Das verbotene Geheimnis

Das verbotene Geheimnis

Hanna Arndt


EUR 25,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 760
ISBN: 978-3-99048-040-3
Erscheinungsdatum: 29.11.2018
Das ehemalige Pflegekind Hanna hat endlich heim zu ihrer Familie gefunden. Auch wenn sich nach außen keine Schadspuren ihrer schlimmen Kindheit zeigen, ist die junge Frau tief traumatisiert. Hanna will seelisch genesen, obwohl niemand ihre wahre Not erkennt …


Traurige Erkenntnis

Es war Samstagnachmittag, und ich suchte auf dem Estrich nach Schulbüchern.
Ich hoffte, ein altes Lese- und Rechenbuch von der sechsten Klasse zu finden. Am Montag ging ich in die neue Schule, und ich hatte die Schulsachen auf dem Berg noch nicht geholt. Eigentlich hätte ich die heute unbedingt noch holen müssen, denn am Sonntag durfte man den Schulhausabwart nicht stören. Aber es wollte kein Geschwister mit mir kommen, und Vater musste arbeiten. Mutter konnte nicht so weit laufen, weil sie Schmerzen in den Beinen hatte. Sie sagte, ihr mache jeder Schritt weh. Ihre Beine waren geschwollen, und sie musste sie jeden Tag einbinden.
Alleine getraute ich mich nicht auf den Berg, weil ich Angst hatte, irgendjemand würde mir begegnen und mich auf den Hof zurückschleppen. Mueti hatte viele Freunde, die das gerne für sie machen würden. Es waren diejenigen, die mich ständig hinter den Vorhängen beobachteten, wenn ich die Ware auslieferte. Das merkte ich, weil sich die Vorhänge ein wenig bewegten. Sie telefonierten dann gleich Mueti, um ihr zu melden, mit wem sie mich zusammen gesehen hatten. Mueti verlangte dann, dass ich wortwörtlich erzähle, was die Person gesagt oder gefragt habe und was ich geantwortet habe. Ich sagte immer dasselbe, wir hätten über die Schule geredet. Mueti ärgerte sich ständig, weil die Schule für mich wichtig war, darum sagte ich es so, auch wenn es nicht stimmte. Dagegen konnte sie nichts einwenden. Ich durfte über die Schule reden, wann ich wollte und mit wem ich wollte, weil das nichts Schlechtes war.
Einmal fragte ich, über was ich mit den Leuten reden sollte, wenn ich über den Hof nicht reden dürfe und über die Schule auch nicht. Sie sagte, ich dürfe überhaupt mit niemandem reden und auf Fragen keine Antwort geben. Aber wenn ich Mueti keine Antwort gab, bestrafte sie mich, weil das unanständig war, und ich sagte, dass ich das nicht anständig fände, den Leuten keine Antwort zu geben. Sie erklärte, Fremden keine Antwort geben sei nicht unanständig, aber zu Hause keine Antwort geben, sei unanständig. Das sei die Regel, an die ich mich zu halten habe.
Warum machte Mueti für alles die Regeln? Und warum eigentlich musste immer alles geregelt sein?
Die Fenstergucker waren diejenigen, die mir bei jeder Gelegenheit vorhielten, ich sei undankbar. Dazu gehörte auch die Handarbeitslehrerin, die uns Mädchen seit der fünften Klasse Unterricht gab. Sie sagte, manches Kind wäre glücklich, wenn es auf einem so schönen Hof leben dürfte und es so gut hätte, und würde sich mehr Mühe geben und der Pflegefamilie nicht so viel Ärger machen. Darauf durfte ich keine Antwort geben, aber ich dachte, wenn sie auf dem Hof leben müsste, würde sie das nicht sagen.
Ich hatte nun den ganzen Schrank durchwühlt und kein Buch gefunden und setzte mich auf den Fenstersims. Die Sonne schien direkt ins Fenster, und hinter dem Glas war es angenehm warm. Hier war mein Lieblingsplatz, weil ich auf den Berg sehen konnte. Ich sah das Haus von Hannelore und das von einigen anderen Schulkameraden. Vom Hof sah ich das Dach und die obere Laube und den Lindenbaum.
