Der krumme Gitarrenhals

Der krumme Gitarrenhals

Jürg René Ackeret


EUR 20,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 252
ISBN: 978-3-99146-676-5
Erscheinungsdatum: 04.04.2024
Zwischen Vietnam-Krieg und der aufkommenden Hippie-Bewegung, dem lieben Gott und den Beatles will Jonas in seiner Schweizer Heimat mehr vom Leben als Zucht und Ordnung. Findet er die Liebe und was hält das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für ihn bereit?
Der krumme Gitarrenhals

I got to keep movin’, I got to keep movin’
Blues fallin’ down like hail, blues fallin’ down like hail
Hmm-mmm, blues fallin’ down like hail, blues fallin’ down like hail
And the days keeps on worryin’ me
There’s a hellhound on my trail, hellhound on my trail

It keep me with ramblin’ mind, rider
Every old place I go, every old place I go
I can tell the wind is risin’, the leaves tremblin’ on the tree
Tremblin’ on the tree
I can tell the wind is risin’, leaves tremblin’ on the tree
Hmm-hmm, hmm-mmm

All I need’s my little sweet woman
And to keep my company, hey, hey, hey
My company

Robert Johnson



Beben

Es gibt Erfahrungen, die so erschreckend sind, dass man sie vorerst nicht begreift. Das können Sekunden des Unvermögens sein, in denen sich die sichere Welt, in der man lebt, in eine Hölle verwandelt. Ich sitze lesend an meinem Pult vor dem offenen Fenster. Plötzlich ein Grollen, das rasch anschwillt. Ist da eine Gefahr von der Verandatür herkommend – ein Monster vielleicht – welches das ganze Haus zum Erzittern bringt? Todesangst flackert in mir auf. Nun wackelt das Pult wie ein Schiff auf hoher See. Mein Bürostuhl dreht sich. Es ist mir, als fiele ich hunderte von Metern ins Erdinnere. Ich haste durch das Wohnzimmer, vorbei an klirrendem Glas, dem zerborstenen Fernsehgerät, herabfallenden Büchern, renne unter den Türstock der Verandatür. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich muss weg hier! Raus! Mein Blick sucht nach etwas, an dem ich mich festhalten kann. Ich renne. Die Kalifornische Sequoia im Garten, an die ich mich kralle, schwankt hin und her. Vor meinen Augen öffnet sich die Erde, breit wie ein Bombenkrater. Mein Herz rast. Unter dem Orangenbaum, dort wo die Hecke das Grundstück begrenzt, ist der Boden mit Früchten übersäht. Ist das hier schon das Ende, finito?

Es muss eine Ewigkeit vergangen sein. Totenstille breitet sich aus. Ich atme tief ein. Ein lauer Spätsommerabend, und ich schlottere am ganzen Leib. Zitternd gehe ich ins Haus zurück. Außer mir ist da niemand. Charly und George sind gar nicht erst nach Hause gekommen. Die Lichter sind ausgegangen, das Surren des Kühlschranks verstummt. Ich bin verwirrt, geschockt. Teufel nochmal, was soll ich tun? Ich habe keinen Plan. Der Alltag muss doch wohl weitergehen? Da fällt mir ein: Heute ist mein Aikido Training. Fast hätte ich es vergessen. Ich habe mich den ganzen Tag aufs Aikido gefreut. Ich muss dahin. Jetzt. Ich steige auf mein Bike und jage davon. Durch die Park Avenue, an Geschäften vorbei. Der Safeway Store ist bis zum Fensterrand ein Meer von durcheinandergeworfenen Lebensmitteln und ihren Behältern. Eingangstüre und Schaufenster sind zerbrochen. Da, ein Nachbeben. Früchte kollern aus dem offenstehenden Eingang. Straßenampeln stehen schief, sie sind dunkel. Der Verkehr ist zum Stillstand gekommen. Einige Fahrzeuge stehen ineinander verkeilt in einem Garten. Eine gespenstische Stille; Menschen sind keine zu sehen. Was mache ich eigentlich hier?


