachau ins Konzentrationslager gebracht hat. Von dort soll er in ein anderes Konzentrationslager überführt worden sein, wo sich seine Spur verlor. Wahrscheinlich ist er entweder verhungert oder irgendwo erschossen worden.

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