Biografische Episoden aus verschiedenen Deutschlands

Biografische Episoden aus verschiedenen Deutschlands

Gerd Müller-Hagen


EUR 19,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 130
ISBN: 978-3-99146-542-3
Erscheinungsdatum: 04.03.2024

Leseprobe:

Ab dem Jahr 2019 habe ich versucht, eine Bilanz meiner Biografie zu ziehen. Ich wollte vor allem „unseren Kindern und noch mehr unseren Enkeln etwas hinterlassen“.

Beim Schreiben konnte ich auf alte Briefe und weitere Unterlagen zurückgreifen, die mir – jetzt befreit von beruflichem und ehrenamtlichen Belastungen – so interessant und fesselnd erschienen, dass mein Bericht auch für einen größeren Personenkreis von Interesse sein sollte.
Ich berichte in kritischer, distanzierter, aber inzwischen auch entspannter und versöhnter Sicht in fast 40 biografischen Episoden über mein Leben.
Es begann kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Schlesien und dauerte bisher fast achtzig Jahre. Mein Leben war geprägt von den politischen Verwerfungen und Herausforderungen in Mitteleuropa, die in dieser Zeit auszuhalten waren und, wie ich jetzt bilanzierend weiß, auch genossen werden durften.
Ich lernte, wie privilegiert ich bei der Flucht durch die Pferde meines Großvaters war. Meine schlesische Familie verteilte sich über West- und Ostdeutschland. Ich wuchs in der späteren DDR in bäuerlichem Milieu auf und erlebte bei gegenseitigen Besuchen, die nach der „Mauer“ vom Osten her sehr behindert waren, Unterschiede zwischen Ost und West. ln der Schule fiel ich dadurch auf, nicht den „Jungen Pionieren“ anzugehören, höhere Schulbildung (Besuch einer Oberschule) wurde mir deshalb verweigert. Das Angebot westdeutscher Verwandter, bei einem illegalen Besuch dortzubleiben, um ein Gymnasium zu besuchen, lehnte ich aus Verbundenheit mit meiner Ost-Familie ab. So erlernte ich von 1960 bis 1962 den Beruf eines Chemiefarbeiters und erwarb zugleich ein Abendschulabitur. Dazwischen erfolgte 1961 der Mauerbau. Ich hatte aber bis 1962 aus eigener Kraft innerhalb der DDR eine höhere Schulbildung erworben. So konnte ich 1962 ein Chemie-Hochschulstudium beginnen und sah einer Karriere in der DDR entgegen.
Das wurde durch meine Verhaftung durch das Ministerium für Staatssicherheit unter dem Vorwurf, „Hetze“ betrieben zu haben, abrupt beendet. Ich erlebte einen Stasi-Knast von innen, wurde entsprechend verurteilt und vom Studium an allen Hochschulen und Universitäten der DDR ausgeschlossen. Damit war meine Karriere in der DDR wieder auf „Anfang“ mit ungewissem Ausgang gestellt.
Vom Rektor der Hochschule wurde mir die Möglichkeit in Aussicht gestellt, mich nach zwei Jahren nachweislich guter Arbeit in der sozialistischen Landwirtschaft um eine Wiederaufnahme des Studiums zu bewerben. Ich erfüllte die Bedingung zähneknirschend. Es gab keine Alternative. Mauerdurchbruch wäre nicht „mein Ding“ gewesen. Ich setzte das Studium unter den Augen meiner jetzt zwei Jahre im Studium weiter fortgeschrittenen ehemaligen Kommilitonen bis zur Promotion fort.
Ich wusste auch ohne direkten Beweis, dass ich – obwohl angeblich rehabilitiert – unter besonderer „Pflege“ durch das Ministerium für Staatssicherheit stand und versuchte, mich entsprechend zu verhalten. Das gelang mir weitgehend, aber nicht gänzlich, wie einige Episoden meines Buches zeigen. Ich trat nicht in die regierende Staatspartei der DDR ein und konnte, wohl um die dadurch eingeschränkten Karrieremöglichkeiten wissend, einigermaßen erfolgreich in der Chemieindustrie arbeiten.



