Das verbotene Geheimnis
Hanna Arndt
EUR 25,90
EUR 15,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 680
ISBN: 978-3-99048-930-7
Erscheinungsdatum: 29.11.2018
Hanna lebt als Pflegekind auf einem Schweizer Bauernhof. Sexueller Missbrauch und rohe Gewalt sind Alltag für sie. Angst, Lüge und Schuldgefühle prägen ihr Leben. Das Mädchen kennt nur noch einen Gedanken: weglaufen und die eigene Familie finden ...
Vorwort
Hanna ist mein zweiter Taufname. Den Nachnamen habe ich von einem lieben Verstorbenen angenommen. Das Anonymbleiben und die geänderten Namen aller Personen dienen dem Schutz der Nachkommen der Täter und der damals zuständigen Verantwortlichen sowie dem Schutz meiner Familie. Orte nenne ich keine, denn Missbrauch und Misshandlung an Kindern geschieht auf der ganzen Welt. Es ist mein innigster Wunsch, dass ihr aufmerksam und wachsam seid, und wenn ein Kind in eurem Umfeld in irgendeiner Weise unter Erwachsenen leidet, dann schaut bitte nicht weg. Zum Handeln braucht es Mut, zum Wegschauen nur Gleichgültigkeit.
Denjenigen, die sich in irgendeiner Weise an Kindern schuldig gemacht haben, möchte ich bewusst machen, was sie durch ihre Taten in einer Kinderseele angerichtet haben und wie schwierig das Leben dieser Kinder später sein kann. Möchte aber auch die, die zum Opfer wurden, dazu ermutigen, sich nicht von der Vergangenheit beherrschen zu lassen. Es darf nicht sein, dass unwürdige Menschen ihre Opfer zeitlebens dominieren und deren Fühlen und Handeln bestimmen.
An einen Täter
Du bist ein Täter, sei nicht auch noch ein Lügner!
Du hast das Kind sexuell missbraucht und hast seine Seele auf dem Gewissen.
Du bist eingedrungen in das tiefste, sensibelste Empfinden des Kindes.
Du hast die seelischen Wurzeln in ihm zerstört, die notwendig sind für eine gesunde Entwicklung und ein würdiges Leben.
Wie soll ein Baum mit zerstörter Wurzel wachsen können? Wie soll er stark werden, wenn das Wichtigste zerstört ist? Man kann ihn pflegen, ihm Nährstoffe geben, ihn mit Pfählen stützen, aber er kann nicht aus eigener Kraft den Stürmen des Lebens standhalten.
Wie hattest du das Kind manipuliert, damit es dein Geheimnis so lange nicht preisgab? Sich niemandem anzuvertrauen wagte. Machtest du daraus „unser kleines Geheimnis?“ Oder hattest du es bedroht? Was hattest du ihm angedroht, was passiere, wenn es reden würde? Wie hast du es unter Druck gesetzt und zum Schweigen gezwungen? Mit Drohen, mit Versprechungen, mit Geschenken? Hast du ihm das Gefühl gegeben, sein Wohlbefinden hänge von seinem Schweigen ab? Wenn es rede, gehe es ihm schlecht und es trüge allein die Schuld dafür? Hast du es für die Folgen verantwortlich gemacht, wenn es auskäme? Sagtest du ihm, dass dann alle von ihm enttäuscht wären, wenn es das Geheimnis verrate, weil man Geheimnisse niemals verraten dürfe? Schwieg das Kind aus Angst, nicht mehr geliebt zu werden?
Du hast das Überlegensein, als Erwachsener, schamlos und skrupellos ausgenutzt. Du hast seine Gefühle nicht nur getreten, sondern aufs Schändlichste manipuliert.
Du nahmst das Kind in deinen Besitz, für deine Lust, mitleidlos gezielt, geplant und berechnend. Hattest du dir vielleicht eingeredet, der Sexualtrieb wäre angeboren, also ganz natürlich und könne nicht schaden, erst recht nicht, wenn das Kind dich lieb habe? Vielleicht suchte das Kind bei dir Liebe und Geborgenheit, aber mit Sicherheit niemals Sex!
Wenn du dem Kind beigebracht hast, dass alles, was zwischen dir und ihm geschieht, ganz normal und rechtens sei, dann konntest du sein wehrloses Verhalten als Einverständnis interpretieren. Das war es aber nicht! Das Kind verstand nicht, was da vor sich ging. Es konnte dein Handeln emotional nicht einordnen und sich dem nicht entgegensetzen. Wenn du behauptest, das Kind wäre einverstanden gewesen, ist das dein Anspruch, es habe deine Schweinerei als angenehm empfunden.
Vielleicht bist du so skrupellos und behauptest sogar, das Kind habe es gewollt, es habe dich verführt, und du machst das Opfer zum Täter und dich zum Opfer. Du verdrehst eine Tatsache zu deinen Gunsten, legst dir alles so zurecht, als treffe dich keine Schuld, und entziehst dich jeglicher Verantwortung. Du verschiebst moralische Grenzen und Werte.
Irgendwann streichst du die Taten aus deinem Leben, aus deiner Erinnerung. Du lebst so, als wäre nie etwas geschehen. Für dich ist das Vergangenheit, über die du nicht mehr nachdenken willst. Du willst nach vorne schauen, in deine Zukunft.
Willst schließlich eine gute Zukunft haben. Das ist für dich möglich, aber nicht für dein Opfer. Es hat keine gute Zukunft, weil es unter den Folgen deiner Selbstsucht bis an sein Lebensende leidet. Du hast sein ganzes Leben mit Problemen vorbestimmt und belastet. Was für dich Genuss war, bedeutet für das Opfer Leid fürs ganze Leben.
