Der Minus
Ayman Al Nasser
EUR 20,90
EUR 12,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 100
ISBN: 978-3-99048-966-6
Erscheinungsdatum: 03.07.2017
In Nordkorea erlebt der mit kulturspezifischen Ängsten und Komplexen beladene Minus ein Migrantenschicksal. - Eine kritische Betrachtung von Umständen, die überall zu Missverständnissen, Vorurteilen, Verunsicherung und Ausschluss führen können.
Der Minus wollte immer Anthropologie studieren, er kommt eigentlich aus einer ausgestorbenen Kultur. Primitive, musikalische Schreie sollten Minus und seine Mitüberlebenden aus tiefer Trauer wecken. Der Minus hat aus Langeweile einen Artikel über die weißen Gorillas auf dem bitteren Berg im Norden Japans gelesen. Diese Art ist vom Aussterben bedroht, weil sie sich bei Verlust eines beliebten Mitglieds treu einer kollektiven Zeremonie hingeben, und die weißen Gorillas bleiben dabei hängen, dass sie irgendwann schwer depressiv werden. Infolge ihrer Depression verweigern sie jegliche Ernährung, bis sie sterben. Der gute, belastete Minus bringt seine Vorgeschichte in Zusammenhang mit diesem Artikel und glaubt fest daran, dass dieselben musikalischen, primitiven Schreie den Gorillas helfen würden, ihre Trauer rechtzeitig abzuschließen, daher hat er ein Bachelorstudium abgeschlossen, und nun ist er in Nordkorea, um ein Masterstudium zu absolvieren. Kein Wunder, das ist ja auch das Land von dem Genossen. Sein Doktorstudium will er in Japan von den Gorillas auf dem bitteren Berg betreuen lassen. Jetzt ist es schon soweit.
Am nordkoreanischen Flughafen wurde er von allen schweigsam freundlich begrüßt, am ersten Tag lief alles leise und gut. Der Minus kam eine Woche später in den Sprachkurs, es gab außer ihm ein deutsches, begabtes Mädchen, das in Oxford Philosophie absolviert hatte, sie sagte ihm in gutem Englisch: „Die westliche Demokratie ist beschissener als jeder Abschaum auf der ganzen Welt.“ Sie bezeichnete ihre Kultur als Super-Ego, das definitiv ins Nichts treibt. Der Minus fühlte sich nun nicht mehr allein. Ah ja, es gab auch den Lehrer, eine Schlange, mit einem typischen, schmalzigen, fernasiatischen Gesicht, der nur koreanisch sprach, und das Mädchen unterhielt sich mit dem Minus weiter auf Englisch. Was sie damals nicht wusste, war, dass der Minus kaum englisch konnte. Das hätte er ihr vielleicht unbedingt noch sagen sollen.
Sechs Monate später redet der Minus fließender koreanisch als die Oxfordabsolventin, aber sie spricht korrekter. Minus blickt jeden Morgen aus dem Fenster, und er stellt immer wieder gerne fest, dass es hier auch Leben auf der Straße gibt, die Menschen machen hier, was alle anderen woanders auch machen, es geht wirklich, es funktioniert weiter. Für ihn stellt sich nur die dumme Frage: Wie geht es? Sehr unnötig, weil die Antwort sehr unnötig ist! Minus hat sich in der Zwischenzeit für einen Ninjakurs entschieden, das deutsche Mädchen begleitet ihn immer. Das Mädchen trainierte eigentlich nicht, sondern schoss nur Fotos, der Minus fand es schon lästig, er dachte sich: „Das Mädchen beschwert sich zwar die ganze Zeit über seine Gesellschaft, aber es tut alles, was ein dummer EU-Bürger immer tut. Vielleicht wird die Oxfordabsolventin mit sechzig Jahren eine Safarireise machen, und sie wird auch Elefanten fotografieren, das wird sicher ihrem typisch westlichen Album hinzugefügt, wie lächerlich der Mensch doch ist …“ Der Minus versteht sich mit seinem Ninjalehrer sehr gut, sie werden sehr gute Freunde. Sie diskutieren über alles, sogar über Politik – doch erst wenn es etwas leiser ist. Der Ninjalehrer war der Meinung, dass man über andere Menschen keine Aussage treffen dürfe und dass man über die Fremden nichts erzählen könne, weil ihre Geschichten fremd seien, wie sie selbst, doch wenn man es täte, erzähle man seine eigene Geschichte mit fremden Worten. Es fällt uns allen irgendwie leichter, unsere Probleme in fremde Geschichten zu verpacken und sie weiterzugeben, als ob das mit uns nichts zu tun hätte …
Der Minus besuchte weiter die Universität, er bestand seine Kurse schon, aber er bekam immer schlechte Noten. Er dachte manchmal, dass er seine Prüfungen nur schaffte, weil er der einzige Ausländer auf der Universität war. Ja klar, das deutsche Mädchen hatte nur den nordkoreanischen Sprachkurs besucht – trotzdem blieb es weiterhin dort. Der Minus fand die Deutsche wunderschön in ihrer melancholischen Phase, sie war dabei menschlicher als sonst, vor allem hörte sie in dieser Phase auf, den Klugscheißer zu spielen.
Heute war Lia auf der Uni, sie besuchte ihren Vater, Professor Wan. Professor Wan stellte dem Minus die Lia vor, sie war seine einzige Tochter, die drei größeren waren an Mangelernährung gestorben. Der Minus lud sie zum Teetrinken ein, normalerweise zogen fernasiatische Frauen den Minus sexuell nicht an, doch er fand die Lia so heiß, er hatte das Gefühl, dass sie ihn auch mochte, sie war ihm gegenüber aber so höflich, dass ihm schnell klar wurde, es würde wohl Monate dauern, bis er an ihre Unterwäsche ran konnte, und schon verflog sein Interesse an der Dame. Seine deutsche Kollegin war sehr eifersüchtig, was ihm gefiel, das optimierte den Kontakt zwischen den beiden Fremden, er überlegte sich sogar, sich mit der Lia weiter zu treffen, um die Lona immer wieder eifersüchtig zu machen. Na ja, wenn sie eifersüchtig war, war die Oxfordabsolventin wie jede andere. Der Minus war der Meinung, dass man das Herz einer Frau weder mit Geschenken noch mit Sex oder Liebe beherrschen kann, sondern nur mit Eifersucht. So, und nur so bekommt man den besten Fick überhaupt.