1 Flucht aus Schlesien


Ich wurde am 9. April 1944, einem Ostersonntag, in Neusalz an der Oder (Schlesien) durch meinen Großvater Dr. Rudolf Müller-Hagen, der als Chirurg das dort befindliche Krankenhaus leitete, entbunden. Seine Frau, Großmutter Hanna Müller-Hagen, assistierte ihm als ausgebildete Johanniter-Krankenschwester dabei.

Meine Mutter, Sigrid Müller-Hagen, geborene Peukert lebte damals zusammen mit ihrem Vater Max Peukert und ihrer 14-jährigen Schwester Christa Peukert in dem kleinen Dorf Guhlau bei Lüben in Schlesien. Dort hatte mein Großvater MaxPeukert als Landwirt einen Betrieb, der sich auf die Pferdezucht – Deutsches Rheinisches Kaltblut – spezialisiert hatte. Meine Mutter war eigens zur Geburt per Bahn in die Klinik ihres Schwiegervaters gefahren. Mein Vater, Adolf Müller-Hagen, fiel am 12. Juni 1944 als Oberleutnant und Pilot der Luftwaffe in Böhmen und wurde in Guhlau beerdigt. Der Bericht fußt auf Informationen, die in Briefen und Dokumenten des Jahres 1945 bezüglich der Flucht unserer Familie aus Schlesien enthalten sind. Ich bin, damals erst neun Monate alt, möglicherweise einer der letzten lebenden Teilnehmer. In meiner frühen Kindheit wurde sehr viel über dieses einschneidende Ereignis und die Folgen gesprochen.
Daran erinnere ich mich.
Später habe ich versäumt, meine Mutter konkret zu befragen. Es gab ja auch in den Jahren danach einige andere Herausforderungen, denen wir uns zu stellen hatten. Meine Mutter verstarb 1997.
Ein großer Teil der vorliegenden Briefe zu diesem Thema stammt aus ihrem Nachlass.
Anhand der in den Briefen enthaltenen Informationen, auch Daten, lassen sich Verlauf und Umstände der Flucht rekonstruieren:
Am 18. Januar 1945 stießen vor den Augen meiner Mutter über dem Gutshof Guhlau zwei deutsche Jagdflugzeuge zusammen, die eine Mannschaft kam ums Leben, die andere konnte sich mit dem Fallschirm retten.
Am 22. Januar 1945 waren alle Straßen von Flüchtlingen verstopft, im Gutshaus Guhlau wurden zehn Flüchtlinge aus dem Kreis Guhrau untergebracht. An den Oderbrücken herrschten chaotische Zustände, Kanonendonner war zu hören, Ferngespräche nach Neusalz/Oder wurden nicht angenommen. Ein Pferdegespann des Gutes kehrte nicht mehr zurück. In der folgenden Nacht musste ein weiteres an den Volkssturm übergeben werden. Eine Bahnlinie wurde beschossen. Im Entenstall wurden zwei Kisten mit Silber und wertvollem Geschirr vergraben. Großvater Peukert befürchtete, dass die Beschlagnahme aller gummibereiften Wagen sowie der Pferde durch die Wehrmacht oder den Volkssturm bevorstand. Bisher waren seine Pferde – weil für die schlesische Kaltblutzucht wichtig – im Wesentlichen vom Kriegseinsatz verschont geblieben. Trotz der offensichtlich bedrohlichen Lage gab es keinen Evakuierungsbefehl für die Zivilbevölkerung.

Zum Schutz seiner 21 und 14 Jahre alten Töchter und seines neun Monate alten Enkels sorgte Großvater Peukert dafür, dass diese am 25. Januar 1945 illegal mit einem Straßentransport der Luftwaffe nach Görlitz aus der unmittelbaren Gefahrenzone entweichen konnten. Wegen dieser „wehrkraftzersetzenden Aktivität“ wurde er in seiner Kreisstadt Lüben angezeigt. Wahrscheinlich war es nur dem Umstand, dass die Front schon am 26. Januar sich stark nach Westen verschob, zu verdanken, dass keine Zeit mehr vorhanden war, ihn zu bestrafen.
So aber kam an diesem Tage doch der Evakuierungsbefehl. Die befürchtete Beschlagnahme von Pferden und Gummiwagen blieb aus.

