Der lange Weg zum Seelenfrieden

Der lange Weg zum Seelenfrieden

Peter Püschel


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 172
ISBN: 978-3-95840-099-3
Erscheinungsdatum: 07.11.2016

Leseprobe:

Vorwort

Der Autor dieses Buches hat selbst 39 Jahre seines Lebens in der DDR verbracht. Viele Episoden und Ereignisse hat er selbst erlebt. Darum kann er diese auf recht gute Art und Weise darstellen.

Sei es das allgemeine Leben in der DDR, die Missstände in allen Lebensbereichen, der Versuch, über die gut gesicherte Grenze zu flüchten, und der Neuanfang in der Bundesrepublik. Er hat einen Fluchtversuch, in diesem Buch als der erste geschildert, selbst unternommen.

Nach dem Scheitern dieses Fluchtversuches hat er die Ausreise beantragt. Daraufhin haben er und seine Frau ihre Arbeit verloren. Nach drei Jahren des Wartens, Hoffens und Bangens wurde schließlich die Ausreise genehmigt.
Heute lebt er mit seiner Familie in Rheinland-Pfalz. Es war ihm aber immer ein Bedürfnis, all das einmal aufzuschreiben und zu veröffentlichen, damit sich gerade die jüngeren Menschen ein Bild von der damaligen Zeit machen können.

***

Leise säuselt der Wind in den alten Fichten am Haus. Bernd steht am offenen Fenster seiner Bodenkammer. Mit der Hilfe des Vaters, aber nach seinen eigenen Vorstellungen, wurde sie schließlich gebaut. Nach viel Lauferei hatten sie endlich die Genehmigung zum Einbau einer Kohlezentralheizung bekommen. Wäre nicht sein Freund Adi – Andreas Langer – gewesen, der, wer weiß woher, bis in die verborgensten Winkel seine Beziehungen hatte, wäre es mit der Materialversorgung so gut wie aussichtslos gewesen. Aber irgendwie hat dieser es immer wieder fertiggebracht, das fast Unmögliche wahr zu machen und zur rechten Zeit das benötigte Material heranzuschaffen! Vater, der auf der Kreisleitung der SED arbeitet, hatte geglaubt, seine Beziehungen zu den großen Parteigenossen verschiedener Betriebe wären nützlich. Hätten sie sich darauf verlassen, dann würden sie heute noch auf den Heizkessel warten! Als er Adi davon erzählte, hat der nur gelacht und gesagt: „Wenn du in ein Ersatzteillager kommst, dann kannst du die ganze Brust voller Parteiabzeichen haben – du bekommst nichts. Reichst du aber ein paar Scheinchen rüber, kannst du dir hinten im Lager selbst aussuchen, was du brauchst!“ So haben wir es ihm zu verdanken, dass der Kessel da ist. Vater staunte nicht schlecht, als Adi mit dem Kleintransporter auf dem Hof stand und lachend rief: „Ja, ist denn hier keiner zum Abladen da?“ Als er Vater dann erzählte, wie er es geschafft hatte, wollte der davon nichts hören und distanzierte sich sogar davon! Aber genommen hat er den Heizkessel mit großer Freude und die Moral eines großen Genossen war ihm schittegal. Ja, wenn es um das eigene Ich geht, sieht es bei vielen mit der Überzeugung auf einmal ganz anders aus. Egal, die Heizung ist komplett eingebaut und alle sind rundherum zufrieden.
Bernd muss schmunzeln, wenn er jetzt so darüber nachdenkt. Er hat sich eine Zigarette angezündet, lässt den Rauch hinaus in die Nacht gleiten. Er ist kein starker Raucher, müsste eigentlich gar nicht rauchen. Gemächlich macht er Zug um Zug. Das sind die Abende, wie er sie liebt. Hoch über ihm funkeln die Sterne am nächtlichen Himmelszelt. Eine wohltuende Ruhe liegt über dem kleinen Ort im Erzgebirge. Nur ab und zu hört man das Geknatter eines Trabis, im Volksmund „Honecker-Volvo“ genannt, von der Dorfstraße herüberschallen, die sich über einige Windungen hinunter ins Tal der Roten Weiseritz schlängelt. Dort unten ist es mit der Ruhe vorbei. Tag und Nacht rollt dort der Transitverkehr Skandinavien – Balkan. Ein großer Teil des Schwerlastverkehrs quält sich hier über das Erzgebirge in Richtung Böhmen auf der sogenannten Transitstraße, die an vielen Stellen eher einem Feldweg ähnelt! Sein Blick geht hinauf zum Erzgebirgskamm. Dort im Süden, wo man schwach die geschwungene Linie eines Bergrückens erkennen kann und von wo aus das Gebirge steil hinunter in das nordböhmische Braunkohlebecken abfällt, kommt gerade der Mond hervor. Zunächst noch kupferfarben, später ins Gelbliche übergehend beleuchtet er mit seinem matten Schein die Konturen der umliegenden Berge. An solchen Abenden will Bernd am liebsten allein sein. Er sitzt zwar auch gern mit Freunden oder Susann auf der Gartenbank vor dem Haus auf ein Schwätzchen mit einer Flasche Bier, aber heute genießt er es, allein zu sein. Er sieht zum Fenster hinaus, raucht gemütlich und kann seinen Gedanken nachhängen, umgeben von den von ihm so geliebten erzgebirgischen Bergen, seiner Heimat.