Die Lona lud ihn am selben Tag zu ihr nach Hause zum Abendessen ein. Er kam natürlich pünktlich um 20:07 Uhr an, sie sagte ihm, er solle sich kurz eine Beschäftigung suchen, weil sie gerade online mit einem Mann aus ihrem Land flirtete. Der Mann auf Skype kritisierte das Regime in Nordkorea scharf, und sofort verteidigte der Minus das System. Er kritisierte die Waffengeschäfte in Deutschland, er erwähnte auch gerne, dass Millionen von Kindern für die Deutschen, beziehungsweise für die Europäer, arbeiten müssten und meinte auch, die Art und Weise, wie der Westen mit den Asylanten umgehe, bringe Schande über sie, über ihre Werte und über die ganze Geschichte der Menschheit. Die Lona sagte WOW, jetzt bist du aber ein großer Ideologe. Er hatte den Mann fertiggemacht und sie ordentlich beeindruckt. Ein Ideologe war er eigentlich nicht, er war doch nur eifersüchtig. Der Minus kam sich lächerlich vor, er fühlte sich schwach, armselig, unsichtbar und kaum talentiert, er fragte die Deutsche, ob sie das schwere Schweigen brechen wollte, die Lona sagte: „Ja, gerne, wie wäre es, wenn du mir eine Geschichte erzählst?“ Der Minus hätte wissen sollen, dass sie ihm keine hätte erzählen können, den Mut dazu hatte sie nicht. Der Minus erzählte über eine Dänin, die ein dunkles Kind adoptierte und nach Dänemark mitbrachte. Das Kind bekam so viel Schokolade von seiner neuen Mutter, dass es sie über alles liebte, sogar mehr als die leibliche Mutter. Es war fest der Meinung, dass es ein echtes dänisches Kind war, alles andere war für es nicht mehr von Bedeutung. Es lief gut so, bis zum zwölften Lebensjahr. Es gab damals ein Fest in der Schule, wo der kleine Junge für die besten Leistungen in seiner Klasse gefeiert wurde. Nach dem Fest warteten drei gleichaltrige, weiße Kinder auf ihn. Sie bezeichneten ihn als dunklen Affen und ohrfeigten ihn. Als er die Realität begreifen musste, brachen das Herz des Kindes und sein kindlicher dänischer Traum auch. Der Rest der Geschichte war uninteressant, daher wollte der Minus nicht weitererzählen, die Lona wollte eigentlich auch nicht mehr hören. Aber sie kommentierte das auch nicht – was bei ihr nicht typisch war.
Am nächsten Morgen gingen der Minus und die Lona zusammen in die Ninjaschule, sie hielten sogar Händchen, der Minus beherrschte diese Kampfkunst inzwischen sehr gut, er konnte Ninjasterne werfen, er konnte auch mit dem Schwert und dem Speer sehr gut umgehen, er trainierte heute länger und motivierter als gewöhnlich. Die Lona sah zwar wie immer nur zu, aber sie schoss keine Fotos. Am Ende des Trainings kam sie auf ihn zu und umarmt ihn, er sagte, er habe beim Training so viel geschwitzt und dass er schlecht riechen müsste, doch die Lona antwortete, dass er doch so gut riecht und dass es eigentlich sein Geruch war, was ihr an ihm am meisten gefiel. Der Minus wusste nicht, was man dazu sagen sollte, aber er nahm sie sehr gerne in die Arme.
Bevor die beiden sich wieder trafen, waren einige Tage vergangen. Die Lona fragte den Minus, ob er es ihr überhaupt sagen würde, wenn er sie vermissen würde. Der Minus antwortete mit einem klaren Nein, weil es zwischen seiner Welt und ihrer eine Mauer gäbe, die er nicht überwinden könne, und weil er unsicher sei, ob sie das gemacht hätte, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre. Die Lona meinte, sie dachte immer, sie kämen aus derselben Welt. Über den zweiten Grund könne sie nur mit „vielleicht“ antworten. Danach verabschiedeten sie sich eiskalt voneinander.
Der Minus war in den letzten Wochen jeden Tag allein zum Flohmarkt gegangen, dort konnte man die verschiedensten typisch nordkoreanischen Sachen ganz günstig kaufen. Auf einmal hatte er Interesse daran, ihm gefiel es, die fernasiatischen Sachen zu haben, aber ihm gefiel es auch, nicht zu diesem Land zu gehören. Trotzdem lebte er gerne hier, das stand fest. In diesem Land äußert man sich kaum und spricht nie über seine Wünsche, eigentlich wusste der Minus nicht ganz genau, ob man es tat oder nicht, er stellte es sich eben so vor, er dachte sich, vielleicht wollte er sein Studium gar nicht, vielleicht wollte er etwas anderes studieren, er hätte es wahrscheinlich auch getan, weil er glaubte, so würde es von ihm erwartet werden. Der Minus dachte an die Lona, aber auch an die Lia, er wollte einer von denen sagen: „Sei bitte nicht traurig …“ Die Freude kann man immer vortäuschen, die Trauer hingegen ist echt, und sie kann nur echt sein. Um ein echtes Sein zu schöpfen, muss man doch Trauerphasen erleben, um die wahre Freude zu erkennen, muss man das durchziehen. Er fragte sich, wer von den beiden jetzt wohl an ihn dachte, die Lona oder die Lia? Was sollte er tun, wenn beide an ihn denken? Was sollte er tun, wenn keine der beiden an ihn denkt? Auf die zweite Frage hatte er eine Antwort, und zwar eine einfache Antwort: Er sollte gar nichts tun!