Bist du verurteilt worden, trauerst du um den Verlust deiner Ehre, aber du trauerst nicht um das Kind, dessen Leben du zerstört hast. Der Verlust deiner Ehre quält dich mehr als etwa Schuldgefühle gegenüber dem Kind. Hast du die Strafe im Gefängnis abgesessen, kannst du mit Starthilfe ein neues Leben beginnen. Der Datenschutz steht dir bei, beschützt dich! Du konntest eine Therapie genießen und bekamst die volle Aufmerksamkeit. Auch Täter haben Rechte! In der Regel mehr als ihre Opfer.
Du baust dir eine neue Zukunft auf. Wie es dem Opfer geht, wie es sich fühlt, wie es zurechtkommt, interessiert dich nicht. Aus deiner Sicht ist eine Entschuldigung nicht notwendig. Schließlich hast du die Strafe verbüßt, somit gibt es für dich keine Schuld mehr. Jahre später wirst du vielleicht nicht mal mehr wissen, wie das Kind ausgesehen hat, dessen Leben du zerstört hast. Im Gegensatz zum Opfer, das dich in seiner Seele eingebrannt hat, lebenslänglich. Deine Strafe war nur eine kurze Lebenszeit. Die Strafe für das Opfer ist „lebenslänglich“, mit dem Unterschied, du bist schuldig, das Kind ist unschuldig. Es büßt sein Leben lang für etwas, das nicht seine Schuld ist, für etwas, wozu es gezwungen wurde, für etwas, das es nie wollte. Es büßt dafür, dass ein verantwortungsloser Erwachsener seine perversen sexuellen Gelüste an ihm befriedigte. Diese Szenen deiner Lust wiederholen sich in seinen Gefühlen immer und immer wieder. Es versucht mit viel psychischer Energie zu vergessen und sein zerstörtes Selbstwertgefühl aufzubauen. Sein ganzes Leben ist damit ausgefüllt, sein seelisches Gleichgewicht einigermaßen stabil zu halten. Gelingt ihm das, ist dies sein Lebenswerk und verdient große Anerkennung. Doch die wird es kaum erhalten, weil niemand seine Leistung erahnen kann. Es wird, wie alle andern, an beruflichen und finanziellen Erfolgen gemessen. Aber gerade diese Erfolge bleiben oft aus, wenn es nicht genügend Unterstützung erhält. Einen großen Teil seiner Energie benötigt es, um einigermaßen psychisch stabil zu bleiben. Somit fehlt die Energie, um sich optimal zu entfalten, und manche Fähigkeiten und Talente können nicht genutzt werden und gehen verloren.
Noch schlimmer ergeht es deinem Opfer, wenn du die Tat abgestritten hast. Wenn du mit beharrlichem Lügen versucht hast, deine Ehre zu retten. Schließlich bist du ein ehrenwerter Bürger, der einen gewissen Status vorweisen kann und viel zu verlieren hat. Dein Opfer ist sozial schwächer und weniger glaubwürdig und hat, wie du glaubst, nichts zu verlieren. Du aber kannst dir einen Prestigeverlust nicht leisten, denn das würde auch heißen Einkommensverlust. Du unternimmst alles, um als Unschuldiger zu gewinnen. Die Gerechtigkeit ist für dich Nebensache, es geht dir darum, dein Ansehen nicht zu verlieren. Welcher Anwalt, welcher Richter könnte sich nicht vorstellen, dass es die Fantasie des Kindes ist, das ohnehin schon schwierig war, weil aus schwierigen Verhältnissen. Man glaubt doch eher einem ehrenwerten Mann als einem schwierigen Kind! Du hast auch den besten Anwalt, oder gar zwei. Keine Kosten reuen dich, um deine Scheinheiligkeit zu retten und zu wahren. Du weißt ganz genau, wie schwierig es ist, dir etwas nachzuweisen. Im Zweifel für den Angeklagten! Du hattest ja alles im Verborgenen gemacht, und es gibt keine Zeugen. Auf deine Familie kannst du zählen. Sie stehen zu dir, und du weißt auch warum. Sie wollen wie du sich vor dieser Schande bewahren. Wer möchte denn einen Ehemann, einen Sohn, einen Bruder, einen Onkel haben, der ein Kinderschänder ist? Wohl niemand, und darauf kannst du bauen.
Indem du alles abstreitest, machst du dein Opfer ein weiteres Mal zum Opfer.
Du machst es zum gemeinen Lügner, und alle, die an deine Unschuld glauben, sind nun auch noch seine Feinde. Kannst du dir vorstellen, wie elend es sich fühlen muss?
Dir scheint das egal zu sein, du musst ihm nicht in die Augen schauen, wenn du nicht willst. Kannst du überhaupt noch jemandem in die Augen schauen? Wie kann man mit dieser Schuld und dieser Lüge noch Selbstachtung haben?
Wenn du genug gelogen hast und es zu einem Freispruch kam, werden deine Unterstützer im Innersten doch Zweifel haben. Die Frage: „Hat das Kind vielleicht doch nicht gelogen?“, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn du glaubst, man vertraue dir nach wie vor bedingungslos, ist das bestimmt ein Irrtum. Das Misstrauen bleibt, wenn auch verborgen. Die Frage: „Hat er es vielleicht doch getan?“, wird gefühlt, vielleicht auch gedacht, aber nicht ausgesprochen, weil dankbar, dass die Ehre gerettet ist.
Hast du aber den sexuellen Missbrauch ohne Lügen, ohne Ausreden gestanden, stärkst du die Würde des Opfers. Und wenn du dich entschuldigst, erleichterst du ihm das Verarbeiten. Das ist das Allermindeste, was du für dein Opfer tun kannst.
Das ist keine Handlung des guten Willens, es ist deine Pflicht!