Wie oft hat er mit Großvater dort unten auf der Bank gesessen! Wie gern hat er seinen Erzählungen gelauscht! Immer wieder musste der Großvater von früher erzählen. Als die königlich-sächsische Kavallerie hinterm Dorf bei den Herbstmanövern über die Felder preschte. Als die Nazis an die Macht kamen und Großvater mit anderen Genossen der KPD Flugblätter und Zeitungen über die böhmische Grenze schmuggelte. Als dann die Bombennacht von Dresden kam und amerikanische Bomberverbände die Stadt in Schutt und Asche legten. Immer wieder war der Großvater aufgebracht darüber, denn der Krieg war längst entschieden. „Wir haben dort auf dem Hang gestanden. Die Feuersbrunst in dieser Nacht war so gewaltig, wir hätten Zeitung lesen können! Teilweise konnte man Straßenzüge erkennen. Aber wir Deutsche haben den Krieg ja gewollt“, so hört er ihn heute noch reden. Dann, als die Flüchtlingstrecks vom Tal heraufkamen, um vor den Russen zu flüchten … In Gedanken sieht er die ersten Panzerverbände der Russen von Reichstädt her anrücken und die Tiefflieger im Tal, wie sie die wehrlosen Flüchtlingskolonnen beschießen. Nach dem Krieg wurden in der heutigen Gießerei die Maschinen abgebaut und nach Russland transportiert. Wegen der Kriegsschulden, hat er gesagt. Auch erzählte er vom Wiederaufbau der Gießerei – es wurde ein volkseigener Betrieb. Mächtig stolz war der Großvater darauf. Als er dann vor sechs Jahren starb, brach für Bernd eine Welt zusammen.

Es ist eine milde Sommernacht. Wie viele Menschen in diesem Land träumen wohl in solchen Nächten von Sonne, Meer und fremden Ländern, in die sie nie reisen dürfen? Warum eigentlich nicht?, grübelt Bernd. Sie sind doch keine Verbrecher, die man gefangen halten muss. Sie gehen einer geregelten Arbeit nach. Machen Überstunden, wenn sie gebraucht werden. Die meisten sind sparsam und genügsam. Und doch dürfen sie die große, weite Welt da draußen nicht kennenlernen. Sehnsüchtig blickt Bernd hinauf zum unendlichen Sternenhimmel. Warum sind wir nur Menschen zweiter Klasse? Kein Wunder, wenn viele die Lust an der Arbeit verlieren! Sollen das die Vorzüge des Kommunismus sein? Ungläubig schüttelt Bernd den Kopf. Seine ganze Erziehung ist bisher in Richtung Kommunismus gegangen. Vom Elternhaus über Kindergarten, Schule, Lehre und sogar einen Teil der Freizeit. Aber seine Überzeugung ist beachtlich ins Wanken geraten. Alles schimpft! So, wie es in der Schule gelehrt wurde, ist es weiß Gott nicht gekommen! Wenn er nur an den von ihm so geliebten Wald denkt! Wie oft und gerne sind sie als Kinder durch die Wälder gezogen. Die Randfichten, auf die man so gut klettern konnte, da die Äste fast bis zum Boden reichten, waren bis zur letzten Nadel grün. Wenn er etwas nach links schaut, dort an der Ecke, stehen die drei Fichten, die Großvater bei der Geburt seiner drei Kinder gepflanzt hat. Tante Liesbett, Onkel Hans und Vater. Sogar jetzt, im faden Mondlicht, kann man sie sehen: Zwei von den Bäumen sind bereits abgestorben, der dritte wird auch schon vom Gipfel her braun. Was soll nur aus den Wäldern werden? Es wird Generationen dauern, bis der Wald wieder in Ordnung kommt, wenn es nicht schon zu spät ist. Es müsste sofort etwas getan werden. Aber Bernd weiß, es wird nichts geschehen. Dazu müssten sowohl hier als auch in Böhmen die Betriebe abgeschaltet werden. Das ist unmöglich, das weiß er genau. Die meisten Giftgase kommen aus Böhmen. Wenn er noch ein Weilchen wartet, so gegen Mitternacht, wird sich der Himmel über dem Erzgebirgskamm wieder rot färben und in jedem Winkel des Hauses nach Katzendreck stinken. Zuerst hatten sie Mohrle, die Katze, im Verdacht. Bis sie gemerkt hatten, es waren wirklich die Abgase aus Böhmen! Die arme Katze hatte damals, als sie im Verdacht stand, einen großen Bogen um das Haus gemacht. Man glaubt gar nicht, wie feinfühlig so ein Tier ist.

Nun hat sich Bernd schon die dritte Zigarette angezündet. Obwohl er ja kein starker Raucher ist. Immer wieder hat er versucht aufzuhören. Aber als er es schon fast geschafft hatte, wurde er zur Armee eingezogen, natürlich für drei Jahre. Das war er seinem Elternhaus schuldig. Dort ging die Qualmerei wieder richtig los. Nun ja, es waren drei harte Jahre. Aber er möchte sie nicht missen. Sie waren eine dufte Truppe. Er macht ein paar tiefe Züge, sein Blick geht noch einmal hinüber zu den Bergen auf der anderen Talseite, dem Kohlbusch. Dann drückt er fein säuberlich seine Zigarette im Aschenbecher aus … Ordnung hat er vom Großvater gelernt. Er zieht die Gardinen zu und legt sich zu Bett. Morgen muss er wieder zur Arbeit in die stinkende Gießerei. Dort hat schon Großvater gearbeitet, auch der Vater, bis er dann zur SED-Kreisleitung delegiert wurde. Er selbst hat sich nun daran gewöhnt, obwohl er nie da arbeiten wollte. Sein Herz gehörte schon immer dem Wald. Aber was soll’s, die Familientradition sollte eben fortgesetzt werden. In einem Großbetrieb hätte er bessere Entwicklungsmöglichkeiten, vor allem in politischer Hinsicht. Er soll einen Weg wie Vater einschlagen, darüber ist man sich einig. Besonders Mutter, Unterstufenlehrerin, ist sehr stolz auf die Entwicklung ihres Mannes. Bernd dreht sich zur Wand und schlummert einem neuen Arbeitstag entgegen.