Ich verstand immer noch nicht, wie das möglich sein konnte, dass ich zu meinen Eltern hinuntersehen konnte und sie zu mir herauf und wir nichts voneinander wussten. So viele Jahre! Hätte gerne gewusst, ob meine Eltern auch mal zum Hof hinaufschauten und an mich dachten? So vieles hätte ich gerne gewusst! Ich hatte viele Fragen und fragte nicht aus Angst, eine andere Antwort zu bekommen, als ich hören wollte. Wenn ich nicht fragte, konnte ich mir selber Antworten zurechtlegen und war dann nicht enttäuscht. Meine Antwort war, natürlich hatten meine Eltern hinaufgeschaut und waren traurig, weil sie mich vermissten! Sie waren sogar sehr traurig, das wusste ich genau!
Am Montagmorgen musste ich vor Schulbeginn in der Telefonkabine Herrn Reist anrufen und ihm mitteilen, dass ich nun im Dorf zur Schule ging. Ich hoffte, er schicke mir meine Schulsachen per Post, damit ich sie nicht holen musste. Jetzt war Herr Reist nicht auf dem Berg. Er fuhr immer gleich am Samstagmittag mit dem Auto nach Hause in die Stadt und kam erst am Sonntagabend wieder. Auch die Ferien verbrachte er zu Hause und kam erst am Sonntagabend zurück.
Ich freute mich auf die neue Schule, vor allem weil ich mit meinen Brüdern zusammen war. Wenn man ältere Geschwister in der Schule hatte, getraute einem niemand etwas zuleide zu werken, und man fühlte sich sicher.
Rahel ging bis zur fünften Klasse in ein anderes Schulhaus und hatte einen Weg von wenigen Minuten, und wir brauchten zwanzig Minuten. Der neue Schulweg war kürzer und ging nicht bergauf. Ich war sehr froh, musste ich nicht mehr bergauf laufen. Wenn ich bergauf ging, bekam ich zu wenig Luft und musste immer wieder stehen bleiben und verschnaufen. Das hatte mir Mueti nie geglaubt. Sie sagte, das könne gar nicht sein, dass ich in meinem Alter kurzatmig sei. Das gebe es nur bei alten Menschen.
Warum eigentlich wurde Mueti immer wütend, wenn ich mich über Unwohlsein beklagte? Bei Mutter musste ich nicht einmal sagen, wenn es mir nicht gut ging. Sie merkte es, ohne dass ich etwas sagte, und kochte Tee für mich. Ich war glücklich eine so liebe Mutter zu haben, auch wenn ich nicht sicher war, ob sie mich lieb hatte.
Das war schwierig zu merken. Sie sagte niemandem, ich hab dich lieb, und behandelte alle gleich. Jetzt ging es mir richtig gut, weil ich nie mehr frieren musste und nicht mehr so viel und so schnell arbeiten musste. Eigentlich müsste ich überhaupt nichts arbeiten, denn Mutter befahl mir nie etwas. Doch ich arbeitete gern und war stolz zu zeigen, dass ich gut arbeiten konnte. Aber hier gab es an den Werktagen weniger Arbeit als am Sonntag auf dem Hof. Für mich war jeder Tag ein Sonntag. Ich hatte nun viel Zeit für mich, und anstatt immer aufzupassen, was die andern machten, und mich darüber zu entsetzen, weil ich so vieles unanständig fand, las ich alte Schülerzeitschriften, die ich im Schrank gefunden hatte. Doch am liebsten war ich bei Mutter in der Küche, wenn sie kochte. Ich durfte Gemüse und Kartoffeln schneiden und Käse reiben und konnte genau beobachten, was sie machte. Eigentlich hätte ich gerne mal gekocht, aber ich getraute mich nicht zu fragen. Ich wusste nie so richtig, wie ich mich Mutter gegenüber verhalten sollte, weil ich Angst hatte, sie zu enttäuschen. Ich hätte ihr auch gerne vom Leben auf dem Hof erzählt, dass es mir schlecht ging. Aber ich war unsicher, ob sie mir glauben würde, weil sie immer nur gut über die Leute redete.