63 Tage später hatte der Minus kein Wasser zu Hause, irgendwas war kaputt, er konnte nichts dagegen unternehmen, er dachte an die großen Helden, eigentlich waren die Helden für ihn nichts weiter als Mörder und Kriegsverbrecher, er glaubte, wenn die Geschichte eine Frau wäre, die sich vor einigen ihrer Männer ekelt, würde sie sich für ihre Helden ekeln. Sie sind wohl ein weiterer Grund dafür, dass man sich überhaupt schämt … Aber die Helden sind auch eine Metapher für das Gute, sie spielen Helferrollen und Beschützerrollen, oder sie präsentieren die Hoffnung auf ein besseres Morgen. In der Tat redet man über große Sachen nicht unbedingt, weil man nach der Wissenschaft oder der Wahrheit sucht, sondern man tut es, weil man sich damit identifizieren will, weil man sich allmächtig fühlen will. Wie schwach der Mensch ist … Plötzlich fließt wieder Wasser, und die restlichen Ideen rinnen ab.
Am Ende des Tages (oder der vergangenen Tage) war es so heiß, dass das Fenster und die Wanduhr schwitzten, der Minus verbrachte seine Zeit in einer Bar am berühmten Fluss, dort, an diesem Ort, trafen sich die Ausländer der Stadt und auch die wohlhabenden Nordkoreaner, es gab dort auch ein Klavier, das niemanden interessierte – bis auf ihn. Er wünschte sich jeden Tag eine Mutspritze, um endlich aufzustehen, gerade auf sein Ziel loszugehen und Klavier zu spielen. Er hatte alles geplant: mit welchem Fuß er aufstehen sollte, wie viele Schritte er machen sollte. Und er hat auch die Musikstücke, die er spielen wollte, im Voraus ausgesucht, aber er machte es, im Kopf hatte er es wohl so oft gemacht, wie er wollte, er hatte die Aufmerksamkeit der Anwesenden ebenso wie die der Abwesenden genossen, die er von allen unbedingt bekommen wollte. Es wäre schön gewesen, einmal im Mittelpunkt zu stehen – obwohl man sich an das Leben im Schatten gewöhnt hatte.
Der Minus hatte das Gefühl, dass die Abläufe seines Lebens keinen richtigen Zusammenhang hatten, sie ergaben wohl einen Sinn, aber zwischen den Kleinigkeiten gab es Lücken, als ob die Abschnitte seines Lebens von Fremden gemacht und seinem eigenen Leben hinzugefügt worden wären. Trotzdem lässt sich zum Schluss ein Muster erkennen.
Lona meldete sich heute bei ihm, sie trafen sich auf ein nordkoreanisches Bier, dabei sagte Lona, sie möchte hier eine Zeitung gründen und ein bisschen Geld verdienen, sie lud ihn ein, mitzumachen, sie meinte sogar, er sei ein sehr kreativer Mensch und er habe sie immer inspiriert. Der Minus war davon nicht überzeugt. „Hier hat man doch keine freie Presse wie dort …“ Die Lona unterbrach ihn, es sei für sie scheißegal und es gäbe eigentlich, ihrer Meinung nach, keinen Unterschied zwischen hier und dort, die Formen seien anders, der Kern aber nicht: Hier lobt man den Diktator beziehungsweise man lobt seine Werte und dort das neue liberalistische System beziehungsweise seine Werte. Hier ist ein einziger Mensch wie Gott, dort ist das Geld ein einziger Machthaber. Nachdem Minus Lona gerne zugehört hatte, glaubte er fest daran, dass Lona gar keine Zeitung gründen wollte, sondern sie wollte einfach nur das sagen, was sie gerade gesagt hatte. Er lächelte sie an, er streichelte sie am Rücken, bestellte zwei weitere Biere, ein Bier für jeden. Und das gute Leben ist leider doch nicht für alle. Nach dem ersten Schluck fuhr Minus hoch: „Die Natur ist keine Mutter, die ihre Kinder gleichberechtigt! Sie ist ein Konzept, in dem wir zusammenleben müssen und wo alle gegeneinander kämpfen müssen, um weiterzukommen.“ Der Grundfehler der Evolution ist die Gier, und nur das hat den sozialen Geist zerstört, all die Gräueltaten, die man sich angetan hat, waren eigentlich aufgrund des Geizes. Das Problem damit ist viel komplizierter, als man es sich vorstellt, denn der Hintergrund für die Gier ist nicht, dass man ganz einfach mehr von allem haben möchte, sondern die Urangst vor der Abwesenheit in allen Sinnen. Die Lona flüsterte dem Minus ins Ohr, dass er ein Angsthase sei, der seine kleinen, belanglosen Probleme auf die arme, überforderte Welt verschiebe. Es fehle unserem Planeten nicht eine subjektive Aufklärung, sondern eine Lösung. Sie bestellte zwei weitere Biere, sie schrie: „Ein Bier für jeden und das Leben für alle!“
Der Minus war plötzlich am Gespräch nicht mehr interessiert, er war gerade optisch sehr mit ihren Lippen beschäftigt, wie das kalte Bierglas ihre Lippen zum Glasen bringt und wie das Glas bei jedem Schluck auf die Unterlippe drückt und das Blut darin in Bewegung versetzt, als ob ein junger Vulkan drin schlummert, der gerade vor seinem ersten Ausbruch warnt. Jeder Maler wäre dumm, seine Farben in diesem Moment nicht zu gebrauchen. Ein schöneres Bild würde es nicht geben.