Der Wecker piepst und piepst. Bernd fährt mit der Hand hinüber und bringt ihn zum Schweigen. Einen Augenblick bleibt er noch liegen und genießt die Behaglichkeit der Bettwärme. Dann springt er aus dem Bett in die Hausschuhe und geht zum Fenster. Das ist fast jeden Tag seine erste Handlung. Er blickt hinunter ins Tal, in dem der Morgennebel seine Bahn zieht. Heute ist es nur ein wenig Dunst und es wird wieder ein wunderbarer, sonnendurchfluteter Tag werden. Mit Grausen denkt er daran; in einer Stunde wird er wieder in der Gießerei sein, wird die Sonne nur noch durch die schmutzigen, verschmierten Glasscheiben der Oberlichter schimmern sehen. An so einem Tag ist es doppelt schwer, den Weg ins Tal anzutreten! Aber man muss ja leben. Und schaffen will man auch etwas. Bernd schlurft die Treppe hinunter. In der Küche hantiert schon Mutter, die es sich nie nehmen lässt, für Bernd das Frühstück zu richten, obwohl sie noch im Bett bleiben könnte. Der Unterricht beginnt erst um 7 Uhr 30. Bernd hat schon einige Male gesagt, er könne das allein erledigen, doch davon will Mutter nichts hören. Nach der Morgentoilette tritt Bernd mit einem Lächeln auf den Lippen in die Küche, denn er weiß, dass die Mutter dies am meisten liebt. Sie hasst Morgenmuffel. Vater ist einer geworden, nachdem er im Betrieb aufgehört hat und seine acht Stunden auf der Kreisleitung absitzt. Er liegt noch im Bett. Ist er es doch gewöhnt, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen. „Guten Morgen, Sohnemann, hast du gut geschlafen? Ich dachte schon, du willst heute gar nicht aufstehen! Bei solch einem Wetter fliegt man doch nur so aus den Federn“, begrüßt sie Bernd mit einem warmen Ausdruck in den Augen. „Du brauchst ja auch nicht in diesen stinkenden Betrieb“, entgegnet Bernd etwas mürrisch. „Du kannst den ganzen Tag die Sonne sehen.“ „Nun reg dich nicht so auf. Die acht Stunden wirst du schon überstehen. Danach kannst du dann mit Susann baden fahren. Du glaubst wohl, in einem Klassenzimmer macht es mehr Spaß! Die Rangen wollen auch alles andere als lernen.“ Bernd rührt gemächlich in seiner Kaffeetasse. Dazu isst er ein Honigbrot, das hat er am Morgen am liebsten. Leider ist nicht immer Honig da. Den gibt es nur in den Delikatessläden. Und so oft kommen sie da nicht hin. Es ist schon ein Jammer. Viele Dinge, die es früher in jedem Geschäft zu kaufen gab, erhält man nur noch im sogenannten Deli. Es wird im Volksmund auch gesagt: Die Deli-Läden sind die Intershops der Leute, die keine Verwandten im Westen haben. Nur sind die Waren in Ostmark bedeutend teurer. „Hast du Westmark in der Tasche, ist der Sozialismus große Klasse.“ Bernd muss lächeln, wenn er an diesen Ausspruch seiner Arbeitskollegen denkt. Auch denkt er daran, wie die Leute im Frühling vor den Jugendweihen bis zu zwei Stunden wegen ein paar Dosen Ananas angestanden haben. Kein Wunder, dass alles schimpft! „Was grübelst du denn schon wieder?“, fragt die Mutter. „Hast du Probleme?“ „Warum sind eigentlich die Deli-Läden eingerichtet worden? Kann es nicht all das auch in gewöhnlichen Läden geben?“ Bernd rührt verloren im Kaffee. „Du musst ja nicht im Deli kaufen. Alles, was man zum Leben braucht, bekommt man ja überall. Wer allerdings Extrawünsche hat und nobel leben will, der soll doch dafür bezahlen!“ Mutters Ausdruck wird ärgerlich. „Aber Ananas und Mandarinen sollten doch bei einer Feier nicht fehlen! Für eine Dose, die drüben zwei Mark kostet, muss ich hier 16 Mark bezahlen! Wie lange ich dafür arbeiten muss!“ „Ja, und was bezahlst du drüben an Miete?! Lass dich nicht so von Adi verblenden. Der hat doch nur Flausen im Kopf. Der Sozialismus siegt, wenn es uns der Klassenfeind auch schwer macht! Ich möchte nur wissen, was mit dir los ist. So unzufrieden, wie du in der letzten Zeit bist, gefällst du mir gar nicht!“ Sie schaut ihn lange und liebevoll von der Seite an. Er ist ihr einziges Kind und ihre ganze Liebe gehört ihm. Sie sorgt sich jedoch die letzte Zeit um ihn, denn er gefällt ihr in seiner Einstellung überhaupt nicht mehr! Und daran ist nur dieser Mädchenheld Adi schuld! Er übt einen sehr negativen Einfluss auf den Jungen aus. Vor allem jetzt, wo er Kabelanschluss im Fernsehen hat und jeden Abend bis in die Nacht hinein Westfernsehen guckt. Er verherrlicht den goldenen Westen in den schillerndsten Farben und der Junge glaubt ihm mehr als seinen eigenen Eltern, die ja lange genug in der Partei und vom Sieg des Sozialismus überzeugt sind.

Doch schuld daran ist auch die Staatsführung. Sie muss daran denken, wie niedergeschlagen Bernd nach Hause kam bei der Sache mit Luis Korvalan, dem chilenischen Kommunisten. Ganz groß ging es durch die Medien: Durch die internationale Solidarität ist Luis Korvalan freigekämpft worden! Wie stolz waren wir alle über diesen Sieg. Am nächsten Morgen hat Bernd in der Brigade mit Freude darüber berichtet. Doch man hatte ihn ausgelacht. Diejenigen, welche auf den Bergen in günstiger Lage wohnen, hatten im Westfernsehen miterlebt, wie er in Zürich auf dem Flugplatz ausgetauscht wurde. Für Bernd waren damals die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen zu diesem Staat sehr ins Wanken geraten und sie glaubt zu wissen, dass er das bis heute nicht so richtig überwunden hat. Nichts geht Bernd mehr ans Gemüt, wie wenn er lächerlich gemacht wird. Schon als Kind hat er so etwas schwer überwinden können. Sie muss daran denken, wie es damals war, als Bernd in die erste Klasse ging. Sie gingen zur Weihnachtsfeier in Vaters Betrieb. Er hatte das Gedicht zu Hause so gut gelernt. Als er dann zum Weihnachtsmann nach vorne musste, bekam er keinen Ton heraus. Zu allem Übel begannen die Größeren zu lachen. Da war es aus für Bernd! Laut weinend lief er aus dem Saal und es hat lange gedauert, bis er sich wieder gefangen hatte.