Meine Mitbewohner George und Charly habe ich seit Beginn des Bebens nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo sie sind, wann sie wieder kommen werden. Vermutlich sind sie bei den Eltern oder Freundinnen. Dann stehe ich wieder im Wohnzimmer. Es ist nicht zu fassen: Am Boden liegt eine Whiskyflasche, die den Sturz aus dem zersplitterten Schrank überstanden hat. Das benötige ich jetzt dringend. What the fuck is going on here? Ich genehmige mir einen Schluck Whisky, dann noch einen. Ich esse zwei Birnen, schalte das Radio ein. Stimmen reden durcheinander. Eine Frauenstimme betet, über einen anderen Sender ist ein Psalm singender Kirchenchor zu hören. Ein Sprecher berichtet mit sich überschlagender Stimme von der eingestürzten Bay Bridge, von verschütteten Autos und Menschen. Von Minute zu Minute werden die Nachrichten dramatischer. Teile der San Francisco-Oakland Bay Bridge seien zerstört, einige Autos seien in die Tiefe gestürzt. Mehrere Highways seien wie nach einem Bombenangriff beschädigt. Die Rettungskräfte seien völlig überlastet.

Um mich herum herrscht völlige Dunkelheit. Stunden später werfe ich mich aufs Bett, starre an die Decke. Trotz der Schwüle im Zimmer fröstle ich am ganzen Körper. Ein Gefühl der Verlorenheit kriecht meinen Rücken hinauf. Da! Ein erneutes Dröhnen, als hätte jemand eine Riesenwaschmaschine in Gang gesetzt. Ich gehe in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Aber da ist kein Strom mehr. Hätte ich doch daran denken sollen, da ja auch die Lampen längst nicht mehr funktionieren. In Charlys Zimmer finde ich ein paar Kerzen, die er wohl benützt, wenn seine Freundin Kate bei ihm schläft. Ich schaue mich in der Küche um. Der Boden ist von Scherben übersäht. Ein Küchenschrank mit Schiebetür ist intakt geblieben. Darin finde ich das nötige Geschirr, um eine Mahlzeit einzunehmen. Von wegen Mahlzeit! Ich öffne die Kühlschranktür, ein unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Klar, auch hier kein Strom. Erst gestern hatte Charly, auf den der Mietvertrag ausgestellt ist und der sich für die Ordnung verantwortlich fühlt, eine Menge Fleisch im Tiefkühlfach eingelagert. Wie lange wird es wohl dauern, bis wir wieder kochen können? Wovon soll ich denn leben? Selbst um einen Toast zuzubereiten, brauche ich Strom. Aber ich habe sowieso keinen Hunger. Obschon es im Haus sehr warm ist, beobachte ich eine Gänsehaut auf Armen und Beinen, zittere, bin unfähig, mich zu rühren. Ich schaue auf die Uhr, es ist drei Uhr morgens. Da klingelt das Telefon aus der Stube, am anderen Ende ist Tina aus der Schweiz. Es ist kaum zu glauben, meine Schwester. Die Mittagsnachrichten. „Ein Erdbeben“, ruft sie, „Gott sei Dank! Du lebst!“ Ein Rettungsanker, Tinas Stimme! Ich stammle: „Ja, ich bin noch am Leben.“ 8000 Kilometer Entfernung und meine Schwester hält den Telefonhörer in der Hand. Ihre Stimme klingt verwaschen. Sie sei besorgt um mich. Laut den Meldungen habe es viele Tote gegeben. Das Epizentrum des Bebens sei unweit von Palo Alto, beim Loma Prieta, dem höchsten Berg der Santa Cruz Mountains. Ich beantworte ihre Fragen, ja ich sei gesund. Meine Mitbewohner seien seit dem Beben verschwunden; vermutlich seien sie bei ihren Eltern oder Freundinnen. Tina sagt, dass sie vom Erdbeben mit Epizentrum in Loma Prieta südlich von Santa Cruz in den Frühnachrichten gehört habe. Eine Stärke von 7.1; also recht heftig. Man habe über große Schäden an Highways und Gebäuden in San Francisco berichtet. Als ich auflege, sacke ich zusammen. Ich spüre salzige Tränen in meinen Mund laufen. Doch ich fühle mich etwas weniger einsam. Wie ein Blitzschlag fährt es mir durch den Kopf: Verdammt, wie weiter? Mein Studium? Ich lege meine Hände übers Gesicht, mein Atem stockt. Jetzt raff dich auf, Jonas, das Beben ist vorbei. „Das große Erdbeben“, „The Big One“. War es das?