Sieben Wochen später schloss der Minus sein Studium ab, er teilte seinem Professor auch mit, dass er sein Doktorstudium nicht mehr in Japan machen wollte, sondern hier, nun, das Thema wollte er aber nicht wechseln. Diesbezüglich schwieg Professor Wan, der Minus redete auch nicht weiter, eine Begründung für das Schweigen brauchte man eigentlich auch nicht. Danach ging der Minus nach Hause und blieb bei seinem Schweigen, es sah so aus, als bewegte sich nichts und doch verging die Zeit, mal schnell, mal langsam. Irgendwann bekam der Minus Halsweh, er nahm an, aufgrund der Stille. Die kleinen Halsschmerzen machten den Minus auf den neuen Tag aufmerksam, der Schmerz ist für ihn und für die Menschheit immer ein wahrer Lehrer, er zeigt uns, wie schön unser Leben vor dem Schmerzzustand war und dass es uns davor nicht so schlecht gegangen ist, wie wir gedacht haben! Am Abend hatte der arme Minus Fieber, welches ihn überredete, früh ins Bett zu gehen, ah ja, der scheiß-grüne Tee hatte ihm gar nicht geholfen! Er schlief ein … Oh! Die Lia hat einen kurzen Rock an und sie geht im Wald spazieren, sie wackelt sehr schön … Plötzlich fallen die Gorillas von allen Richtungen über sie her. Die Lia stellt sich aus Angst tot, die Gorillas sind zornig und erschlagen die Arme. Als die Lia stirbt, verwandelt sie sich in die Lona, sie sieht genauso aus wie Lona. Die Lona beschwert sich bei ihrem Gott über ihren eigenen Tod, sie findet das ungerecht: Die Lia war in dem Wald, die Lia wurde von den Gorillas umgebracht, aber die Lona ist nun tot. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie besser gehandelt hätte, und bittet den Gott um eine zweite Chance. Ihr Gott lacht laut über sie und doch gibt er ihr eine zweite Chance. Die Lona geht in den Wald, die Gorillas kommen auf sie zu, Lona entscheidet sich für den Kampf, sie greift die Gorillas an, schnell ist der Kampf beendet, die Lona ist tot. Als sie stirbt, verwandelt sie sich zur Hälfte in Lia, sie sieht aus wie halb Lona, halb Lia, ein einziger Körper aus zwei verschiedenen Frauen. Diese Mischfrau akzeptiert ihr Schicksal nicht, deswegen bittet sie den Gott noch einmal um eine weitere Chance, der Gott lacht laut über die Mischfrau und schenkte ihr ein neues Leben, die Mischfrau geht in den Wald, sie begegnet den Gorillas und versucht, so schnell, wie sie kann, wegzurennen, doch die Gorillas sind schneller, sie kann ihrem Tod schon wieder nicht entkommen, zumindest hörte sie auf, sich zu verwandeln! Der Minus stand am Morgen mit nassen Kleidern auf, und er war sehr durstig. Er trank sehr viel Wasser, danach ging er unter die Dusche. Es fiel ihm nicht unbedingt rasch auf, dass sein Halsweh weg war.
Er hat sich gut rasiert, er hat ja heute ein Vorstellungsgespräch. Schon eine Weile suchte Minus einen Job, er hatte sich für eine Stelle beim Kriegsverbrecherzentrum beworben und wurde zum Glück eingeladen, am Nachmittag fuhr der Minus ins Kriegsverbrecherzentrum, es war so heiß und der kleine Bus fuhr sehr unauffällig, wie alles in Nordkorea. Der Minus bekam etwas Magenschmerzen, überlegte sich, ob er nach Hause zurückkehren sollte, er ging trotzdem zum Vorstellungsgespräch und bekam sogar eine Zusage, er musste sofort mit der Arbeit anfangen, er wusste genau, was er zu tun hatte. Hier bezeichnet man alle westlichen Anführer als Kriegsverbrecher, irgendwie das Gegenteil von dort. Wer recht hat, ist für den Minus keine Frage der Objektivität. Der Minus ging jeden Tag zur Arbeit, sechs Tage die Woche zehn Stunden am Tag. Es passte gut, er war mit seiner Arbeit sehr zufrieden, nur seine Schreibfehler bereiteten ihm Kopfzerbrechen, er musste ja auf Koreanisch schreiben, was für ihn nicht unbedingt leicht war, es war eigentlich für den armen Minus sehr peinlich, trotzdem war er sicher, dass die Nordkoreaner ihn niemals darauf ansprechen würden. In Nordkorea spricht man nicht über Fehler, schon gar nicht über die eigenen. Seine Arbeitskollegen lachten ihn an, jedes Mal wenn sie ihn sahen. Er dachte manchmal, sie lachten ihn vielleicht aus, der Unterschied war nicht klar, hier kann kein Ausländer es genau wissen.
Irgendwann, an einem normalen Arbeitstag, kam ein kleines Kind unerwartet auf den Minus zu, das Kind musste sein Leben im Rollstuhl verbringen, weil es in seinen ersten zwei Lebensjahren nicht genug zu essen bekommen hatte. Es fragte den Minus, ob er ihm helfen würde, wieder zu laufen. Der Minus wusste gar nicht, warum er danach gefragt wurde, vielleicht weil das Kind glaubte, dass der Minus zu denen gehörte, die dafür verantwortlich waren oder weil es glaubte, dass der Minus aufgrund seiner Fremdheit ein Zauberer war. Er stand auf jeden Fall sprachlos da. Das Kind forderte ihn noch einmal auf, mit ihm ins Zimmer zu gehen, um ihm zu helfen. Der Minus ging mit, das Kind machte auch klar, dass es mit dem Rollstuhl alleine fahren wollte. Die beiden saßen voreinander. Der Minus schlug dem Kind vor, die Augen zu zumachen und sich vorzustellen, dass es gerade liefe, das Kind meinte, es sei sehr schön, weil es endlich den Ball kicken könnte. Das wollte das Kind sehr gerne tun. Der Minus sang sein Lied und das Kind kickte weiter seinen Ball. Wäre die Zeit jetzt so tolerant, stehen zu bleiben!