Bist du zu feige, deinem Opfer in die Augen zu schauen, dann schreibe ihm einen Brief. Unterlasse nichts, was du tun kannst, um das schwierige Leben deines Opfers ein wenig zu erleichtern. Auch dir geht es besser, wenn du zu deinen Taten stehst, sie ehrlich bereust und versuchst so viel wie möglich gutzumachen.
Und das Wichtigste: Mache dich nie, nie mehr an einem Kind schuldig!
Auch wenn du vielleicht selber mal Opfer warst, hast du nicht das Recht, andere zum Opfer zu machen. Auch wenn du dich als Kranker fühlst, sogenannter Pädophiler, ist es deine Pflicht und oberstes Gebot, dich von Kindern fernzuhalten.
Mit der Einstellung, ich bin krank, ich kann nichts dafür, gibst du dir selber die Erlaubnis, Kinder zu missbrauchen. Aber die Kinder sind nicht verantwortlich für deine Krankheit. Du kannst nicht Kinder leiden lassen zugunsten deiner Krankheit. Jeder muss die Verantwortung für seine Krankheit übernehmen, egal wie sie benannt wird. Die Diagnose pädophil gibt dir nicht das Recht, diese auszuleben und so zum Verbrecher an Kindern zu werden. Es ist deine Pflicht, alles zu tun, dich nicht oder nie mehr an Kindern schuldig zu machen. Auch nicht mit Beschaffen von Fotos und Videos. Denn hinter jedem Bild ist ein geschändetes und gequältes Kind, und dafür bist du mitverantwortlich, wenn du welche konsumierst.
Zeige in deiner Schwäche Stärke, und beweise, dass du Kinder wirklich liebst, indem du niemals, oder niemals mehr, einem Kind ein Leid zufügst!
Spazierfahrt
Es war sonnig und angenehm warm. Ich hatte die Schuhe und die Kniesocken ausgezogen und fühlte mich richtig wohl. Im Gartenbeet fand ich einen langen, dicken Wurm. Als ich ihn in die Hände nahm, ringelte er sich zusammen, und ich wusste, dass er schlafen wollte. Die Erde war feucht und leicht zum Graben. Ich machte einen großen Erdhügel und legte den Wurm hinein. Das war nun sein Haus.
Auf der Wiese pflückte ich kleine Blümchen und machte rund um das Erdhaus einen Blumengarten. Damit der Wurm aus seinem Haus in den Garten schauen konnte, brauchte er ein Fenster. Das wollte ich mit Steinen machen.
Während ich besonders schöne Steine suchte, kam eine fremde Frau auf dem Fahrrad den Gartenweg heruntergefahren und stieg vor der Treppe ab. Sie stellte das Fahrrad an den Gartenhag, sah mich kurz an und schüttelte den Kopf, aber sie sagte kein Wort. Dann ging sie an Edwin und Fridolin vorbei, die Treppe hinauf in Großmutters Wohnung.
Zu Großmutter ging es die kurze Treppe hinauf und zu den Eltern die lange. Außer Edwin, Fridolin und Großmutter war niemand zu Hause. Mutter war auf einmal verschwunden. Ich wusste nicht, warum sie weg war und wo sie war. Großmutter sagte, sie komme wieder, wenn der liebe Gott es wolle. Der Kleine, dem ich beim Treppensteigen half, war auch weg. Großmutter sagte, ich müsse gut auf ihn aufpassen, damit er nicht hinunterfalle. Ich vermisste den Kleinen, weil ich nicht mehr auf ihn aufpassen konnte. Auch das Bébé und der Stubenwagen waren weg. Manchmal war ich traurig, weil ich nicht mehr mit Chrabeli reden konnte. Wenn es weinte, stieg ich auf den Stuhl neben dem Stubenwagen und streichelte seine kleinen Hände und sein Gesicht und die Haare. Es war ganz fein und weich. Wenn ich mit ihm redete und es berührte, weinte es nicht mehr. Es redete dann auch mit mir, aber ich verstand nicht, was es sagte. Wenn es lachte, musste ich auch lachen.
Einmal, als Mutter in der Küche war und ich auf dem Stuhl stand, kippte dieser um. Ich hielt mich am Stubenwagen fest, aber der kippte auch. Ich schrie! Mutter kam hereingerannt und konnte Chrabeli gerade noch festhalten, bevor es auf den Boden fiel. Ich lag auf dem Boden, neben dem Stubenwagen und weinte, weil ich so erschrocken war. Auch Chrabeli war erschrocken und weinte. Mutter sprach ganz leise mit ihm und wiegte es in ihren Armen. Sie stellte den Stubenwagen auf und legte die Kissen hinein. Dann hob sie den Stuhl auf und stellte ihn weg. Sie holte einen andern Stuhl und stellte ihn neben den Stubenwagen. Ich getraute lange nicht mehr daraufzusteigen. Aber als Chrabeli ganz laut weinte, stieg ich doch wieder auf den Stuhl.
Seit Mutter weg war, war alles ganz anders. Manchmal aßen wir alle unten bei Großmutter, dann wieder oben beim Vater. Ich durfte bei Großmutter im Bett schlafen. Wenn sie ins Bett kam, rutschte ich ganz nahe zu ihr, und ich hatte schön warm. Großmutter redete immer mit mir. Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber ich hörte ihr gerne zu. Mutter redete nicht mit mir. Dauernd trug sie Waschzuber und Körbe mit Wäsche herum. Wenn sie fertig war mit Herumtragen, ging sie in den Garten hacken. Dann war sie wieder in der Küche und hatte Chrabeli auf dem Arm, während sie in der Pfanne rührte. Oft sagte sie zu Edwin und Fridolin, sie sollten nicht immer stören, sie habe viel Arbeit. Weil ich nicht stören wollte, sagte ich nichts. Ich lief ihr hinterher und schaute ihr zu. Wenn es mir langweilig wurde, ging ich wieder zu Großmutter. Eigentlich konnte ich mit Mutter nur während des Essens reden. Aber dann redeten alle durcheinander, und die Großen waren so laut, dass Mutter mich nicht hörte.