Sie packt Bernds Frühstücksbrote in die Stullenbüchse, legt noch einen Apfel hinzu und verstaut alles in Bernds Tasche. Bernd hat sich inzwischen angezogen. Er fährt täglich mit dem Moped zur Arbeit. Nur im Winter, wenn es einmal viel geschneit hat oder empfindlich kalt ist, geht er zu Fuß. Es sind ja nur zwei Kilometer und zu Fuß kann er noch eine Abkürzung über die Viehkoppel nehmen. Sonst zieht er immer eine dicke Jacke an. Heute jedoch, bei diesem hochsommerlichen Wetter, genügt ein kurzärmeliges Hemd. Schutzhelm und Lederhandschuhe zieht er aber immer an. Seit seinem Sturz damals im Frühling, als der Schnee getaut war und der ganze Streusand vom Winter noch auf der Straße lag. Er war etwas spät dran gewesen und zu schnell in die scharfe Linkskurve unten hinter dem Wäldchen gefahren. Es kam, wie es kommen musste: Das Vorderrad rutschte weg und er selbst auf dem Knie und der linken Hand die Straße lang bis in den Straßengraben. Dem Moped war nicht viel passiert, aber Bernd hatte es ganz schön erwischt. Er musste 14 Tage krank zu Hause bleiben. Das war nun gute zwei Jahre her, doch seitdem fährt er immer mit Lederhandschuhen.

Er geht zur Garage, fummelt seinen Schlüssel heraus. Das Schloss schließt butterweich. Auch so eine Erziehung vom Großvater; Werkzeuge, Türen, Fenster und dergleichen mussten immer top in Ordnung sein! Das Moped springt mit einem Tritt an, das macht die neue Elektronik. Die ist wirklich Spitze! Früher musste man viele Male treten. Wenn man Pech hatte, war das Moped dann auch noch abgesoffen. Gemächlich fährt er der Dorfstraße zu. Den Berg hinunter schaltet er auf den großen Gang und lässt das Gefährt einfach laufen. Nur an der scharfen Linkskurve bremst er rechtzeitig ab, in guter Erinnerung an seinen Sturz.

Am Zugang zum Betrieb, an der Pforte, ist es wie immer. Alles drängelt nach der Stechkarte. Das ist das Wichtigste. Viele, die mit dem Fahrzeug kommen, fahren zuerst zur Pforte. Dann wird erst einmal „gestochen“, um das pünktliche Erscheinen zu dokumentieren. Erst dann bringen sie ihr Fahrzeug auf den Parkplatz. Wie viele Minuten dabei vergehen, bis sie endlich am Arbeitsplatz sind! Aber keiner fragt danach. Auch dem Pförtner ist das egal, wenn er nur seine Ruhe hat. Hauptsache, man ist da und verrichtet seine Arbeit.

Am Arbeitsplatz angekommen, werden erst mal alle begrüßt und das Fernsehprogramm vom vergangenen Abend ausgewertet. Die, die Westen gucken können, haben natürlich das Sagen und wissen immer das Allerneueste. Jeder bringt seine Meinung vor und ist überzeugt davon, er weiß das meiste und Wichtigste. Es wird hin und her diskutiert und dabei rückt die Frühstückszeit immer näher. Ehe ein jeder dann in Gang kommt, erscheint das Zeichen von einem Kollegen, in den Speisesaal aufzubrechen. Viele gehen schon früher hinüber, um die besten Frühstücksbrötchen zu ergattern. „Bernd, nach dem Frühstück ist Gewerkschaftsversammlung“, ruft Holger noch herüber. Bernd ist in der Brigade der Gewerkschaftsvertrauensmann und muss dort die Interessen der Brigade vertreten.

Das war auch so eine Sache mit Holger Lehmann! Er hatte seine Lehre als Dreher mit „gut“ bestanden. Hatte sich gut in die Brigade eingelebt. Dann sollte die Brigade einen Mann zum Meisterlehrgang delegieren. Keiner wollte gehen, denn alle waren mit ihrer Arbeit zufrieden. Im Wettbewerbsprogramm war jedoch vereinbart worden, einen Mann zu qualifizieren. Es hatte damals großer Überredungskünste bedurft, bis Holger endlich „Ja“ sagte und die zwei Jahre zur Schule ging. Die Prüfung hat er dann irgendwie geschafft. Als er wieder in den Betrieb kam, war aber keine Stelle frei. So arbeitete er weiter wie früher. Als aber dann der Abteilungsleiter in Rente ging, rückte Holger auf. Von da an war er ein anderer Mensch. Vergessen war das gesellige Brigadeleben! Wo er nur konnte, verpfiff er die Kollegen. Man nennt ihn im Betrieb den Radfahrer: nach oben ducken und nach unten treten! Er hat nicht mehr viele Freunde im Betrieb. Wenn Bernd daran denkt, dass sein Vater mit ihm das Gleiche vorhatte, wird ihm speiübel. Es war damals so weit gekommen, dass Bernd ausziehen wollte, wenn der Vater ihn zur Weiterbildung zwingen würde. Das wäre mit Sicherheit der erste Schritt in die politische Laufbahn geworden. Der alte Jakop sagt immer wieder: „Wenn der Arbeiter was geworden ist, dann vergisst er seine Herkunft!“ Jakop erinnert Bernd immer an Großvater.