Die Tage vergingen danach entweder langsam oder schnell, es war relativ egal, denn es gab kaum einen Unterschied zwischen den vergangenen und den kommenden Tagen. Der Minus dachte sich: Wäre die Welt nur aus zwei Farben, Schwarz und Weiß, hätten sich die Tage total angeglichen, wäre die Vergangenheit und die Gegenwart auch gleich. Man geht jeden Tag auf die Straße zur Arbeit und man sieht denselben Bahnsteig, dieselben Gebäude, dieselben Gesichter, dieselben Autos. Man fängt irgendwann an zu bezweifeln, dass es überhaupt ein Morgen gibt. Es dauert eine Weile, bis man bemerkt, dass die Autofarben heute anders sind. Somit ahnt man, dass heute ein anderer Tag ist, auch in Nordkorea nimmt man die Zeit mit der Hilfe der Farben wahr. Der Minus hatte immer geglaubt, es sei nur im Westen so. Er hat heute Morgen schon wieder Halsschmerzen, er ist sauer auf sich selbst, weil er in der letzten Zeit oft krank gewesen ist, trotzdem geht er arbeiten. Seitdem er mit der Arbeit angefangen hat, hat sich keiner seiner Arbeitskollegen krankgemeldet. Vielleicht tut man es in Nordkorea nicht! Er wollte es auch nicht tun, irgendwie wollte er niemanden danach fragen. Am Abend kam er nach Hause zurück und er freute sich auf sein Fieber. Er war sehr fantasievoll, wenn er Fieber hatte, das war für ihn immer eine unheimliche Erlösung.
Am nordkoreanischen Flughafen wurde er von allen schweigsam freundlich begrüßt, am ersten Tag lief alles leise und gut. Der Minus kam eine Woche später in den Sprachkurs, es gab außer ihm ein deutsches, begabtes Mädchen, das in Oxford Philosophie absolviert hatte, sie sagte ihm in gutem Englisch: „Die westliche Demokratie ist beschissener als jeder Abschaum auf der ganzen Welt.“ Sie bezeichnete ihre Kultur als Super-Ego, das definitiv ins Nichts treibt. Der Minus fühlte sich nun nicht mehr allein. Ah ja, es gab auch den Lehrer, eine Schlange, mit einem typischen, schmalzigen, fernasiatischen Gesicht, der nur koreanisch sprach, und das Mädchen unterhielt sich mit dem Minus weiter auf Englisch. Was sie damals nicht wusste, war, dass der Minus kaum englisch konnte. Das hätte er ihr vielleicht unbedingt noch sagen sollen.
Sechs Monate später redet der Minus fließender koreanisch als die Oxfordabsolventin, aber sie spricht korrekter. Minus blickt jeden Morgen aus dem Fenster, und er stellt immer wieder gerne fest, dass es hier auch Leben auf der Straße gibt, die Menschen machen hier, was alle anderen woanders auch machen, es geht wirklich, es funktioniert weiter. Für ihn stellt sich nur die dumme Frage: Wie geht es? Sehr unnötig, weil die Antwort sehr unnötig ist! Minus hat sich in der Zwischenzeit für einen Ninjakurs entschieden, das deutsche Mädchen begleitet ihn immer. Das Mädchen trainierte eigentlich nicht, sondern schoss nur Fotos, der Minus fand es schon lästig, er dachte sich: „Das Mädchen beschwert sich zwar die ganze Zeit über seine Gesellschaft, aber es tut alles, was ein dummer EU-Bürger immer tut. Vielleicht wird die Oxfordabsolventin mit sechzig Jahren eine Safarireise machen, und sie wird auch Elefanten fotografieren, das wird sicher ihrem typisch westlichen Album hinzugefügt, wie lächerlich der Mensch doch ist …“ Der Minus versteht sich mit seinem Ninjalehrer sehr gut, sie werden sehr gute Freunde. Sie diskutieren über alles, sogar über Politik – doch erst wenn es etwas leiser ist. Der Ninjalehrer war der Meinung, dass man über andere Menschen keine Aussage treffen dürfe und dass man über die Fremden nichts erzählen könne, weil ihre Geschichten fremd seien, wie sie selbst, doch wenn man es täte, erzähle man seine eigene Geschichte mit fremden Worten. Es fällt uns allen irgendwie leichter, unsere Probleme in fremde Geschichten zu verpacken und sie weiterzugeben, als ob das mit uns nichts zu tun hätte …
Der Minus besuchte weiter die Universität, er bestand seine Kurse schon, aber er bekam immer schlechte Noten. Er dachte manchmal, dass er seine Prüfungen nur schaffte, weil er der einzige Ausländer auf der Universität war. Ja klar, das deutsche Mädchen hatte nur den nordkoreanischen Sprachkurs besucht – trotzdem blieb es weiterhin dort. Der Minus fand die Deutsche wunderschön in ihrer melancholischen Phase, sie war dabei menschlicher als sonst, vor allem hörte sie in dieser Phase auf, den Klugscheißer zu spielen.
Heute war Lia auf der Uni, sie besuchte ihren Vater, Professor Wan. Professor Wan stellte dem Minus die Lia vor, sie war seine einzige Tochter, die drei größeren waren an Mangelernährung gestorben. Der Minus lud sie zum Teetrinken ein, normalerweise zogen fernasiatische Frauen den Minus sexuell nicht an, doch er fand die Lia so heiß, er hatte das Gefühl, dass sie ihn auch mochte, sie war ihm gegenüber aber so höflich, dass ihm schnell klar wurde, es würde wohl Monate dauern, bis er an ihre Unterwäsche ran konnte, und schon verflog sein Interesse an der Dame. Seine deutsche Kollegin war sehr eifersüchtig, was ihm gefiel, das optimierte den Kontakt zwischen den beiden Fremden, er überlegte sich sogar, sich mit der Lia weiter zu treffen, um die Lona immer wieder eifersüchtig zu machen. Na ja, wenn sie eifersüchtig war, war die Oxfordabsolventin wie jede andere. Der Minus war der Meinung, dass man das Herz einer Frau weder mit Geschenken noch mit Sex oder Liebe beherrschen kann, sondern nur mit Eifersucht. So, und nur so bekommt man den besten Fick überhaupt.