Nun hatte er mit 15 Pferden, vier Zugochsen und entsprechendem Fuhrwerk, zu dem auch ein Landauer (eine an beiden Achsen gefederte Kutsche mit Verdeck) für Mütter mit Kleinkindern gehörte, und sämtlichen Bewohnern des kleinen Dorfes binnen drei Stunden einen „Guhlauer Treck“ zusammenzustellen. Als „Trecks“ wurden Ende des Zweiten Weltkriegs organisierte Personentransporte zu Fluchtzwecken bezeichnet. Dieser Treck verfügte sogar über eine Feldpost- beziehungsweise Trecknummer und war vom Prinzip her postalisch erreichbar.

Somit war die Guhlauer Peukert-Familie zunächst auf der Flucht getrennt. Die Töchter mit dem Enkelsohn fuhren in einem Traktor der Luftwaffe über die Stationen Bunzlau, wo sie in einem Gaststättenquartier die demoralisierte Endzeitstimmung der einquartierten Soldaten erlebten, und Kesselbach in den Raum Görlitz. Hier bekamen sie bei einer von der Pferdezucht her bekannten Bauernfamilie in Ebersbach bei Görlitz (westlich der Neiße) am 30. Januar Quartier und wohnten dort etwa zwei Wochen. Angesichts des herrschenden strengen Schneesturm-Winters war das ein sehr günstiger Umstand.

Vom „Guhlauer Treck“ aus berichtete Max Peukert in Postkarten vom 27. und 29. Januar aus Jakobsdorf und Primkenau über chaotische Zustände: „es ist furchtbar und nicht voranzukommen und keine Unterkünfte … der Schneesturm letzte Nacht war fürchterlich … zwei Pferde haben schon schlapp gemacht“. Es wurde über den ersten Todesfall berichtet. Der Treck führte weiter über Sprottau und Rothenburg in Richtung Niesky, wo wegen Erschöpfung des Zugviehs eine Pause eingelegt werden musste. Da es inzwischen auch in Görlitz unsicher war, schlossen sich meine Mutter mit ihrem Baby und ihrer Schwester in Niesky am 13. Februar dem Guhlauer Treck an.

Meine Mutter benutzte den für Mütter mit Kleinkindern vorgesehenen Landauer nicht. Sie stellte meinen Kinderwagen auf einen der überdachten gummibereiften Wagen und hielt sich vornehmlich dort auf. Sie berichtete, dass mir das Schaukeln auf dem Gefährt sehr gefallen habe. Großvater führte den Treck vorwiegend über Nebenstraßen, um so Straßensperrungen für die Durchfahrt motorisierter Wehrmachtstransporte möglichst zu umgehen. Mehrfach musste der Treck die Tour für einige Tage unterbrechen, weil die Pferde zu überlastet und an „Druse“ erkrankt waren. Dass die Logistik funktionierte, ist beeindruckend, wenn man allein an die Beschaffung der jeweiligen Nachtquartiere, die Verpflegung des Zugviehs und die schätzungsweise mindestens etwa 25 Familien denkt. Praktisch erfolgte das etwa so, dass Treckteilnehmer mit dem Fahrrad vorausfuhren und in dem jeweils als Quartier vorgesehenen Dorf den Treck ankündigten und Details mit Verantwortlichen des Orts vorbereitend absprachen.

Von Niesky aus fuhr der Treck über Guttau – von wo man den Feuerschein des bombardierten Dresden sah – und Bautzen nach Bischheim bei Kamenz und von dort über Radeburg nach Niederebersbach. Hier ist eine Übernachtung am 21. Februar 1945 durch Briefstempel belegt. Von dort aus überquerte der Treck die Elbe in Meißen und erreichte nach etwa 55 km den Ort Pinnewitz bei Lommatzsch am 2. März 1945. Hier musste zunächst wieder ein „Boxenstopp“ wegen Erkrankung einiger Pferde eingelegt werden. Außerdem war es erforderlich, die bisher ungebremsten Wagen des Trecks in der Schmiede des Ortes mit mechanischen Bremsen auszurüsten, um die bevorstehenden „Bergetappen“ sicher bewältigen zu können. Geplant war ein Treckverlauf bis nach Bayreuth, der durch ausgeprägt bergiges Gelände geführt hätte. Die für landwirtschaftliche Nutzung im Flachland ohne Bremse gebauten Ackerwagen konnten auf stark abschüssigen Strecken von der Muskelkraft des Zugviehs allein nicht gehalten werden.