Ich wusste auch nicht, womit ich anfangen sollte zu erzählen. Sollte ich erzählen, Mueti habe mich oft unschuldig bestraft und verprügelt? Oder sollte ich doch eher das von Franz und Rolf erzählen? Von Mueti erzählen wäre einfacher gewesen, denn das war weniger schlimm. Die Prügel und die Strafen konnte ich vergessen. Aber das mit Rolf und Franz konnte ich nie vergessen, weil das so schlimm eklig und gemein war. Aber wie sollte ich das erzählen? Sollte ich sagen, Rolf und Franz hätten zeitweise jeden Tag ihren Bimmel zwischen meine Beine gesteckt? Das war ja so eklig, dass ich das nicht sagen konnte. Und was würde Mutter von mir denken, wenn sie wüsste, dass ich so etwas Ekelhaftes mit Franz und Rolf machte? Sie wäre sicher schlimm von mir enttäuscht und würde es Vater erzählen, und er wäre auch enttäuscht. Ich müsste mich schämen und getraute meinen Eltern nie mehr in die Augen zu schauen. Wenn ich mich schämte, konnte ich niemanden anschauen, nicht einmal Hannelore und schaute einfach an den Leuten vorbei. Aber ich wollte nicht zeitlebens an meinen Eltern vorbeischauen müssen, weil ich mich schämte!
Nein, nein, das durfte ich nicht erzählen! Jetzt war ich vom Hof weg, und Rolf und Franz konnten mir nichts mehr machen. Also machte es keinen Sinn mehr, darüber zu reden! Mutter sagte, wenn die Gemeindeherren nicht einverstanden wären, dass ich nun zu Hause sei, hätten sie sich gemeldet, bevor die Schule begann. Wenn ich neu eingeschult sei, gebe es keine Schwierigkeiten mehr. Das war eigentlich logisch!
Übermorgen wurde ich eingeschult, also brauchte ich jetzt keine Angst mehr zu haben, jemand komme mich wegschleppen.
Obwohl ich mich bei meiner Familie wohlfühlte, verglich ich mein Zuhause ständig mit dem Hof. Dauernd verglich ich meine Eltern mit den Menschen auf dem Hof und konnte immer weniger verstehen, warum Mueti so gemeine Lügen über meine Eltern erzählte. Früher sagte sie, mein Vater sei ein Lump und im Gefängnis, und als ich dann meine Eltern gefunden hatte, sagte sie, mein Vater verdiene zu wenig Geld, weil er faul sei und zu wenig arbeite. Deswegen könne er nicht für mich sorgen. Aber das stimmte nicht. Vater war sehr fleißig, doch er bekam eben nur wenig Geld für die Arbeit in der Fabrik. Edwin sagte, wer auf dem Büro arbeite, bekäme doppelt so viel Lohn wie Vater. Das fand ich ungerecht! Warum bekamen Leute, die keine schwere Arbeit machten, so viel mehr Lohn? Edwin sagte, die hätten eben einen Beruf und Vater nicht.
Wer nicht Bauer war und keinen Beruf lernen konnte, hatte kein schönes Leben! Vater verrichtete in der Fabrik schwere Arbeiten und hatte es sehr streng. Er musste auch zwischen Weihnachten und Neujahr arbeiten, wo die auf dem Büro freihatten. Er stand nach vier Uhr am Morgen auf. Bevor er zur Arbeit ging, kam er leise in die Stube und legte Holz in den Ofen, dann begann das Feuer zu knistern, und ich war glücklich, weil ich noch lange nicht aufstehen musste. Vater arbeitete in der Hauptstadt, die viel weiter entfernt war als die Stadt am See. Er musste mit dem Fahrrad weit zum Bahnhof fahren, weil es in unserem Dorf keinen Bahnhof gab, und dann mit dem ersten Zug, der am Morgen ging, in die Stadt fahren und dann noch ein Stück zu Fuß gehen, und um sieben musste er mit der Arbeit beginnen. Als ich Mutter fragte, warum Vater nicht in der Stadt am See arbeite, die nur eine halbe Stunde weit weg war, sagte sie, er habe früher da gearbeitet, aber die Fabrik sei nun geschlossen und er habe in der Umgebung keine Arbeit gefunden. Sie sagte, viele hätten einen sehr weiten Arbeitsweg, weil es in der Region keine Arbeit gebe.