Die Lona lud ihn am selben Tag zu ihr nach Hause zum Abendessen ein. Er kam natürlich pünktlich um 20:07 Uhr an, sie sagte ihm, er solle sich kurz eine Beschäftigung suchen, weil sie gerade online mit einem Mann aus ihrem Land flirtete. Der Mann auf Skype kritisierte das Regime in Nordkorea scharf, und sofort verteidigte der Minus das System. Er kritisierte die Waffengeschäfte in Deutschland, er erwähnte auch gerne, dass Millionen von Kindern für die Deutschen, beziehungsweise für die Europäer, arbeiten müssten und meinte auch, die Art und Weise, wie der Westen mit den Asylanten umgehe, bringe Schande über sie, über ihre Werte und über die ganze Geschichte der Menschheit. Die Lona sagte WOW, jetzt bist du aber ein großer Ideologe. Er hatte den Mann fertiggemacht und sie ordentlich beeindruckt. Ein Ideologe war er eigentlich nicht, er war doch nur eifersüchtig. Der Minus kam sich lächerlich vor, er fühlte sich schwach, armselig, unsichtbar und kaum talentiert, er fragte die Deutsche, ob sie das schwere Schweigen brechen wollte, die Lona sagte: „Ja, gerne, wie wäre es, wenn du mir eine Geschichte erzählst?“ Der Minus hätte wissen sollen, dass sie ihm keine hätte erzählen können, den Mut dazu hatte sie nicht. Der Minus erzählte über eine Dänin, die ein dunkles Kind adoptierte und nach Dänemark mitbrachte. Das Kind bekam so viel Schokolade von seiner neuen Mutter, dass es sie über alles liebte, sogar mehr als die leibliche Mutter. Es war fest der Meinung, dass es ein echtes dänisches Kind war, alles andere war für es nicht mehr von Bedeutung. Es lief gut so, bis zum zwölften Lebensjahr. Es gab damals ein Fest in der Schule, wo der kleine Junge für die besten Leistungen in seiner Klasse gefeiert wurde. Nach dem Fest warteten drei gleichaltrige, weiße Kinder auf ihn. Sie bezeichneten ihn als dunklen Affen und ohrfeigten ihn. Als er die Realität begreifen musste, brachen das Herz des Kindes und sein kindlicher dänischer Traum auch. Der Rest der Geschichte war uninteressant, daher wollte der Minus nicht weitererzählen, die Lona wollte eigentlich auch nicht mehr hören. Aber sie kommentierte das auch nicht – was bei ihr nicht typisch war.
Am nächsten Morgen gingen der Minus und die Lona zusammen in die Ninjaschule, sie hielten sogar Händchen, der Minus beherrschte diese Kampfkunst inzwischen sehr gut, er konnte Ninjasterne werfen, er konnte auch mit dem Schwert und dem Speer sehr gut umgehen, er trainierte heute länger und motivierter als gewöhnlich. Die Lona sah zwar wie immer nur zu, aber sie schoss keine Fotos. Am Ende des Trainings kam sie auf ihn zu und umarmt ihn, er sagte, er habe beim Training so viel geschwitzt und dass er schlecht riechen müsste, doch die Lona antwortete, dass er doch so gut riecht und dass es eigentlich sein Geruch war, was ihr an ihm am meisten gefiel. Der Minus wusste nicht, was man dazu sagen sollte, aber er nahm sie sehr gerne in die Arme.
Bevor die beiden sich wieder trafen, waren einige Tage vergangen. Die Lona fragte den Minus, ob er es ihr überhaupt sagen würde, wenn er sie vermissen würde. Der Minus antwortete mit einem klaren Nein, weil es zwischen seiner Welt und ihrer eine Mauer gäbe, die er nicht überwinden könne, und weil er unsicher sei, ob sie das gemacht hätte, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre. Die Lona meinte, sie dachte immer, sie kämen aus derselben Welt. Über den zweiten Grund könne sie nur mit „vielleicht“ antworten. Danach verabschiedeten sie sich eiskalt voneinander.
Der Minus war in den letzten Wochen jeden Tag allein zum Flohmarkt gegangen, dort konnte man die verschiedensten typisch nordkoreanischen Sachen ganz günstig kaufen. Auf einmal hatte er Interesse daran, ihm gefiel es, die fernasiatischen Sachen zu haben, aber ihm gefiel es auch, nicht zu diesem Land zu gehören. Trotzdem lebte er gerne hier, das stand fest. In diesem Land äußert man sich kaum und spricht nie über seine Wünsche, eigentlich wusste der Minus nicht ganz genau, ob man es tat oder nicht, er stellte es sich eben so vor, er dachte sich, vielleicht wollte er sein Studium gar nicht, vielleicht wollte er etwas anderes studieren, er hätte es wahrscheinlich auch getan, weil er glaubte, so würde es von ihm erwartet werden. Der Minus dachte an die Lona, aber auch an die Lia, er wollte einer von denen sagen: „Sei bitte nicht traurig …“ Die Freude kann man immer vortäuschen, die Trauer hingegen ist echt, und sie kann nur echt sein. Um ein echtes Sein zu schöpfen, muss man doch Trauerphasen erleben, um die wahre Freude zu erkennen, muss man das durchziehen. Er fragte sich, wer von den beiden jetzt wohl an ihn dachte, die Lona oder die Lia? Was sollte er tun, wenn beide an ihn denken? Was sollte er tun, wenn keine der beiden an ihn denkt? Auf die zweite Frage hatte er eine Antwort, und zwar eine einfache Antwort: Er sollte gar nichts tun!
63 Tage später hatte der Minus kein Wasser zu Hause, irgendwas war kaputt, er konnte nichts dagegen unternehmen, er dachte an die großen Helden, eigentlich waren die Helden für ihn nichts weiter als Mörder und Kriegsverbrecher, er glaubte, wenn die Geschichte eine Frau wäre, die sich vor einigen ihrer Männer ekelt, würde sie sich für ihre Helden ekeln. Sie sind wohl ein weiterer Grund dafür, dass man sich überhaupt schämt … Aber die Helden sind auch eine Metapher für das Gute, sie spielen Helferrollen und Beschützerrollen, oder sie präsentieren die Hoffnung auf ein besseres Morgen. In der Tat redet man über große Sachen nicht unbedingt, weil man nach der Wissenschaft oder der Wahrheit sucht, sondern man tut es, weil man sich damit identifizieren will, weil man sich allmächtig fühlen will. Wie schwach der Mensch ist … Plötzlich fließt wieder Wasser, und die restlichen Ideen rinnen ab.