Nachdem die Pferde wieder gesund und die Wagen mit Bremsen versorgt waren, verfügte aber der Bauernführer des Kreises Meißen am 15. März 1945, dass die Pferde und Zugochsen des Trecks im Kreis Meißen zu verbleiben haben. (Zugvieh war infolge der Kriegsverluste allgemein sehr knapp, Traktoren viel seltener als heute, teilweise auch für den Krieg beschlagnahmt, die Spritversorgung problematisch.) Sie sollten hier für die Frühjahrsbestellung eingesetzt werden, um „den Endsieg“ zu sichern. Alle Gespannführer hatten zusammen mit ihren Familien bei ihren Tieren zu verbleiben. Die anderen Teilnehmer des Trecks wurden per Deutscher Reichsbahn weiter nach Bayreuth verschickt. Dem Vernehmen nach siedelten sich schließlich viele von ihnen im Raum Bogen/Bayern an.

Großvater wurde als Verwalter auf dem Rittergut des Herrn von Ivernois in Pinnewitz eingesetzt und bekam mit seiner Familie in dem kleinen Schloss eine Zweizimmerwohnung mit eingerichteter Küche und sogar einem kleinen Garten zugewiesen. Über mein Ergehen wird berichtet, dass ich den Treck, abgesehen von einem als „Milchschorf“ bezeichneten Hautausschlag, gut überstanden habe. Ich habe bis heute mit Hautausschlägen zu tun, die von den Hautärzten aber mit anderen Begriffen bezeichnet werden. In Pinnewitz habe ich Laufen gelernt. Hier erfuhr meine Mutter erstmals, dass die Müller-Hagens aus Neusalz/Oder in Köthen/Anhalt, der Heimat meines Großvaters Rudolf Müller-Hagen, untergekommen waren. In den Berichten über die Flucht, die ich später hörte, waren die etwa acht Wochen in Pinnewitz so etwas wie ein „Idyll im Schwebezustand der Ungewissheit“.
Das änderte sich mit Artilleriebeschuss durch die heranrückende Front am 26. April. Pinnewitz musste fluchtartig verlassen werden, die langsameren Zugochsen und einige Wagen verblieben in Pinnewitz, der Treck war ja deutlich kleiner geworden. Man erreichte Ossig im Kreis Döbeln, quartierte sich dort ein und hoffte, wieder nach Pinnewitz zurückzukommen. Daraus wurde nichts, am 6. Mai musste der Treck, wieder unmittelbar von der Front verfolgt, weiter in Richtung Westen. Am 7. Mai war man erfreut, nach mehr als 300 km Flucht in Königshain bei Mittweida zunächst „beim Amerikaner“ angekommen zu sein. Dort blieb man in einem guten Quartier für etwa zwei Wochen. In dieser Zeit erfolgte die Übergabe an die sowjetische Armee. Von Plünderungen blieb man zunächst verschont.
Da der Krieg nun beendet war, versteckte Großvater seine Pistole bei unserem Wirt im Taubenschlag. Die Wertsachen ließ man ebenfalls dort, um Unwägbarkeiten auf der Heimreise zu entgehen (Bei Kontrollen durch die Rote Armee hätte sich ein Waffenfund verhängnisvoll für den Besitzer ausgewirkt, Wertsachen wären Plünderungen zum Opfer gefallen). Die Heimreise verlief wegen des viel kleineren Trecks, nicht mehr überfüllter Straßen, der jetzt mit Bremsen ausgerüsteten Gefährte und der deutlich besseren sommerlichen Straßenverhältnisse sehr zügig. Großvater hatte einen ähnlichen Straßenverlauf gewählt, jedenfalls fuhren wir wieder über Pinnewitz und Bischheim.
Ziel war Guhlau. Großvater wollte trotz der Meldungen über weitgehende Zerstörungen in Guhlau, die zutrafen, die Felder bestellen. Es drohte ja Hunger. Er hatte noch genügend Pferde und Gespannführer, obwohl auf der Rückfahrt insgesamt fünf Pferde mit vorgehaltener Waffe von Soldaten der Sowjetarmee entwendet worden waren.