Mueti hatte immer gesagt, die Arbeiter hätten ein schönes Leben. Die müssten am Sonntag keinen Streich arbeiten und hätten am Abend punktgenau auf die Minute Feierabend. Aber Vater hatte es weniger schön als Franz und Rolf. Sie konnten aus dem Bett steigen und in den Stall an die Arbeit gehen, ohne das Haus zu verlassen. Nur Sepp ging zur Arbeit, doch er ging erst um acht Uhr am Morgen und musste meistens nur das kurze Stück zur Straße laufen, und da nahm ihn ein Arbeitskollege mit dem Jeep mit.
Vater konnte auch nicht während der Arbeit einfach herumsitzen und schwatzen, wie es ihm gerade passte, so wie das Franz und Rolf gemacht hatten. Er konnte auch nicht einfach von der Arbeit weglaufen, wenn ihm etwas nicht behagte, wie das Rolf oft gemacht hatte, oder einfach von der Arbeit weglaufen und stundenlang telefonieren, wie Mueti es machte. Er konnte auch nicht sagen, das machen wir morgen fertig, für heute ist es genug, wie das Franz und Rolf oft gesagt hatten. In der Fabrik musste Vater den ganzen Tag schwere Lasten herumschleppen. Ausruhen konnte er sich nur in den Zeiten, die vorgeschrieben waren. Auch wenn er zum Umfallen müde war, musste er einfach weiterarbeiten, wenn es nicht Pausenzeit war. Und es stimmte auch nicht, dass er am Abend punktgenau auf die Minute Feierabend hatte. Manchmal musste er länger arbeiten, wenn es wichtige Arbeiten waren, und kam erst nach dem Abendessen nach Hause. Er tat mir sehr leid, als er beim Schneesturm so früh hinausmusste und so weit mit dem Fahrrad fahren. Am Abend waren die Räder eingefroren, weil das Fahrrad beim Bahnhof während des ganzen Tages draußen stand. Er musste den weiten Weg, mehr als eine Stunde, vom Bahnhof laufen und auch noch das Fahrrad schleppen. Und er jammerte nie, wie das auf dem Hof alle machten. Erst jetzt, wo ich nicht mehr auf dem Hof lebte, merkte ich, wie viel da gejammert wurde. Man hätte dem Hof den Namen Jammerhof geben können anstatt Hinterhof! Mueti hatte ständig gejammert wegen des Geldes, sie habe zu wenig Geld und müsse jeden Franken zwei Mal umdrehen, bevor sie ihn ausgebe. Alles werde teurer, aber für die Milch und das Vieh bekämen sie nicht mehr Geld. Dabei war ihr Geldbeutel immer prallvoll, mit Geldscheinen und viel Münz. Wenn sie telefonierte und den Geldbeutel auf dem Küchentisch liegen ließ, nahm ich Münz heraus, und sie hatte es nie bemerkt. Wenn sie gerade nicht übers Geld jammerte, dann jammerte sie über mich, wie schwierig ich sei und dass ich sie noch ins Grab bringe. Sie telefonierte überall herum und jammerte wegen mir und erzählte alles Schlechte über mich. Dann jammerte sie wegen der Migräne, die sie wegen mir bekommen habe, weil ich sie ständig ärgern würde. Und wenn die Kopfschmerzen weg waren, jammerte sie über die viele Arbeit, die liegen geblieben sei, während sie krank gewesen sei. Dabei musste immer ich die Wohnung putzen und das Geschirr abwaschen. Auch die Eier musste ich jede Woche zum Versand bereit machen. Ich musste sie waschen und in die Kartons legen und dann mit Holzwolle in die Holzkiste verpacken und auf die Post bringen. Das war die schlimmste Arbeit, die ich auf dem Hof machen musste! Selten kamen alle Eier ganz beim Kunden an, und immer musste ich für die zerbrochenen Eier schuld sein. Mueti erzählte den Kunden, ich hätte die Eier nicht gut verpackt, und ich musste jedes kaputte Ei abverdienen mit Zusatzarbeiten, die ich am Sonntag machen musste.
Dann war ich einmal mit Fieber im Bett, und Mueti musste die Eier selber verpacken, und ein paar Eier kamen zerbrochen an. Sie gab dann der Post die Schuld.
Ich lauschte an der Wand, als sie mit dem Posthalter telefonierte und wegen der kaputten Eier schimpfte. Tagelang jammerte Mueti wegen der kaputten Eier und rechnete ständig, wie viel Geld sie verloren habe. Jedes Mal sagte sie, der Eierversand lohne sich nicht mehr, sie müsse damit aufhören, aber sie hatte nie damit aufgehört. Vielleicht hörte sie jetzt damit auf, weil sie nun die Eier selber verpacken musste!