Am Ende des Tages (oder der vergangenen Tage) war es so heiß, dass das Fenster und die Wanduhr schwitzten, der Minus verbrachte seine Zeit in einer Bar am berühmten Fluss, dort, an diesem Ort, trafen sich die Ausländer der Stadt und auch die wohlhabenden Nordkoreaner, es gab dort auch ein Klavier, das niemanden interessierte – bis auf ihn. Er wünschte sich jeden Tag eine Mutspritze, um endlich aufzustehen, gerade auf sein Ziel loszugehen und Klavier zu spielen. Er hatte alles geplant: mit welchem Fuß er aufstehen sollte, wie viele Schritte er machen sollte. Und er hat auch die Musikstücke, die er spielen wollte, im Voraus ausgesucht, aber er machte es, im Kopf hatte er es wohl so oft gemacht, wie er wollte, er hatte die Aufmerksamkeit der Anwesenden ebenso wie die der Abwesenden genossen, die er von allen unbedingt bekommen wollte. Es wäre schön gewesen, einmal im Mittelpunkt zu stehen – obwohl man sich an das Leben im Schatten gewöhnt hatte.
Der Minus hatte das Gefühl, dass die Abläufe seines Lebens keinen richtigen Zusammenhang hatten, sie ergaben wohl einen Sinn, aber zwischen den Kleinigkeiten gab es Lücken, als ob die Abschnitte seines Lebens von Fremden gemacht und seinem eigenen Leben hinzugefügt worden wären. Trotzdem lässt sich zum Schluss ein Muster erkennen.
Lona meldete sich heute bei ihm, sie trafen sich auf ein nordkoreanisches Bier, dabei sagte Lona, sie möchte hier eine Zeitung gründen und ein bisschen Geld verdienen, sie lud ihn ein, mitzumachen, sie meinte sogar, er sei ein sehr kreativer Mensch und er habe sie immer inspiriert. Der Minus war davon nicht überzeugt. „Hier hat man doch keine freie Presse wie dort …“ Die Lona unterbrach ihn, es sei für sie scheißegal und es gäbe eigentlich, ihrer Meinung nach, keinen Unterschied zwischen hier und dort, die Formen seien anders, der Kern aber nicht: Hier lobt man den Diktator beziehungsweise man lobt seine Werte und dort das neue liberalistische System beziehungsweise seine Werte. Hier ist ein einziger Mensch wie Gott, dort ist das Geld ein einziger Machthaber. Nachdem Minus Lona gerne zugehört hatte, glaubte er fest daran, dass Lona gar keine Zeitung gründen wollte, sondern sie wollte einfach nur das sagen, was sie gerade gesagt hatte. Er lächelte sie an, er streichelte sie am Rücken, bestellte zwei weitere Biere, ein Bier für jeden. Und das gute Leben ist leider doch nicht für alle. Nach dem ersten Schluck fuhr Minus hoch: „Die Natur ist keine Mutter, die ihre Kinder gleichberechtigt! Sie ist ein Konzept, in dem wir zusammenleben müssen und wo alle gegeneinander kämpfen müssen, um weiterzukommen.“ Der Grundfehler der Evolution ist die Gier, und nur das hat den sozialen Geist zerstört, all die Gräueltaten, die man sich angetan hat, waren eigentlich aufgrund des Geizes. Das Problem damit ist viel komplizierter, als man es sich vorstellt, denn der Hintergrund für die Gier ist nicht, dass man ganz einfach mehr von allem haben möchte, sondern die Urangst vor der Abwesenheit in allen Sinnen. Die Lona flüsterte dem Minus ins Ohr, dass er ein Angsthase sei, der seine kleinen, belanglosen Probleme auf die arme, überforderte Welt verschiebe. Es fehle unserem Planeten nicht eine subjektive Aufklärung, sondern eine Lösung. Sie bestellte zwei weitere Biere, sie schrie: „Ein Bier für jeden und das Leben für alle!“
Der Minus war plötzlich am Gespräch nicht mehr interessiert, er war gerade optisch sehr mit ihren Lippen beschäftigt, wie das kalte Bierglas ihre Lippen zum Glasen bringt und wie das Glas bei jedem Schluck auf die Unterlippe drückt und das Blut darin in Bewegung versetzt, als ob ein junger Vulkan drin schlummert, der gerade vor seinem ersten Ausbruch warnt. Jeder Maler wäre dumm, seine Farben in diesem Moment nicht zu gebrauchen. Ein schöneres Bild würde es nicht geben.
Sieben Wochen später schloss der Minus sein Studium ab, er teilte seinem Professor auch mit, dass er sein Doktorstudium nicht mehr in Japan machen wollte, sondern hier, nun, das Thema wollte er aber nicht wechseln. Diesbezüglich schwieg Professor Wan, der Minus redete auch nicht weiter, eine Begründung für das Schweigen brauchte man eigentlich auch nicht. Danach ging der Minus nach Hause und blieb bei seinem Schweigen, es sah so aus, als bewegte sich nichts und doch verging die Zeit, mal schnell, mal langsam. Irgendwann bekam der Minus Halsweh, er nahm an, aufgrund der Stille. Die kleinen Halsschmerzen machten den Minus auf den neuen Tag aufmerksam, der Schmerz ist für ihn und für die Menschheit immer ein wahrer Lehrer, er zeigt uns, wie schön unser Leben vor dem Schmerzzustand war und dass es uns davor nicht so schlecht gegangen ist, wie wir gedacht haben! Am Abend hatte der arme Minus Fieber, welches ihn überredete, früh ins Bett zu gehen, ah ja, der scheiß-grüne Tee hatte ihm gar nicht geholfen! Er schlief ein … Oh! Die Lia hat einen kurzen Rock an und sie geht im Wald spazieren, sie wackelt sehr schön … Plötzlich fallen die Gorillas von allen Richtungen über sie her. Die Lia stellt sich aus Angst tot, die Gorillas sind zornig und erschlagen die Arme. Als die Lia stirbt, verwandelt sie sich in die Lona, sie sieht genauso aus wie Lona. Die Lona beschwert sich bei ihrem Gott über ihren eigenen Tod, sie findet das ungerecht: Die Lia war in dem Wald, die Lia wurde von den Gorillas umgebracht, aber die Lona ist nun tot. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie besser gehandelt hätte, und bittet den Gott um eine zweite Chance. Ihr Gott lacht laut über sie und doch gibt er ihr eine zweite Chance. Die Lona geht in den Wald, die Gorillas kommen auf sie zu, Lona entscheidet sich für den Kampf, sie greift die Gorillas an, schnell ist der Kampf beendet, die Lona ist tot. Als sie stirbt, verwandelt sie sich zur Hälfte in Lia, sie sieht aus wie halb Lona, halb Lia, ein einziger Körper aus zwei verschiedenen Frauen. Diese Mischfrau akzeptiert ihr Schicksal nicht, deswegen bittet sie den Gott noch einmal um eine weitere Chance, der Gott lacht laut über die Mischfrau und schenkte ihr ein neues Leben, die Mischfrau geht in den Wald, sie begegnet den Gorillas und versucht, so schnell, wie sie kann, wegzurennen, doch die Gorillas sind schneller, sie kann ihrem Tod schon wieder nicht entkommen, zumindest hörte sie auf, sich zu verwandeln! Der Minus stand am Morgen mit nassen Kleidern auf, und er war sehr durstig. Er trank sehr viel Wasser, danach ging er unter die Dusche. Es fiel ihm nicht unbedingt rasch auf, dass sein Halsweh weg war.