Lena war die Größte von allen. Sie erzählte uns manchmal eine Geschichte. Was sie erzählte, verstand ich meistens nicht, aber ich schaute immer auf ihr Gesicht. Das verwandelte sich ständig, und wenn sie lachte, musste ich auch lachen, obwohl ich nicht wusste, warum sie lachte. Und am Schluss von der Geschichte sagte Lena: „Und genau so ist es passiert!“ Aber was passiert war, wusste ich nicht. Trotzdem fand ich die Geschichte schön.
Wenn Edwin und Fridolin um den Stubentisch herumrannten, mussten sie hinaus. Lena sagte, sie könne nicht schreiben, der Tisch wackle. Damit ich Lena zuschauen durfte, wenn sie schrieb, war ich ganz still.
Da waren noch Herbert, Doreen und Othmar. Sie waren größer als Fridolin und Edwin. Auch sie mussten schreiben. Aber sie mochten es nicht, wenn ich zuschaute. Othmar trug eine ganz dicke Brille. Er spielte nie mit Edwin und Fridolin. Meistens saß er irgendwo ganz allein und hatte ein Buch vor seinem Gesicht. Dann hörte er nicht, wenn Mutter zum Essen rief. Ich wusste, wo er sich am liebsten versteckte, und holte ihn.
Seit Mutter weg war, trugen nun Lena und Doreen die Waschkörbe herum. Herbert und Othmar hakten im Garten. Lena erzählte uns keine Geschichten mehr. Großmutter sagte, sie müsse Vater helfen, Mutters Arbeit machen und auch noch für die Schule lernen. Sie hätte nun eben keine Zeit mehr, um Geschichten zu erzählen.
Ich ging mit den gesammelten Steinen zum Wurmhaus zurück. Edwin und Fridolin standen beim Fahrrad der fremden Frau. Während ich das Wurmhaus betrachtete und überlegte, wie das Fenster machen, hörte ich Großmutter schimpfen. Ich hatte sie noch nie so laut schimpfen gehört. Dann redete die fremde Frau sehr laut und wieder hörte ich Großmutter. Irgendwie veränderte sich ihre Stimme, und dann weinte sie laut. Ich hatte Großmutter noch nie weinen gehört. Edwin und Fridolin saßen nun ganz still auf der Treppe, unter dem offenen Stubenfenster und hörten, was gesprochen wurde. Ich ließ die Steine liegen und ging an ihnen vorbei, die Treppe hoch. Aber ich konnte die Türe nicht aufmachen. Ich riegelte an der Türfalle. Dann hängte ich mich an die Türfalle. Die Türe ging sonst immer ganz leicht auf.
Plötzlich ging die Türe auf, und die Frau kam heraus. Schnell wollte ich an ihr vorbei, zu Großmutter. Aber sie hielt mich am Arm fest und sagte: „Du kommst mit mir. Wir machen eine Spazierfahrt!“ Sie zog mich die Treppe hinunter. Ich hörte Großmutter immer noch weinen, aber nicht mehr so laut. Hinter der Gartenmauer hatte ich meine Puppe Leni versteckt. Fridolin drehte ihr immer den Kopf, die Arme und die Beine so herum, dass vorne nicht mehr vorne war und hinten nicht mehr hinten, und ich brauchte lange, bis alles wieder richtig war. Darum versteckte ich die Puppe, wenn Fridolin in der Nähe war. Unten an der Treppe riss ich mich von der Frau los, um Leni zu holen. Ich wollte sie mitnehmen zum Spazierenfahren. Aber die Frau packte mich schnell und setzte mich aufs Fahrrad. Sie erklärte, wie ich die Füße halten musste, damit sie nicht in die Speichen gerieten, und wo ich mich mit den Händen festhalten konnte. Dann stieg sie auf und fuhr den Gartenweg entlang auf die Straße. Wir waren schon ein Stück vom Haus entfernt, da hörte ich Edwin schreien: „Hexe, Hexe … böse Hexe!“ Seine Stimme klang so, wie wenn er wütend war und dann gleich zu weinen begann. Ich verstand nicht, was da passierte. Warum weinte Großmutter? Warum schrie Edwin „Hexe“? Warum wollte die fremde Frau mit mir spazieren fahren?
Ich war noch nie auf einem Fahrrad und fand es schön. Während ich die Häuser und Bäume im Vorbeifahren betrachtete, überlegte ich, warum nicht Großmutter mit mir spazieren fuhr. Sie hätte doch Vaters Fahrrad nehmen können! Das nächste Mal wollte ich mit Großmutter spazieren fahren und nicht mit der fremden Frau.
Nach einer langen Fahrt hielt sie an, und wir gingen in ein großes Haus mit vielen Treppenstufen. Die gingen rundum, und als ich von oben hinunterschaute, sah die Treppe aus wie ein riesiger Ringelwurm. Die Frau zog mich an der Hand in die Wohnung und schloss die Türe zu. Ich stand auf einem weichen Teppich und sah in die Stube. Hier war alles ganz anders als bei Großmutter. Sie hatte nur vor dem Bett einen kleinen Teppich. Der war aber nicht so weich. Hier hatte es überall Teppiche, und an den Fenstern hingen dicke und dünne Vorhänge. Bei Großmutter hingen nur dünne Vorhänge. In der Stube standen sehr große Stühle, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Auf einem glänzenden Möbel standen viele Sachen, und über dem Möbel hingen Bilder, von Frauen und Kindern. An der andern Wand hingen prächtige Blumenbilder. Ich wünschte, dass Großmutter das alles sehen könnte.