Vorwort

Der Autor dieses Buches hat selbst 39 Jahre seines Lebens in der DDR verbracht. Viele Episoden und Ereignisse hat er selbst erlebt. Darum kann er diese auf recht gute Art und Weise darstellen.

Sei es das allgemeine Leben in der DDR, die Missstände in allen Lebensbereichen, der Versuch, über die gut gesicherte Grenze zu flüchten, und der Neuanfang in der Bundesrepublik. Er hat einen Fluchtversuch, in diesem Buch als der erste geschildert, selbst unternommen.

Nach dem Scheitern dieses Fluchtversuches hat er die Ausreise beantragt. Daraufhin haben er und seine Frau ihre Arbeit verloren. Nach drei Jahren des Wartens, Hoffens und Bangens wurde schließlich die Ausreise genehmigt.
Heute lebt er mit seiner Familie in Rheinland-Pfalz. Es war ihm aber immer ein Bedürfnis, all das einmal aufzuschreiben und zu veröffentlichen, damit sich gerade die jüngeren Menschen ein Bild von der damaligen Zeit machen können.

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Leise säuselt der Wind in den alten Fichten am Haus. Bernd steht am offenen Fenster seiner Bodenkammer. Mit der Hilfe des Vaters, aber nach seinen eigenen Vorstellungen, wurde sie schließlich gebaut. Nach viel Lauferei hatten sie endlich die Genehmigung zum Einbau einer Kohlezentralheizung bekommen. Wäre nicht sein Freund Adi – Andreas Langer – gewesen, der, wer weiß woher, bis in die verborgensten Winkel seine Beziehungen hatte, wäre es mit der Materialversorgung so gut wie aussichtslos gewesen. Aber irgendwie hat dieser es immer wieder fertiggebracht, das fast Unmögliche wahr zu machen und zur rechten Zeit das benötigte Material heranzuschaffen! Vater, der auf der Kreisleitung der SED arbeitet, hatte geglaubt, seine Beziehungen zu den großen Parteigenossen verschiedener Betriebe wären nützlich. Hätten sie sich darauf verlassen, dann würden sie heute noch auf den Heizkessel warten! Als er Adi davon erzählte, hat der nur gelacht und gesagt: „Wenn du in ein Ersatzteillager kommst, dann kannst du die ganze Brust voller Parteiabzeichen haben – du bekommst nichts. Reichst du aber ein paar Scheinchen rüber, kannst du dir hinten im Lager selbst aussuchen, was du brauchst!“ So haben wir es ihm zu verdanken, dass der Kessel da ist. Vater staunte nicht schlecht, als Adi mit dem Kleintransporter auf dem Hof stand und lachend rief: „Ja, ist denn hier keiner zum Abladen da?“ Als er Vater dann erzählte, wie er es geschafft hatte, wollte der davon nichts hören und distanzierte sich sogar davon! Aber genommen hat er den Heizkessel mit großer Freude und die Moral eines großen Genossen war ihm schittegal. Ja, wenn es um das eigene Ich geht, sieht es bei vielen mit der Überzeugung auf einmal ganz anders aus. Egal, die Heizung ist komplett eingebaut und alle sind rundherum zufrieden.
Bernd muss schmunzeln, wenn er jetzt so darüber nachdenkt. Er hat sich eine Zigarette angezündet, lässt den Rauch hinaus in die Nacht gleiten. Er ist kein starker Raucher, müsste eigentlich gar nicht rauchen. Gemächlich macht er Zug um Zug. Das sind die Abende, wie er sie liebt. Hoch über ihm funkeln die Sterne am nächtlichen Himmelszelt. Eine wohltuende Ruhe liegt über dem kleinen Ort im Erzgebirge. Nur ab und zu hört man das Geknatter eines Trabis, im Volksmund „Honecker-Volvo“ genannt, von der Dorfstraße herüberschallen, die sich über einige Windungen hinunter ins Tal der Roten Weiseritz schlängelt. Dort unten ist es mit der Ruhe vorbei. Tag und Nacht rollt dort der Transitverkehr Skandinavien – Balkan. Ein großer Teil des Schwerlastverkehrs quält sich hier über das Erzgebirge in Richtung Böhmen auf der sogenannten Transitstraße, die an vielen Stellen eher einem Feldweg ähnelt! Sein Blick geht hinauf zum Erzgebirgskamm. Dort im Süden, wo man schwach die geschwungene Linie eines Bergrückens erkennen kann und von wo aus das Gebirge steil hinunter in das nordböhmische Braunkohlebecken abfällt, kommt gerade der Mond hervor. Zunächst noch kupferfarben, später ins Gelbliche übergehend beleuchtet er mit seinem matten Schein die Konturen der umliegenden Berge. An solchen Abenden will Bernd am liebsten allein sein. Er sitzt zwar auch gern mit Freunden oder Susann auf der Gartenbank vor dem Haus auf ein Schwätzchen mit einer Flasche Bier, aber heute genießt er es, allein zu sein. Er sieht zum Fenster hinaus, raucht gemütlich und kann seinen Gedanken nachhängen, umgeben von den von ihm so geliebten erzgebirgischen Bergen, seiner Heimat.