Doch es kam anders. Am 2. Juni 1945 begegneten die „Heimkehrer“ in Reichenbach/Oberlausitz, also 15 km vor Görlitz, einer Kuhherde, die von deutschen Mädchen auf Befehl der sowjetischen Armee betreut, das heißt gehütet und gemolken, werden musste. Diese berichteten, dass alle Neißebrücken zerstört oder gesperrt sind. Deshalb musste die Fahrt in Ebersbach bei Görlitz beendet werden. Der Treck wurde aufgelöst, die Familie Peukert kam bei den gleichen Wirtsleuten wie im Januar unter.

Es wurde in diesen Tagen sehr bedauert, das Ziel der Reise, die Heimkehr, nicht geschafft zu haben. Heute wissen wir, dass eine erfolgreiche Überquerung der Neiße nicht zur Heimkehr, sondern zu völliger Beschlagnahme des Eigentums und Vertreibung unter Mitnahme lediglich von Handgepäck geführt hätte.

Der ungewollte Neuanfang in Ebersbach war dadurch, dass Großvater nicht nur seine Fachkenntnisse, sondern auch Arbeitsfähigkeit durch Zugvieh und Gespannführer einbringen konnte, begünstigt. Die Landwirtschaft in dieser Region hatte nach Kriegsende infolge von Kriegsverlusten, Beschlagnahmen und Plünderungen kaum noch Zugvieh. Die Bestellung der Felder war ins Stocken geraten. Seine bald auf mehrere Dörfer verteilten Pferde halfen dabei, die Bestellung der teilweise verwahrlosten Felder zu sichern.
Außerdem konnte er durch Einsatz seiner hochdotierten Hengste auch einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau der damals für die Landwirtschaft noch essenziellen Pferdezucht leisten.
Auf meine Nachfrage teilte das Landgestüt Moritzburg bei Dresden im Jahre 2021 mit, dass dort bis 1970 insgesamt 14 Hengste verzeichnet sind, die als Nachkommen Peukertscher Zucht im Einsatz standen. Der erfolgreichste hieß „Maikönig von der Landstraße“. Das „von der Landstraße“ weist auf die Umstände seiner Geburt im Mai 1945 in einem Straßengraben aus einem Flüchtlingstreck heraus hin. Nach der Ankunft in Ebersbach am 2. Juni wurde Großvater sofort durch Aussaat geeigneter Feldfrüchte aktiv und konnte so schon im September durch Lieferung von Essbarem (Rapsblätter und grüne Peluschken) Hilfe für die extrem hungernde Bevölkerung von Görlitz leisten. Trotz dieser genannten günstigen Umstände war der Neuanfang ein tiefgehender, komplizierter Umbruch mit Gefahren und Unsicherheiten.

Ein Brief meiner Mutter an ihre Schwiegermutter vom 3. September 1945 vermittelt einen Eindruck über die erhebliche Unsicherheit in der Nachkriegszeit:

„Meine liebe Mutter!