Rolf jammerte ständig, weil ihm das Arbeiten auf dem Hof zuwider war und er, wie Sepp, auswärts arbeiten wollte, um eigenes Geld zu haben. Er schimpfte oft, er habe genug davon, für jedes Ding, das er brauche, bei Mueti betteln zu müssen, und es hatte deswegen viel Streit gegeben. Ich verstand nie, warum Rolf nicht auswärts arbeiten durfte. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn er tagsüber weg gewesen wäre. Ich hätte dann nicht mehr Angst haben müssen, er schmeiße mich in die Häckselmaschine, weil das Stroh tagsüber gehäckselt wurde und nie am Abend. Darum sagte ich zu Rolf, dass ich auf seiner Seite stehen würde und ich es gut fände, wenn er auswärts arbeiten ginge. Er solle doch heimlich eine Arbeit suchen und dann einfach arbeiten gehen. Sicher wäre Mueti dann einverstanden, wenn sie sehe, dass er viel Geld verdiene. Schließlich war Geld für sie das Wichtigste. Rolf sagte, ich kenne die Alte nicht! Würde er das machen, jage sie ihn vom Hof, und dann sei er für immer weg! Ich sagte, das sei doch egal, er könne doch anderswo leben. Doch Rolf schüttelte den Kopf, das hieß, er wollte nicht anderswo leben. Das verstand ich nicht. Er machte die Arbeiten auf dem Hof nicht gern, und doch wollte er nicht vom Hof weg. Auf dem Hof wäre es auch ohne Rolf gegangen, denn er arbeitete nicht halb so viel wie Franz. Er war der Fleißigste von allen, aber jammerte ständig, weil die ganze Verantwortung auf ihm laste, wie er immer sagte. Rolf knüpfte lieber Teppiche, als auf dem Feld und im Wald zu arbeiten. Die Teppiche waren echt schön, seidig glänzend mit farbigem Muster, und insgeheim hatte ich mir gewünscht, das Knüpfen auch zu lernen.
Manchmal, wenn ganz viel Arbeit war, ging Rolf einfach Teppiche knüpfen oder Handorgel spielen. Dann jammerte Franz bei Mueti, so könne das nicht weitergehen. Mueti sagte dann, sie werde ein ernstes Wort mit Rolf reden. Aber die ernsten Worte hatten nie etwas genützt. Rolf hatte immer gemacht, was er wollte, und wenn Mueti mit ihm schimpfte, machte er gar nichts mehr. Er sagte oft ganz schlimme Worte zu ihr, und sie jammerte dann, Rolf sei nicht mehr bei Sinnen. Als ich klein war, hatte ich Mitleid mit Mueti, und ich versuchte sie zu trösten, wenn sie manchmal wegen Rolf weinte. Als ich dann größer war, war es mir egal, wenn sie weinte.
Vielleicht weinte sie auch jetzt, weil ich weg war und sie die ganze Arbeit selber machen musste. Vielleicht bereute sie es nun, mich so schlecht behandelt zu haben.
Franz schimpfte nie so richtig. Mit ihm konnte niemand streiten, weil er nichts mehr sagte und meistens davonlief. Manchmal tat er auch so, als wisse er nicht, um was es gehe. Franz war ganz schlimm scheinheilig und konnte sich richtig dumm stellen.
Sepp schimpfte oft mit Rolf und einmal sagte er zu ihm, er sei fauler als ein Faultier. Dann schaute ich in der Schule im Lexikon nach, ob es ein Tier gab, das so hieß, und fand es. Es sah richtig herzig aus, mit den verschlafenen Augen, und ich fand es eine Beleidigung für das Faultier, mit Rolf verglichen zu werden. Oft mussten die Tiere herhalten für Schimpfwörter, dumme Kuh, blöder Schafskopf, Sauhund, fauler Hund, blödes Schwein, dummes Huhn, blöde Ziege … Das fand ich ungerecht, weil kein Tier so böse und gemein war, wie die meisten Erwachsenen!