Wie oft hat er mit Großvater dort unten auf der Bank gesessen! Wie gern hat er seinen Erzählungen gelauscht! Immer wieder musste der Großvater von früher erzählen. Als die königlich-sächsische Kavallerie hinterm Dorf bei den Herbstmanövern über die Felder preschte. Als die Nazis an die Macht kamen und Großvater mit anderen Genossen der KPD Flugblätter und Zeitungen über die böhmische Grenze schmuggelte. Als dann die Bombennacht von Dresden kam und amerikanische Bomberverbände die Stadt in Schutt und Asche legten. Immer wieder war der Großvater aufgebracht darüber, denn der Krieg war längst entschieden. „Wir haben dort auf dem Hang gestanden. Die Feuersbrunst in dieser Nacht war so gewaltig, wir hätten Zeitung lesen können! Teilweise konnte man Straßenzüge erkennen. Aber wir Deutsche haben den Krieg ja gewollt“, so hört er ihn heute noch reden. Dann, als die Flüchtlingstrecks vom Tal heraufkamen, um vor den Russen zu flüchten … In Gedanken sieht er die ersten Panzerverbände der Russen von Reichstädt her anrücken und die Tiefflieger im Tal, wie sie die wehrlosen Flüchtlingskolonnen beschießen. Nach dem Krieg wurden in der heutigen Gießerei die Maschinen abgebaut und nach Russland transportiert. Wegen der Kriegsschulden, hat er gesagt. Auch erzählte er vom Wiederaufbau der Gießerei – es wurde ein volkseigener Betrieb. Mächtig stolz war der Großvater darauf. Als er dann vor sechs Jahren starb, brach für Bernd eine Welt zusammen.

Es ist eine milde Sommernacht. Wie viele Menschen in diesem Land träumen wohl in solchen Nächten von Sonne, Meer und fremden Ländern, in die sie nie reisen dürfen? Warum eigentlich nicht?, grübelt Bernd. Sie sind doch keine Verbrecher, die man gefangen halten muss. Sie gehen einer geregelten Arbeit nach. Machen Überstunden, wenn sie gebraucht werden. Die meisten sind sparsam und genügsam. Und doch dürfen sie die große, weite Welt da draußen nicht kennenlernen. Sehnsüchtig blickt Bernd hinauf zum unendlichen Sternenhimmel. Warum sind wir nur Menschen zweiter Klasse? Kein Wunder, wenn viele die Lust an der Arbeit verlieren! Sollen das die Vorzüge des Kommunismus sein? Ungläubig schüttelt Bernd den Kopf. Seine ganze Erziehung ist bisher in Richtung Kommunismus gegangen. Vom Elternhaus über Kindergarten, Schule, Lehre und sogar einen Teil der Freizeit. Aber seine Überzeugung ist beachtlich ins Wanken geraten. Alles schimpft! So, wie es in der Schule gelehrt wurde, ist es weiß Gott nicht gekommen! Wenn er nur an den von ihm so geliebten Wald denkt! Wie oft und gerne sind sie als Kinder durch die Wälder gezogen. Die Randfichten, auf die man so gut klettern konnte, da die Äste fast bis zum Boden reichten, waren bis zur letzten Nadel grün. Wenn er etwas nach links schaut, dort an der Ecke, stehen die drei Fichten, die Großvater bei der Geburt seiner drei Kinder gepflanzt hat. Tante Liesbett, Onkel Hans und Vater. Sogar jetzt, im faden Mondlicht, kann man sie sehen: Zwei von den Bäumen sind bereits abgestorben, der dritte wird auch schon vom Gipfel her braun. Was soll nur aus den Wäldern werden? Es wird Generationen dauern, bis der Wald wieder in Ordnung kommt, wenn es nicht schon zu spät ist. Es müsste sofort etwas getan werden. Aber Bernd weiß, es wird nichts geschehen. Dazu müssten sowohl hier als auch in Böhmen die Betriebe abgeschaltet werden. Das ist unmöglich, das weiß er genau. Die meisten Giftgase kommen aus Böhmen. Wenn er noch ein Weilchen wartet, so gegen Mitternacht, wird sich der Himmel über dem Erzgebirgskamm wieder rot färben und in jedem Winkel des Hauses nach Katzendreck stinken. Zuerst hatten sie Mohrle, die Katze, im Verdacht. Bis sie gemerkt hatten, es waren wirklich die Abgase aus Böhmen! Die arme Katze hatte damals, als sie im Verdacht stand, einen großen Bogen um das Haus gemacht. Man glaubt gar nicht, wie feinfühlig so ein Tier ist.

Nun hat sich Bernd schon die dritte Zigarette angezündet. Obwohl er ja kein starker Raucher ist. Immer wieder hat er versucht aufzuhören. Aber als er es schon fast geschafft hatte, wurde er zur Armee eingezogen, natürlich für drei Jahre. Das war er seinem Elternhaus schuldig. Dort ging die Qualmerei wieder richtig los. Nun ja, es waren drei harte Jahre. Aber er möchte sie nicht missen. Sie waren eine dufte Truppe. Er macht ein paar tiefe Züge, sein Blick geht noch einmal hinüber zu den Bergen auf der anderen Talseite, dem Kohlbusch. Dann drückt er fein säuberlich seine Zigarette im Aschenbecher aus … Ordnung hat er vom Großvater gelernt. Er zieht die Gardinen zu und legt sich zu Bett. Morgen muss er wieder zur Arbeit in die stinkende Gießerei. Dort hat schon Großvater gearbeitet, auch der Vater, bis er dann zur SED-Kreisleitung delegiert wurde. Er selbst hat sich nun daran gewöhnt, obwohl er nie da arbeiten wollte. Sein Herz gehörte schon immer dem Wald. Aber was soll’s, die Familientradition sollte eben fortgesetzt werden. In einem Großbetrieb hätte er bessere Entwicklungsmöglichkeiten, vor allem in politischer Hinsicht. Er soll einen Weg wie Vater einschlagen, darüber ist man sich einig. Besonders Mutter, Unterstufenlehrerin, ist sehr stolz auf die Entwicklung ihres Mannes. Bernd dreht sich zur Wand und schlummert einem neuen Arbeitstag entgegen.