Franziska

Die jugendliche Frau wendet ihr Gesicht für einen Augenblick der blassen Sonne zu, als ob sie sich eine Pause gönnen wolle. Sie trägt zum ersten Mal in diesem Frühling eine ärmellose Bluse, dazu einen weiß geblümten Jupe. Sie ist vierundzwanzigjährig, könnte nach ihrem Aussehen eben zwanzig geworden sein. Schmales Gesicht, dunkelblaue Augen; ihre Lippen umspielt ein Lächeln. Es erscheint jedoch nur, wenn ihr Mann in der Nähe ist. Wenn er geht, aufbricht zur Arbeit, macht sich auf ihrem Gesicht der Ausdruck zerstreuter Abwesenheit breit. Sonn- und Alltag lassen sich bei ihr nicht anhand der Kleidung unterscheiden. Sie legt Wert auf einen angemessen eleganten Kleidungsstil. Um den Hals trägt sie einen hellblauen Schal.

Franziska trägt einen Korb zum Wäscheständer in den Garten. Sie greift hastig in den weißen Sack mit den Holzklammern, hängt gewaschene Hemden, dunkle Hosen, wollene, lange Unterwäsche an die Leine. Ihr Blick geht von der Wäsche im Korb zur Leine, wo sie die einzelnen Stücke mit Klammern befestigt, zum Kind, das sich eben zum Boden bückt, um eine Klammer aufzuheben und sie in den Mund zu stecken, dann ihren Schürzenzipfel ergreift. Eben hat die Kirchturmuhr halbzwölf geschlagen, sie erwartet Rolf zum Mittagessen. Heuer blüht der Flieder viel zu früh, denkt Franziska.

Eine Auffahrt führt zur Garage eines weiß gekalkten Hauses, an dessen Vorderseite ein schwarz umrandetes Schild informiert: „Dr. med. vet. Ammermann, Tierarztpraxis“. Darunter informiert ein Emailschild: „Unterstraße 9“.

Von der Auffahrt führen moosbewachsene Granitplatten über eine kurze Treppe in den Garten, vorbei am Wäscheständer zur Kinderschaukel, wo er endet. Unweit davon ein Kieshaufen. Der Garten besteht aus einer großen Rasenfläche, in der mehrere inselförmig eingelassene Rosenbeete Ordnung schaffen und die sich einen sanften Abhang hinunterzieht. Die Grenze zum Wiesland des benachbarten Bauernhofs bilden eine Steinmauer und einige Johannisbeerstauden und Brombeerbüsche. Am unteren Ende, eingerahmt von Steinplatten, ein untiefer Swimmingpool, in dessen Wasserfläche sich das große Giebeldach spiegelt. Eine blaue Abdeckplane liegt zusammengefaltet daneben. Der Garten ist von einer hohen Buchenböschung umgeben; auf der Südseite schützt ein Haselnussbaumbestand die Wohnräume und einen Sitzplatz vor fremden Blicken.

Die Haustüre führt in einen Flur, von dem aus man in die Küche oder in die Stube gehen kann. Eine Treppe, mit rotem Teppich bespannt, führt hinauf zu den vier Schlafzimmern, die Treppe hinunter führt in eine unterirdische Welt, die aus einem Keller, der Waschküche und dem Nähzimmer besteht. In einem Anbau ist die Praxis untergebracht, bestehend aus zwei Sprechzimmern mit Apothekerschränken, die bis zur Decke reichen.

Der schrille Ton des Telefons ertönt durchs offene Küchenfenster und Franziska eilt von draußen ins Haus zum Wandtelefon. Bauer Wehrle ruft an, sie müsse Rolf sofort informieren, ein Notfall.

Wenig später eilt sie die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, stellt sich ans Fenster des Kinderzimmers, schiebt die Jalousien beiseite: „Jonas, lass das!“ Jonas führt sich gerade eine Kröte neugierig zum Mund. Das gelingt nicht, da sie sich zu regen beginnt und ihm das bräunlich-weiß gesprenkelte schleimige Tier entgleitet. Sein Gesicht verdüstert sich. Das Tier kriecht verängstigt auf die Böschung zu und verschwindet unter Zweigen. Das Kind rennt hinterher, stolpert; es kugelt das kurze Wiesenband hinab, bleibt im Geäst der Böschung hängen, während Franziska ihrem Sohn von oben zuruft:

Pfui, wie kannst du? Kröten soll man nicht anfassen!