Rolf war für mich nicht schlimm, weil er faul war, sondern weil er unheimlich war. Er erinnerte mich immer an einen Zauberer, bei dem man nie wusste, in was er einen gerade verwandeln würde. Hatte er gerade mal gute Laune, dann vielleicht in ein Huhn. Hatte er schlechte Laune, und das hatte er meistens, vielleicht in einen Mistkäfer! Nicht dass ich die Mistkäfer nicht schön fand, aber im Mist leben war nicht angenehm, und die Hühner fraßen sie auf. Man wusste bei Rolf nie, was als Nächstes passieren würde, und musste ständig auf der Hut vor ihm sein.
Bei Mueti war es klar; schon als ich sie zum ersten Mal sah, war sie für mich eine Hexe, und Hexen verhalten sich immer gleich. Sie sind immer böse, egal was man macht. Franz war mehr der Listige, so ähnlich wie das tapfere Schneiderlein. Den Vorteil immer auf seiner Seite, dem alle alles glaubten. Sepp hätte gut ins Schlaraffenland gepasst. Sich hinsetzen und bedienen lassen und alles vor die Nase gestellt bekommen. Solange Sepp von hinten und von vorne bedient wurde, war er zufrieden und guter Laune. War es nicht so, schrie er ständig nach mir oder nach Mueti, damit wir ihn bedienten.
Warum eigentlich half Sepp nie auf dem Hof? Nur während der Erntezeit blieb er einzelne Tage daheim und half bei der Ernte. Dafür mussten dann Franz und Rolf seinem Sohn helfen gehen, wenn auf dem Hof die Ernte fertig war. Am Sonntagmorgen las Sepp immer die Zeitung und trank Wein oder Kaffee mit Schnaps, rauchte oder kaute Tabak. Meistens machte er alles zusammen! Einmal als Sepp am Sonntagmorgen viele Schnäpse getrunken hatte, sah ich, wie er Mueti in die Brüste und in den Hintern kniff. Sie wurde wütend und gab ihm einen Hieb auf die Achsel. Aber einmal machte er das Gleiche, und Mueti merkte nicht, dass ich es sah, und sie lachte und griff Sepp zwischen die Beine. Sepp sagte zu ihr, sie sei ein Prachtweib. Danach gingen sie ins Schlafzimmer und kamen lange nicht mehr heraus. Was die da machten, das wusste ich!
Wenn Sepp am Abend von der Arbeit heimkam, mussten der Kaffee und der Schnaps auf dem Tisch bereitstehen. Wenn nicht alles bereitstand, jammerte Sepp, er habe einen strengen Tag gehabt, er gehe den ganzen Tag arbeiten, damit wir alles hätten, was wir brauchten, und dann komme er heim und nicht einmal der Kaffee stehe bereit. Dann jammerte Mueti, weil er immer jammere, und sagte, sie habe weiß Gott noch anderes zu tun. Er könne seinen Kaffee auch mal selber im Ofenloch holen, und wo der Schnaps stehe, wisse er auch. Dann jammerte Sepp, sie jammere immer über viel Arbeit und schaue nicht richtig zu ihm. Seine verstorbene Frau habe kein Mädchen gehabt und … Immer wenn er von seiner verstorbenen Frau etwas sagte, ging Mueti in die Stube und schlug die Türe zu.
Das war ja komisch, Mueti und Sepp jammerten sogar übers Jammern!
Ich durfte nie jammern. Mueti sagte, es gehöre sich nicht, dass Kinder jammern würden. Kinder hätten keinen Grund zum Jammern, schließlich werde für sie gut gesorgt. Sie müssten sich um nichts kümmern und hätten noch keine Sorgen. Doch im Erwachsenenleben müsse man selber für sich sorgen, und das sei nicht immer leicht. Wenn etwas schiefgehe, kümmere das niemand. Sie müsse selber schauen, wie sie damit zurechtkomme.
Je mehr ich über den Hof nachdachte, umso mehr war ich überzeugt, dass auf dem Hof niemand gerne gearbeitet hatte. Mueti kochte nicht gern, darum kochte sie nicht gut. Alles war versalzen und fettig, und einmal sagte Sepp beim Abendessen, die Suppe sei eine Sautränke, und ich musste lachen. Da zerrte mich Mueti an den Haaren vom Tisch, und es gab am nächsten Tag kein Essen für mich.

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