Der Wecker piepst und piepst. Bernd fährt mit der Hand hinüber und bringt ihn zum Schweigen. Einen Augenblick bleibt er noch liegen und genießt die Behaglichkeit der Bettwärme. Dann springt er aus dem Bett in die Hausschuhe und geht zum Fenster. Das ist fast jeden Tag seine erste Handlung. Er blickt hinunter ins Tal, in dem der Morgennebel seine Bahn zieht. Heute ist es nur ein wenig Dunst und es wird wieder ein wunderbarer, sonnendurchfluteter Tag werden. Mit Grausen denkt er daran; in einer Stunde wird er wieder in der Gießerei sein, wird die Sonne nur noch durch die schmutzigen, verschmierten Glasscheiben der Oberlichter schimmern sehen. An so einem Tag ist es doppelt schwer, den Weg ins Tal anzutreten! Aber man muss ja leben. Und schaffen will man auch etwas. Bernd schlurft die Treppe hinunter. In der Küche hantiert schon Mutter, die es sich nie nehmen lässt, für Bernd das Frühstück zu richten, obwohl sie noch im Bett bleiben könnte. Der Unterricht beginnt erst um 7 Uhr 30. Bernd hat schon einige Male gesagt, er könne das allein erledigen, doch davon will Mutter nichts hören. Nach der Morgentoilette tritt Bernd mit einem Lächeln auf den Lippen in die Küche, denn er weiß, dass die Mutter dies am meisten liebt. Sie hasst Morgenmuffel. Vater ist einer geworden, nachdem er im Betrieb aufgehört hat und seine acht Stunden auf der Kreisleitung absitzt. Er liegt noch im Bett. Ist er es doch gewöhnt, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen. „Guten Morgen, Sohnemann, hast du gut geschlafen? Ich dachte schon, du willst heute gar nicht aufstehen! Bei solch einem Wetter fliegt man doch nur so aus den Federn“, begrüßt sie Bernd mit einem warmen Ausdruck in den Augen. „Du brauchst ja auch nicht in diesen stinkenden Betrieb“, entgegnet Bernd etwas mürrisch. „Du kannst den ganzen Tag die Sonne sehen.“ „Nun reg dich nicht so auf. Die acht Stunden wirst du schon überstehen. Danach kannst du dann mit Susann baden fahren. Du glaubst wohl, in einem Klassenzimmer macht es mehr Spaß! Die Rangen wollen auch alles andere als lernen.“ Bernd rührt gemächlich in seiner Kaffeetasse. Dazu isst er ein Honigbrot, das hat er am Morgen am liebsten. Leider ist nicht immer Honig da. Den gibt es nur in den Delikatessläden. Und so oft kommen sie da nicht hin. Es ist schon ein Jammer. Viele Dinge, die es früher in jedem Geschäft zu kaufen gab, erhält man nur noch im sogenannten Deli. Es wird im Volksmund auch gesagt: Die Deli-Läden sind die Intershops der Leute, die keine Verwandten im Westen haben. Nur sind die Waren in Ostmark bedeutend teurer. „Hast du Westmark in der Tasche, ist der Sozialismus große Klasse.“ Bernd muss lächeln, wenn er an diesen Ausspruch seiner Arbeitskollegen denkt. Auch denkt er daran, wie die Leute im Frühling vor den Jugendweihen bis zu zwei Stunden wegen ein paar Dosen Ananas angestanden haben. Kein Wunder, dass alles schimpft! „Was grübelst du denn schon wieder?“, fragt die Mutter. „Hast du Probleme?“ „Warum sind eigentlich die Deli-Läden eingerichtet worden? Kann es nicht all das auch in gewöhnlichen Läden geben?“ Bernd rührt verloren im Kaffee. „Du musst ja nicht im Deli kaufen. Alles, was man zum Leben braucht, bekommt man ja überall. Wer allerdings Extrawünsche hat und nobel leben will, der soll doch dafür bezahlen!“ Mutters Ausdruck wird ärgerlich. „Aber Ananas und Mandarinen sollten doch bei einer Feier nicht fehlen! Für eine Dose, die drüben zwei Mark kostet, muss ich hier 16 Mark bezahlen! Wie lange ich dafür arbeiten muss!“ „Ja, und was bezahlst du drüben an Miete?! Lass dich nicht so von Adi verblenden. Der hat doch nur Flausen im Kopf. Der Sozialismus siegt, wenn es uns der Klassenfeind auch schwer macht! Ich möchte nur wissen, was mit dir los ist. So unzufrieden, wie du in der letzten Zeit bist, gefällst du mir gar nicht!“ Sie schaut ihn lange und liebevoll von der Seite an. Er ist ihr einziges Kind und ihre ganze Liebe gehört ihm. Sie sorgt sich jedoch die letzte Zeit um ihn, denn er gefällt ihr in seiner Einstellung überhaupt nicht mehr! Und daran ist nur dieser Mädchenheld Adi schuld! Er übt einen sehr negativen Einfluss auf den Jungen aus. Vor allem jetzt, wo er Kabelanschluss im Fernsehen hat und jeden Abend bis in die Nacht hinein Westfernsehen guckt. Er verherrlicht den goldenen Westen in den schillerndsten Farben und der Junge glaubt ihm mehr als seinen eigenen Eltern, die ja lange genug in der Partei und vom Sieg des Sozialismus überzeugt sind.

Doch schuld daran ist auch die Staatsführung. Sie muss daran denken, wie niedergeschlagen Bernd nach Hause kam bei der Sache mit Luis Korvalan, dem chilenischen Kommunisten. Ganz groß ging es durch die Medien: Durch die internationale Solidarität ist Luis Korvalan freigekämpft worden! Wie stolz waren wir alle über diesen Sieg. Am nächsten Morgen hat Bernd in der Brigade mit Freude darüber berichtet. Doch man hatte ihn ausgelacht. Diejenigen, welche auf den Bergen in günstiger Lage wohnen, hatten im Westfernsehen miterlebt, wie er in Zürich auf dem Flugplatz ausgetauscht wurde. Für Bernd waren damals die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen zu diesem Staat sehr ins Wanken geraten und sie glaubt zu wissen, dass er das bis heute nicht so richtig überwunden hat. Nichts geht Bernd mehr ans Gemüt, wie wenn er lächerlich gemacht wird. Schon als Kind hat er so etwas schwer überwinden können. Sie muss daran denken, wie es damals war, als Bernd in die erste Klasse ging. Sie gingen zur Weihnachtsfeier in Vaters Betrieb. Er hatte das Gedicht zu Hause so gut gelernt. Als er dann zum Weihnachtsmann nach vorne musste, bekam er keinen Ton heraus. Zu allem Übel begannen die Größeren zu lachen. Da war es aus für Bernd! Laut weinend lief er aus dem Saal und es hat lange gedauert, bis er sich wieder gefangen hatte.