Der Gedanke streift sie, dass sie Jonas heute vor drei Jahren um diese Zeit zur Welt gebracht hat. Das Baby hatte sich so harmonisch in ihre Körperrundungen eingenistet. Tina, die Erste, hatte sie zwei Jahre zuvor gleich angelacht. Dann hatte sie geschrien, die Fäustchen geballt und dabei einen puterroten Kopf bekommen. Als Rolf seine neugeborene Tochter Tina auf den Arm genommen hatte, huschte ein stolzes Lächeln über sein Gesicht. „Myni Maite!“, hatte er gerufen und ihre Babyfüße geküsst. Er war so stolz auf das Mädchen gewesen.

Als ihr die Schwester bei Jonas’ Geburt das noch feuchte Baby in den Arm gelegt hatte, fragte sie sich, welche Reaktionen von ihr erwartet würden. Denn als sie bei ihrem zweiten Kind das Schnäbi des Neugeborenen gesehen hatte, war sie erschrocken. Nachdem sie mit Jonas vom Krankenhaus heimgekommen waren, hatte Rolf eine besorgte Miene aufgesetzt, ihr zwar zugelächelt, sich aber dann entschuldigt, er müsse den Abend mit Buchhaltung verbringen. Es sei dringend.

Wäre ihm eine Tochter lieber gewesen? Anstelle eines zappeligen Knirpses? Tränen treten in ihre Augen. Sie schließt das holzgerahmte Fenster, eilt die Treppe hinunter, packt den Telefonhörer, und ruft Rolf an:

Mach bitte noch einen Umweg über den „Erlenhof“. Dort lahmt ein Pferd.

Sie kennt die Bauernhöfe und die Stimmen der Bauern, sie kennt die Straßen, die Wege, die Weiler. Früh um sechs kam der erste Anruf, ein Notfall, eine Kuh, die in der Nacht ein Kalb geworfen hatte. Der Tierarzt musste die Nachgeburt entfernen, da Keime und Bakterien leicht in den Uterus eindringen konnten, wenn sie zu lange im Mutterleib blieb. Oft sind es Kalbsgeburten, die Kuh ist eng im Muttermund oder das Kalb liegt quer im Bauch und will steiß- und mit den Hinterbeinen voran heraus. Immer ist der Viehdoktor zur Stelle. Seit sieben ist er unterwegs. Auf Franziskas Stirn bilden sich tiefe Furchen, sie fährt sich rasch mit beiden Händen durch die Haare. Es würde ein verspätetes Mittagessen geben. Also den Käseauflauf erneut aufwärmen, Esther, der Hausangestellten klar machen, dass aus der Ruhestunde frühnachmittags heute nichts werden würde. Dann steht der VW Käfer in der Einfahrt. Rolf stellt den Koffer in den Praxisraum, mit ihm weht ein Schwall herber Stallluft herein, er zieht die Stiefel voller Kuhdreck aus, platziert sie auf einer Matte und wäscht sich die Hände. Dann nimmt er seinen Platz am Tischende ein.

Im weißgetünchten Kinderhochsitz Jonas, der mit dem Löffel vor sich auf die Tischkante schlägt und den Plastikbecher umstößt, das Wasser tropft ihm über die Beine und bildet eine Pfütze auf dem Boden. Auf der Holzbank neben Mutter der blonde Krauskopf seiner Schwester Tina, den Blick zu Jonas gewandt. Im Korbwagen am Ende der Sitzbank liegt Beni, der jüngere Bruder, eineinhalbjährig, den Schnuller im Mund. Wenn seine dunklen Augen nicht geschlossen sind, richten sie sich auf die Mutter. Esther trägt das Essgeschirr und Platten mit Gemüse und Fleisch an den Tisch. Als Hauswirtschaftslehrtochter lebt sie unter dem gleichen Dach. Sie steht um sechs auf, macht Frühstück. Sie hat um zehn Feierabend, wenn alle Kinder im Bett sind. Die Erwachsenen falten die Hände: „Lieber Gott wir danken dir …“ Um Jonas’ Tellerrand ein Kranz von Wiesenblumen. Das Klirren des Bestecks, Kaugeräusche, Schweigen vorerst; dann beginnt Franziska:

Übermorgen Sonntag, wer hat Notfalldienst, Heiri oder du?