Hanna ist mein zweiter Taufname. Den Nachnamen habe ich von einem lieben Verstorbenen angenommen. Das Anonymbleiben und die geänderten Namen aller Personen dienen dem Schutz der Nachkommen der Täter und der damals zuständigen Verantwortlichen sowie dem Schutz meiner Familie. Orte nenne ich keine, denn Missbrauch und Misshandlung an Kindern geschieht auf der ganzen Welt. Es ist mein innigster Wunsch, dass ihr aufmerksam und wachsam seid, und wenn ein Kind in eurem Umfeld in irgendeiner Weise unter Erwachsenen leidet, dann schaut bitte nicht weg. Zum Handeln braucht es Mut, zum Wegschauen nur Gleichgültigkeit.
Denjenigen, die sich in irgendeiner Weise an Kindern schuldig gemacht haben, möchte ich bewusst machen, was sie durch ihre Taten in einer Kinderseele angerichtet haben und wie schwierig das Leben dieser Kinder später sein kann. Möchte aber auch die, die zum Opfer wurden, dazu ermutigen, sich nicht von der Vergangenheit beherrschen zu lassen. Es darf nicht sein, dass unwürdige Menschen ihre Opfer zeitlebens dominieren und deren Fühlen und Handeln bestimmen.
An einen Täter
Du bist ein Täter, sei nicht auch noch ein Lügner!
Du hast das Kind sexuell missbraucht und hast seine Seele auf dem Gewissen.
Du bist eingedrungen in das tiefste, sensibelste Empfinden des Kindes.
Du hast die seelischen Wurzeln in ihm zerstört, die notwendig sind für eine gesunde Entwicklung und ein würdiges Leben.
Wie soll ein Baum mit zerstörter Wurzel wachsen können? Wie soll er stark werden, wenn das Wichtigste zerstört ist? Man kann ihn pflegen, ihm Nährstoffe geben, ihn mit Pfählen stützen, aber er kann nicht aus eigener Kraft den Stürmen des Lebens standhalten.
Wie hattest du das Kind manipuliert, damit es dein Geheimnis so lange nicht preisgab? Sich niemandem anzuvertrauen wagte. Machtest du daraus „unser kleines Geheimnis?“ Oder hattest du es bedroht? Was hattest du ihm angedroht, was passiere, wenn es reden würde? Wie hast du es unter Druck gesetzt und zum Schweigen gezwungen? Mit Drohen, mit Versprechungen, mit Geschenken? Hast du ihm das Gefühl gegeben, sein Wohlbefinden hänge von seinem Schweigen ab? Wenn es rede, gehe es ihm schlecht und es trüge allein die Schuld dafür? Hast du es für die Folgen verantwortlich gemacht, wenn es auskäme? Sagtest du ihm, dass dann alle von ihm enttäuscht wären, wenn es das Geheimnis verrate, weil man Geheimnisse niemals verraten dürfe? Schwieg das Kind aus Angst, nicht mehr geliebt zu werden?
Du hast das Überlegensein, als Erwachsener, schamlos und skrupellos ausgenutzt. Du hast seine Gefühle nicht nur getreten, sondern aufs Schändlichste manipuliert.
Du nahmst das Kind in deinen Besitz, für deine Lust, mitleidlos gezielt, geplant und berechnend. Hattest du dir vielleicht eingeredet, der Sexualtrieb wäre angeboren, also ganz natürlich und könne nicht schaden, erst recht nicht, wenn das Kind dich lieb habe? Vielleicht suchte das Kind bei dir Liebe und Geborgenheit, aber mit Sicherheit niemals Sex!
Wenn du dem Kind beigebracht hast, dass alles, was zwischen dir und ihm geschieht, ganz normal und rechtens sei, dann konntest du sein wehrloses Verhalten als Einverständnis interpretieren. Das war es aber nicht! Das Kind verstand nicht, was da vor sich ging. Es konnte dein Handeln emotional nicht einordnen und sich dem nicht entgegensetzen. Wenn du behauptest, das Kind wäre einverstanden gewesen, ist das dein Anspruch, es habe deine Schweinerei als angenehm empfunden.
Vielleicht bist du so skrupellos und behauptest sogar, das Kind habe es gewollt, es habe dich verführt, und du machst das Opfer zum Täter und dich zum Opfer. Du verdrehst eine Tatsache zu deinen Gunsten, legst dir alles so zurecht, als treffe dich keine Schuld, und entziehst dich jeglicher Verantwortung. Du verschiebst moralische Grenzen und Werte.
Irgendwann streichst du die Taten aus deinem Leben, aus deiner Erinnerung. Du lebst so, als wäre nie etwas geschehen. Für dich ist das Vergangenheit, über die du nicht mehr nachdenken willst. Du willst nach vorne schauen, in deine Zukunft.
Willst schließlich eine gute Zukunft haben. Das ist für dich möglich, aber nicht für dein Opfer. Es hat keine gute Zukunft, weil es unter den Folgen deiner Selbstsucht bis an sein Lebensende leidet. Du hast sein ganzes Leben mit Problemen vorbestimmt und belastet. Was für dich Genuss war, bedeutet für das Opfer Leid fürs ganze Leben.