Er hat sich gut rasiert, er hat ja heute ein Vorstellungsgespräch. Schon eine Weile suchte Minus einen Job, er hatte sich für eine Stelle beim Kriegsverbrecherzentrum beworben und wurde zum Glück eingeladen, am Nachmittag fuhr der Minus ins Kriegsverbrecherzentrum, es war so heiß und der kleine Bus fuhr sehr unauffällig, wie alles in Nordkorea. Der Minus bekam etwas Magenschmerzen, überlegte sich, ob er nach Hause zurückkehren sollte, er ging trotzdem zum Vorstellungsgespräch und bekam sogar eine Zusage, er musste sofort mit der Arbeit anfangen, er wusste genau, was er zu tun hatte. Hier bezeichnet man alle westlichen Anführer als Kriegsverbrecher, irgendwie das Gegenteil von dort. Wer recht hat, ist für den Minus keine Frage der Objektivität. Der Minus ging jeden Tag zur Arbeit, sechs Tage die Woche zehn Stunden am Tag. Es passte gut, er war mit seiner Arbeit sehr zufrieden, nur seine Schreibfehler bereiteten ihm Kopfzerbrechen, er musste ja auf Koreanisch schreiben, was für ihn nicht unbedingt leicht war, es war eigentlich für den armen Minus sehr peinlich, trotzdem war er sicher, dass die Nordkoreaner ihn niemals darauf ansprechen würden. In Nordkorea spricht man nicht über Fehler, schon gar nicht über die eigenen. Seine Arbeitskollegen lachten ihn an, jedes Mal wenn sie ihn sahen. Er dachte manchmal, sie lachten ihn vielleicht aus, der Unterschied war nicht klar, hier kann kein Ausländer es genau wissen.
Irgendwann, an einem normalen Arbeitstag, kam ein kleines Kind unerwartet auf den Minus zu, das Kind musste sein Leben im Rollstuhl verbringen, weil es in seinen ersten zwei Lebensjahren nicht genug zu essen bekommen hatte. Es fragte den Minus, ob er ihm helfen würde, wieder zu laufen. Der Minus wusste gar nicht, warum er danach gefragt wurde, vielleicht weil das Kind glaubte, dass der Minus zu denen gehörte, die dafür verantwortlich waren oder weil es glaubte, dass der Minus aufgrund seiner Fremdheit ein Zauberer war. Er stand auf jeden Fall sprachlos da. Das Kind forderte ihn noch einmal auf, mit ihm ins Zimmer zu gehen, um ihm zu helfen. Der Minus ging mit, das Kind machte auch klar, dass es mit dem Rollstuhl alleine fahren wollte. Die beiden saßen voreinander. Der Minus schlug dem Kind vor, die Augen zu zumachen und sich vorzustellen, dass es gerade liefe, das Kind meinte, es sei sehr schön, weil es endlich den Ball kicken könnte. Das wollte das Kind sehr gerne tun. Der Minus sang sein Lied und das Kind kickte weiter seinen Ball. Wäre die Zeit jetzt so tolerant, stehen zu bleiben!
Die Tage vergingen danach entweder langsam oder schnell, es war relativ egal, denn es gab kaum einen Unterschied zwischen den vergangenen und den kommenden Tagen. Der Minus dachte sich: Wäre die Welt nur aus zwei Farben, Schwarz und Weiß, hätten sich die Tage total angeglichen, wäre die Vergangenheit und die Gegenwart auch gleich. Man geht jeden Tag auf die Straße zur Arbeit und man sieht denselben Bahnsteig, dieselben Gebäude, dieselben Gesichter, dieselben Autos. Man fängt irgendwann an zu bezweifeln, dass es überhaupt ein Morgen gibt. Es dauert eine Weile, bis man bemerkt, dass die Autofarben heute anders sind. Somit ahnt man, dass heute ein anderer Tag ist, auch in Nordkorea nimmt man die Zeit mit der Hilfe der Farben wahr. Der Minus hatte immer geglaubt, es sei nur im Westen so. Er hat heute Morgen schon wieder Halsschmerzen, er ist sauer auf sich selbst, weil er in der letzten Zeit oft krank gewesen ist, trotzdem geht er arbeiten. Seitdem er mit der Arbeit angefangen hat, hat sich keiner seiner Arbeitskollegen krankgemeldet. Vielleicht tut man es in Nordkorea nicht! Er wollte es auch nicht tun, irgendwie wollte er niemanden danach fragen. Am Abend kam er nach Hause zurück und er freute sich auf sein Fieber. Er war sehr fantasievoll, wenn er Fieber hatte, das war für ihn immer eine unheimliche Erlösung.