Rolf wirft ihr einen verärgerten Blick zu.

Wir, wir wünschen uns, dass du wieder mal einen Tag frei hast.

Rolf dreht am Knopf des Radios: „Der Sowjetrussische Regierungschef und Generalissimus Stalin ist schwer erkrankt. Nach Berichten der russischen Nachrichtenagentur TASS hat Stalin in der Nacht auf den Montag eine Gehirnblutung erlitten, von der lebenswichtige Teile des Gehirns betroffen wurden. Die rechte Körperseite ist gelähmt, der Kranke ist unfähig zu sprechen, später verlor er das Bewusstsein. Zur Behandlung des Generalissimus sind die besten Vertreter der medizinischen Wissenschaft aufgeboten worden.“ Der Sprecher geht zu den Wetterprognosen über: „Alpennordseite meist sonniges und tagsüber mildes Wetter, Nachtfrost in den Niederungen.“ Nun ist es der Vater, der spricht:

Der Generalissimus wird den morgigen Tag nicht überleben! Es ist absehbar, dass es zu einem Machtkampf kommen wird, vielleicht werden dabei einige erschossen. Und Chruschtschow wird wohl die Oberhand gewinnen.

Franziska schaut mit einem Lächeln vom Teller auf, nickt, bietet die Schüssel mit den Fleischstücken herum. Sie wendet sich dann schnell Esther zu:

Die Geburtstagstorte!

Mutter und Vater und auch Esther singen „Happy Birthday!“ und lachen den Jubilar an. Tina klatscht in ihre Hände. Jonas’ Mund rundet sich, er darf eine weiße Kerze ausblasen; es bleibt beim Versuch. Dann hebt die Mutter die Tafel mit einer gebieterischen Geste auf:

Esther, ich helfe dir beim Abtragen des Geschirrs, den Rest machst du bitte selbstständig.

Den freien Sonntag mit Rolf hat sie längst abgeschrieben. Ärgerlich. Ich bräuchte Rolf, gerade die beiden Buben, ihre Angetriebenheit lässt sich ohne Rolf kaum meistern.

Und dann wie angeworfen: eine Migräne. Die Mutter geht nach oben. Sie schlägt die Schlafzimmertüre hinter sich zu. Sie legt sich ins Bett und legt einen angefeuchteten Waschlappen auf die Stirn.



Der zornige Hagios

Dahlien, Vergissmeinnicht, entlang der Granitmauer die Kapuzinerkresse blühen im Garten. Vater schneidet Rosen. Er legt die Rosenschere neben sich:

Lass die Finger von dieser Schere. Damit kannst du die Finger blutig schneiden!
Pah, lass mich doch.

Mutters Blick wendet sich einem Gestell zu, auf dem Kinderbücher stehen. Sie greift nach einem dicken Buch, legt es auf die Bettdecke, blättert und bleibt dann bei einem Bild stehen.

„Die Bibel in Bildern“, sagt sie, zu mir gewandt, von Julius Schnorr von Carolsfeld. Sie muss die Decke breitschlagen, damit sie das Buch öffnen kann: Der Sündenfall im Paradies. Es ist ein dicker Apfelbaumstamm zu erkennen, darunter eine Frau und ein Mann, beide nackt und umgeben von Pflanzen und friedlichen Tieren. Der Leib einer mächtigen Schlange windet sich am Stamm hinauf. Die Zunge des Tieres zielt direkt aufs Gesicht der Frau. „Eva“ nennt sie Mutter. Die Frau reicht dem Mann, Adam, einen Apfel. Diese Schlange hat einen hinterlistigen Blick, denke ich. „Ist die Schlange schuld an der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies?“ Die Mutter sagt, dass die beiden Menschen schuld seien. Sie hätten nicht vom verbotenen Apfel essen sollen. Das verstehe ich nicht, da ja die Schlange sie verführt hat. Die Mutter sitzt noch lange an meinem Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Sie singt das Beresinalied: „Unser Leben gleicht der Reise eines Wanderers in der Nacht … Jeder hat in seinem Gleise etwas, das ihm Kummer macht …“

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