Bist du verurteilt worden, trauerst du um den Verlust deiner Ehre, aber du trauerst nicht um das Kind, dessen Leben du zerstört hast. Der Verlust deiner Ehre quält dich mehr als etwa Schuldgefühle gegenüber dem Kind. Hast du die Strafe im Gefängnis abgesessen, kannst du mit Starthilfe ein neues Leben beginnen. Der Datenschutz steht dir bei, beschützt dich! Du konntest eine Therapie genießen und bekamst die volle Aufmerksamkeit. Auch Täter haben Rechte! In der Regel mehr als ihre Opfer.
Du baust dir eine neue Zukunft auf. Wie es dem Opfer geht, wie es sich fühlt, wie es zurechtkommt, interessiert dich nicht. Aus deiner Sicht ist eine Entschuldigung nicht notwendig. Schließlich hast du die Strafe verbüßt, somit gibt es für dich keine Schuld mehr. Jahre später wirst du vielleicht nicht mal mehr wissen, wie das Kind ausgesehen hat, dessen Leben du zerstört hast. Im Gegensatz zum Opfer, das dich in seiner Seele eingebrannt hat, lebenslänglich. Deine Strafe war nur eine kurze Lebenszeit. Die Strafe für das Opfer ist „lebenslänglich“, mit dem Unterschied, du bist schuldig, das Kind ist unschuldig. Es büßt sein Leben lang für etwas, das nicht seine Schuld ist, für etwas, wozu es gezwungen wurde, für etwas, das es nie wollte. Es büßt dafür, dass ein verantwortungsloser Erwachsener seine perversen sexuellen Gelüste an ihm befriedigte. Diese Szenen deiner Lust wiederholen sich in seinen Gefühlen immer und immer wieder. Es versucht mit viel psychischer Energie zu vergessen und sein zerstörtes Selbstwertgefühl aufzubauen. Sein ganzes Leben ist damit ausgefüllt, sein seelisches Gleichgewicht einigermaßen stabil zu halten. Gelingt ihm das, ist dies sein Lebenswerk und verdient große Anerkennung. Doch die wird es kaum erhalten, weil niemand seine Leistung erahnen kann. Es wird, wie alle andern, an beruflichen und finanziellen Erfolgen gemessen. Aber gerade diese Erfolge bleiben oft aus, wenn es nicht genügend Unterstützung erhält. Einen großen Teil seiner Energie benötigt es, um einigermaßen psychisch stabil zu bleiben. Somit fehlt die Energie, um sich optimal zu entfalten, und manche Fähigkeiten und Talente können nicht genutzt werden und gehen verloren.
Noch schlimmer ergeht es deinem Opfer, wenn du die Tat abgestritten hast. Wenn du mit beharrlichem Lügen versucht hast, deine Ehre zu retten. Schließlich bist du ein ehrenwerter Bürger, der einen gewissen Status vorweisen kann und viel zu verlieren hat. Dein Opfer ist sozial schwächer und weniger glaubwürdig und hat, wie du glaubst, nichts zu verlieren. Du aber kannst dir einen Prestigeverlust nicht leisten, denn das würde auch heißen Einkommensverlust. Du unternimmst alles, um als Unschuldiger zu gewinnen. Die Gerechtigkeit ist für dich Nebensache, es geht dir darum, dein Ansehen nicht zu verlieren. Welcher Anwalt, welcher Richter könnte sich nicht vorstellen, dass es die Fantasie des Kindes ist, das ohnehin schon schwierig war, weil aus schwierigen Verhältnissen. Man glaubt doch eher einem ehrenwerten Mann als einem schwierigen Kind! Du hast auch den besten Anwalt, oder gar zwei. Keine Kosten reuen dich, um deine Scheinheiligkeit zu retten und zu wahren. Du weißt ganz genau, wie schwierig es ist, dir etwas nachzuweisen. Im Zweifel für den Angeklagten! Du hattest ja alles im Verborgenen gemacht, und es gibt keine Zeugen. Auf deine Familie kannst du zählen. Sie stehen zu dir, und du weißt auch warum. Sie wollen wie du sich vor dieser Schande bewahren. Wer möchte denn einen Ehemann, einen Sohn, einen Bruder, einen Onkel haben, der ein Kinderschänder ist? Wohl niemand, und darauf kannst du bauen.
Indem du alles abstreitest, machst du dein Opfer ein weiteres Mal zum Opfer.
Du machst es zum gemeinen Lügner, und alle, die an deine Unschuld glauben, sind nun auch noch seine Feinde. Kannst du dir vorstellen, wie elend es sich fühlen muss?
Dir scheint das egal zu sein, du musst ihm nicht in die Augen schauen, wenn du nicht willst. Kannst du überhaupt noch jemandem in die Augen schauen? Wie kann man mit dieser Schuld und dieser Lüge noch Selbstachtung haben?
Wenn du genug gelogen hast und es zu einem Freispruch kam, werden deine Unterstützer im Innersten doch Zweifel haben. Die Frage: „Hat das Kind vielleicht doch nicht gelogen?“, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn du glaubst, man vertraue dir nach wie vor bedingungslos, ist das bestimmt ein Irrtum. Das Misstrauen bleibt, wenn auch verborgen. Die Frage: „Hat er es vielleicht doch getan?“, wird gefühlt, vielleicht auch gedacht, aber nicht ausgesprochen, weil dankbar, dass die Ehre gerettet ist.
Hast du aber den sexuellen Missbrauch ohne Lügen, ohne Ausreden gestanden, stärkst du die Würde des Opfers. Und wenn du dich entschuldigst, erleichterst du ihm das Verarbeiten. Das ist das Allermindeste, was du für dein Opfer tun kannst.
Das ist keine Handlung des guten Willens, es ist deine Pflicht!
Bist du zu feige, deinem Opfer in die Augen zu schauen, dann schreibe ihm einen Brief. Unterlasse nichts, was du tun kannst, um das schwierige Leben deines Opfers ein wenig zu erleichtern. Auch dir geht es besser, wenn du zu deinen Taten stehst, sie ehrlich bereust und versuchst so viel wie möglich gutzumachen.