Sie packt Bernds Frühstücksbrote in die Stullenbüchse, legt noch einen Apfel hinzu und verstaut alles in Bernds Tasche. Bernd hat sich inzwischen angezogen. Er fährt täglich mit dem Moped zur Arbeit. Nur im Winter, wenn es einmal viel geschneit hat oder empfindlich kalt ist, geht er zu Fuß. Es sind ja nur zwei Kilometer und zu Fuß kann er noch eine Abkürzung über die Viehkoppel nehmen. Sonst zieht er immer eine dicke Jacke an. Heute jedoch, bei diesem hochsommerlichen Wetter, genügt ein kurzärmeliges Hemd. Schutzhelm und Lederhandschuhe zieht er aber immer an. Seit seinem Sturz damals im Frühling, als der Schnee getaut war und der ganze Streusand vom Winter noch auf der Straße lag. Er war etwas spät dran gewesen und zu schnell in die scharfe Linkskurve unten hinter dem Wäldchen gefahren. Es kam, wie es kommen musste: Das Vorderrad rutschte weg und er selbst auf dem Knie und der linken Hand die Straße lang bis in den Straßengraben. Dem Moped war nicht viel passiert, aber Bernd hatte es ganz schön erwischt. Er musste 14 Tage krank zu Hause bleiben. Das war nun gute zwei Jahre her, doch seitdem fährt er immer mit Lederhandschuhen.

Er geht zur Garage, fummelt seinen Schlüssel heraus. Das Schloss schließt butterweich. Auch so eine Erziehung vom Großvater; Werkzeuge, Türen, Fenster und dergleichen mussten immer top in Ordnung sein! Das Moped springt mit einem Tritt an, das macht die neue Elektronik. Die ist wirklich Spitze! Früher musste man viele Male treten. Wenn man Pech hatte, war das Moped dann auch noch abgesoffen. Gemächlich fährt er der Dorfstraße zu. Den Berg hinunter schaltet er auf den großen Gang und lässt das Gefährt einfach laufen. Nur an der scharfen Linkskurve bremst er rechtzeitig ab, in guter Erinnerung an seinen Sturz.

Am Zugang zum Betrieb, an der Pforte, ist es wie immer. Alles drängelt nach der Stechkarte. Das ist das Wichtigste. Viele, die mit dem Fahrzeug kommen, fahren zuerst zur Pforte. Dann wird erst einmal „gestochen“, um das pünktliche Erscheinen zu dokumentieren. Erst dann bringen sie ihr Fahrzeug auf den Parkplatz. Wie viele Minuten dabei vergehen, bis sie endlich am Arbeitsplatz sind! Aber keiner fragt danach. Auch dem Pförtner ist das egal, wenn er nur seine Ruhe hat. Hauptsache, man ist da und verrichtet seine Arbeit.

Am Arbeitsplatz angekommen, werden erst mal alle begrüßt und das Fernsehprogramm vom vergangenen Abend ausgewertet. Die, die Westen gucken können, haben natürlich das Sagen und wissen immer das Allerneueste. Jeder bringt seine Meinung vor und ist überzeugt davon, er weiß das meiste und Wichtigste. Es wird hin und her diskutiert und dabei rückt die Frühstückszeit immer näher. Ehe ein jeder dann in Gang kommt, erscheint das Zeichen von einem Kollegen, in den Speisesaal aufzubrechen. Viele gehen schon früher hinüber, um die besten Frühstücksbrötchen zu ergattern. „Bernd, nach dem Frühstück ist Gewerkschaftsversammlung“, ruft Holger noch herüber. Bernd ist in der Brigade der Gewerkschaftsvertrauensmann und muss dort die Interessen der Brigade vertreten.

Das war auch so eine Sache mit Holger Lehmann! Er hatte seine Lehre als Dreher mit „gut“ bestanden. Hatte sich gut in die Brigade eingelebt. Dann sollte die Brigade einen Mann zum Meisterlehrgang delegieren. Keiner wollte gehen, denn alle waren mit ihrer Arbeit zufrieden. Im Wettbewerbsprogramm war jedoch vereinbart worden, einen Mann zu qualifizieren. Es hatte damals großer Überredungskünste bedurft, bis Holger endlich „Ja“ sagte und die zwei Jahre zur Schule ging. Die Prüfung hat er dann irgendwie geschafft. Als er wieder in den Betrieb kam, war aber keine Stelle frei. So arbeitete er weiter wie früher. Als aber dann der Abteilungsleiter in Rente ging, rückte Holger auf. Von da an war er ein anderer Mensch. Vergessen war das gesellige Brigadeleben! Wo er nur konnte, verpfiff er die Kollegen. Man nennt ihn im Betrieb den Radfahrer: nach oben ducken und nach unten treten! Er hat nicht mehr viele Freunde im Betrieb. Wenn Bernd daran denkt, dass sein Vater mit ihm das Gleiche vorhatte, wird ihm speiübel. Es war damals so weit gekommen, dass Bernd ausziehen wollte, wenn der Vater ihn zur Weiterbildung zwingen würde. Das wäre mit Sicherheit der erste Schritt in die politische Laufbahn geworden. Der alte Jakop sagt immer wieder: „Wenn der Arbeiter was geworden ist, dann vergisst er seine Herkunft!“ Jakop erinnert Bernd immer an Großvater.

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