Und das Wichtigste: Mache dich nie, nie mehr an einem Kind schuldig!
Auch wenn du vielleicht selber mal Opfer warst, hast du nicht das Recht, andere zum Opfer zu machen. Auch wenn du dich als Kranker fühlst, sogenannter Pädophiler, ist es deine Pflicht und oberstes Gebot, dich von Kindern fernzuhalten.
Mit der Einstellung, ich bin krank, ich kann nichts dafür, gibst du dir selber die Erlaubnis, Kinder zu missbrauchen. Aber die Kinder sind nicht verantwortlich für deine Krankheit. Du kannst nicht Kinder leiden lassen zugunsten deiner Krankheit. Jeder muss die Verantwortung für seine Krankheit übernehmen, egal wie sie benannt wird. Die Diagnose pädophil gibt dir nicht das Recht, diese auszuleben und so zum Verbrecher an Kindern zu werden. Es ist deine Pflicht, alles zu tun, dich nicht oder nie mehr an Kindern schuldig zu machen. Auch nicht mit Beschaffen von Fotos und Videos. Denn hinter jedem Bild ist ein geschändetes und gequältes Kind, und dafür bist du mitverantwortlich, wenn du welche konsumierst.
Zeige in deiner Schwäche Stärke, und beweise, dass du Kinder wirklich liebst, indem du niemals, oder niemals mehr, einem Kind ein Leid zufügst!
Spazierfahrt
Es war sonnig und angenehm warm. Ich hatte die Schuhe und die Kniesocken ausgezogen und fühlte mich richtig wohl. Im Gartenbeet fand ich einen langen, dicken Wurm. Als ich ihn in die Hände nahm, ringelte er sich zusammen, und ich wusste, dass er schlafen wollte. Die Erde war feucht und leicht zum Graben. Ich machte einen großen Erdhügel und legte den Wurm hinein. Das war nun sein Haus.
Auf der Wiese pflückte ich kleine Blümchen und machte rund um das Erdhaus einen Blumengarten. Damit der Wurm aus seinem Haus in den Garten schauen konnte, brauchte er ein Fenster. Das wollte ich mit Steinen machen.
Während ich besonders schöne Steine suchte, kam eine fremde Frau auf dem Fahrrad den Gartenweg heruntergefahren und stieg vor der Treppe ab. Sie stellte das Fahrrad an den Gartenhag, sah mich kurz an und schüttelte den Kopf, aber sie sagte kein Wort. Dann ging sie an Edwin und Fridolin vorbei, die Treppe hinauf in Großmutters Wohnung.
Zu Großmutter ging es die kurze Treppe hinauf und zu den Eltern die lange. Außer Edwin, Fridolin und Großmutter war niemand zu Hause. Mutter war auf einmal verschwunden. Ich wusste nicht, warum sie weg war und wo sie war. Großmutter sagte, sie komme wieder, wenn der liebe Gott es wolle. Der Kleine, dem ich beim Treppensteigen half, war auch weg. Großmutter sagte, ich müsse gut auf ihn aufpassen, damit er nicht hinunterfalle. Ich vermisste den Kleinen, weil ich nicht mehr auf ihn aufpassen konnte. Auch das Bébé und der Stubenwagen waren weg. Manchmal war ich traurig, weil ich nicht mehr mit Chrabeli reden konnte. Wenn es weinte, stieg ich auf den Stuhl neben dem Stubenwagen und streichelte seine kleinen Hände und sein Gesicht und die Haare. Es war ganz fein und weich. Wenn ich mit ihm redete und es berührte, weinte es nicht mehr. Es redete dann auch mit mir, aber ich verstand nicht, was es sagte. Wenn es lachte, musste ich auch lachen.
Einmal, als Mutter in der Küche war und ich auf dem Stuhl stand, kippte dieser um. Ich hielt mich am Stubenwagen fest, aber der kippte auch. Ich schrie! Mutter kam hereingerannt und konnte Chrabeli gerade noch festhalten, bevor es auf den Boden fiel. Ich lag auf dem Boden, neben dem Stubenwagen und weinte, weil ich so erschrocken war. Auch Chrabeli war erschrocken und weinte. Mutter sprach ganz leise mit ihm und wiegte es in ihren Armen. Sie stellte den Stubenwagen auf und legte die Kissen hinein. Dann hob sie den Stuhl auf und stellte ihn weg. Sie holte einen andern Stuhl und stellte ihn neben den Stubenwagen. Ich getraute lange nicht mehr daraufzusteigen. Aber als Chrabeli ganz laut weinte, stieg ich doch wieder auf den Stuhl.
Seit Mutter weg war, war alles ganz anders. Manchmal aßen wir alle unten bei Großmutter, dann wieder oben beim Vater. Ich durfte bei Großmutter im Bett schlafen. Wenn sie ins Bett kam, rutschte ich ganz nahe zu ihr, und ich hatte schön warm. Großmutter redete immer mit mir. Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber ich hörte ihr gerne zu. Mutter redete nicht mit mir. Dauernd trug sie Waschzuber und Körbe mit Wäsche herum. Wenn sie fertig war mit Herumtragen, ging sie in den Garten hacken. Dann war sie wieder in der Küche und hatte Chrabeli auf dem Arm, während sie in der Pfanne rührte. Oft sagte sie zu Edwin und Fridolin, sie sollten nicht immer stören, sie habe viel Arbeit. Weil ich nicht stören wollte, sagte ich nichts. Ich lief ihr hinterher und schaute ihr zu. Wenn es mir langweilig wurde, ging ich wieder zu Großmutter. Eigentlich konnte ich mit Mutter nur während des Essens reden. Aber dann redeten alle durcheinander, und die Großen waren so laut, dass Mutter mich nicht hörte.
Lena war die Größte von allen. Sie erzählte uns manchmal eine Geschichte. Was sie erzählte, verstand ich meistens nicht, aber ich schaute immer auf ihr Gesicht. Das verwandelte sich ständig, und wenn sie lachte, musste ich auch lachen, obwohl ich nicht wusste, warum sie lachte. Und am Schluss von der Geschichte sagte Lena: „Und genau so ist es passiert!“ Aber was passiert war, wusste ich nicht. Trotzdem fand ich die Geschichte schön.
Wenn Edwin und Fridolin um den Stubentisch herumrannten, mussten sie hinaus. Lena sagte, sie könne nicht schreiben, der Tisch wackle. Damit ich Lena zuschauen durfte, wenn sie schrieb, war ich ganz still.
Da waren noch Herbert, Doreen und Othmar. Sie waren größer als Fridolin und Edwin. Auch sie mussten schreiben. Aber sie mochten es nicht, wenn ich zuschaute. Othmar trug eine ganz dicke Brille. Er spielte nie mit Edwin und Fridolin. Meistens saß er irgendwo ganz allein und hatte ein Buch vor seinem Gesicht. Dann hörte er nicht, wenn Mutter zum Essen rief. Ich wusste, wo er sich am liebsten versteckte, und holte ihn.
Seit Mutter weg war, trugen nun Lena und Doreen die Waschkörbe herum. Herbert und Othmar hakten im Garten. Lena erzählte uns keine Geschichten mehr. Großmutter sagte, sie müsse Vater helfen, Mutters Arbeit machen und auch noch für die Schule lernen. Sie hätte nun eben keine Zeit mehr, um Geschichten zu erzählen.
Ich ging mit den gesammelten Steinen zum Wurmhaus zurück. Edwin und Fridolin standen beim Fahrrad der fremden Frau. Während ich das Wurmhaus betrachtete und überlegte, wie das Fenster machen, hörte ich Großmutter schimpfen. Ich hatte sie noch nie so laut schimpfen gehört. Dann redete die fremde Frau sehr laut und wieder hörte ich Großmutter. Irgendwie veränderte sich ihre Stimme, und dann weinte sie laut. Ich hatte Großmutter noch nie weinen gehört. Edwin und Fridolin saßen nun ganz still auf der Treppe, unter dem offenen Stubenfenster und hörten, was gesprochen wurde. Ich ließ die Steine liegen und ging an ihnen vorbei, die Treppe hoch. Aber ich konnte die Türe nicht aufmachen. Ich riegelte an der Türfalle. Dann hängte ich mich an die Türfalle. Die Türe ging sonst immer ganz leicht auf.
Plötzlich ging die Türe auf, und die Frau kam heraus. Schnell wollte ich an ihr vorbei, zu Großmutter. Aber sie hielt mich am Arm fest und sagte: „Du kommst mit mir. Wir machen eine Spazierfahrt!“ Sie zog mich die Treppe hinunter. Ich hörte Großmutter immer noch weinen, aber nicht mehr so laut. Hinter der Gartenmauer hatte ich meine Puppe Leni versteckt. Fridolin drehte ihr immer den Kopf, die Arme und die Beine so herum, dass vorne nicht mehr vorne war und hinten nicht mehr hinten, und ich brauchte lange, bis alles wieder richtig war. Darum versteckte ich die Puppe, wenn Fridolin in der Nähe war. Unten an der Treppe riss ich mich von der Frau los, um Leni zu holen. Ich wollte sie mitnehmen zum Spazierenfahren. Aber die Frau packte mich schnell und setzte mich aufs Fahrrad. Sie erklärte, wie ich die Füße halten musste, damit sie nicht in die Speichen gerieten, und wo ich mich mit den Händen festhalten konnte. Dann stieg sie auf und fuhr den Gartenweg entlang auf die Straße. Wir waren schon ein Stück vom Haus entfernt, da hörte ich Edwin schreien: „Hexe, Hexe … böse Hexe!“ Seine Stimme klang so, wie wenn er wütend war und dann gleich zu weinen begann. Ich verstand nicht, was da passierte. Warum weinte Großmutter? Warum schrie Edwin „Hexe“? Warum wollte die fremde Frau mit mir spazieren fahren?
Ich war noch nie auf einem Fahrrad und fand es schön. Während ich die Häuser und Bäume im Vorbeifahren betrachtete, überlegte ich, warum nicht Großmutter mit mir spazieren fuhr. Sie hätte doch Vaters Fahrrad nehmen können! Das nächste Mal wollte ich mit Großmutter spazieren fahren und nicht mit der fremden Frau.
Nach einer langen Fahrt hielt sie an, und wir gingen in ein großes Haus mit vielen Treppenstufen. Die gingen rundum, und als ich von oben hinunterschaute, sah die Treppe aus wie ein riesiger Ringelwurm. Die Frau zog mich an der Hand in die Wohnung und schloss die Türe zu. Ich stand auf einem weichen Teppich und sah in die Stube. Hier war alles ganz anders als bei Großmutter. Sie hatte nur vor dem Bett einen kleinen Teppich. Der war aber nicht so weich. Hier hatte es überall Teppiche, und an den Fenstern hingen dicke und dünne Vorhänge. Bei Großmutter hingen nur dünne Vorhänge. In der Stube standen sehr große Stühle, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Auf einem glänzenden Möbel standen viele Sachen, und über dem Möbel hingen Bilder, von Frauen und Kindern. An der andern Wand hingen prächtige Blumenbilder. Ich wünschte, dass Großmutter das alles sehen könnte.