Da morgen Gelegenheit nach Dessau ist, will ich schnell noch einige Zeilen schreiben. Heute kam Dein Brief vom 06.08., für den ich Dir herzlich danke. Die Sachen, die Du im April an mich schicktest, werden wir wohl nicht mehr wiedersehen. Das ist ja wieder ein großer Verlust, denn ich hatte recht gute Sachen darin. Es kommt ja allerdings schon nicht mehr so darauf an, denn eines Tages haben wir nur das, das wir auf dem Leibe tragen. Vati geht es heute schon so. Wir haben einen aufregenden Nachmittag hinter uns. Auf dem Feld wollten betrunkene Russen das Rad meines Vaters haben und schossen mit der MPi auf ihn, der Schuss ging vor ihm in den Sand, so dass er nur ein dickes Gesicht von den Steinen bekommen hat. Gleich darauf kamen sie von einem Deutschen geleitet und verlangten nach ihm in den Hof und ins Haus und verdroschen die alte Frau Schumann (ich war im Garten und holte Christa aus dem Fenster heraus und wir entflohen). Die Russen schossen im Haus und durchwühlten unsere Wohnung. Sie nahmen Vatis und Herrn Royzikis Anzüge, mein schwarzes Kostüm, 2 Blusen, meine Uhr und meine Lederjacke mit und verschwanden. Da keine Besatzung hier ist, kriegt man nicht geholfen. – Sonst ist alles beim Alten, ich schickte heute erst einen Brief an Dich ab. – Die Yorkstraße, wo noch Sachen von Dir sein sollen, liegt jenseits der Neiße. Ich wollte schon oft nach Haus fahren, um zu den Gräbern zu gehen und nach allem zu sehen. Ich kann und will aber nicht von Gerd-Adolf weg und jetzt ist es auch gar nicht mehr möglich, rüber zu kommen.
Heute war noch mal herrliches Wetter. Es ist ja auch draußen sehr viel Arbeit. Bisher wurden Rapsblätter als Gemüse verkauft und jetzt neuerdings grüne Peluschken.
Nun sei Du meine liebe Mutter, Vater, Käthe und Rudi herzlichst gegrüßt von Eurer Sigrid“

Solche Ereignisse waren typisch und wiederholten sich. Vermutlich aus diesem Grund hatte ich noch bis 1949 panische Angst vor Männern in Uniformen. Das bedrückendste Ereignis aber war der Abtransport der gesamten Familie auf einem Pferdewagen zum Verhör des Großvaters. Man übernachtete zunächst auf dem Wagen. Dann stellte die Bäuerin, auf deren Hof sich die Kommandantur eingerichtet hatte, ihr Wohnzimmer zur Verfügung. Es drohten vollständige Enteignung und Abtransport in die Sowjetunion.

Ab dem Jahr 2019 habe ich versucht, eine Bilanz meiner Biografie zu ziehen. Ich wollte vor allem „unseren Kindern und noch mehr unseren Enkeln etwas hinterlassen“.

Beim Schreiben konnte ich auf alte Briefe und weitere Unterlagen zurückgreifen, die mir – jetzt befreit von beruflichem und ehrenamtlichen Belastungen – so interessant und fesselnd erschienen, dass mein Bericht auch für einen größeren Personenkreis von Interesse sein sollte.
Ich berichte in kritischer, distanzierter, aber inzwischen auch entspannter und versöhnter Sicht in fast 40 biografischen Episoden über mein Leben.
Es begann kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Schlesien und dauerte bisher fast achtzig Jahre. Mein Leben war geprägt von den politischen Verwerfungen und Herausforderungen in Mitteleuropa, die in dieser Zeit auszuhalten waren und, wie ich jetzt bilanzierend weiß, auch genossen werden durften.
Ich lernte, wie privilegiert ich bei der Flucht durch die Pferde meines Großvaters war. Meine schlesische Familie verteilte sich über West- und Ostdeutschland. Ich wuchs in der späteren DDR in bäuerlichem Milieu auf und erlebte bei gegenseitigen Besuchen, die nach der „Mauer“ vom Osten her sehr behindert waren, Unterschiede zwischen Ost und West. ln der Schule fiel ich dadurch auf, nicht den „Jungen Pionieren“ anzugehören, höhere Schulbildung (Besuch einer Oberschule) wurde mir deshalb verweigert. Das Angebot westdeutscher Verwandter, bei einem illegalen Besuch dortzubleiben, um ein Gymnasium zu besuchen, lehnte ich aus Verbundenheit mit meiner Ost-Familie ab. So erlernte ich von 1960 bis 1962 den Beruf eines Chemiefarbeiters und erwarb zugleich ein Abendschulabitur. Dazwischen erfolgte 1961 der Mauerbau. Ich hatte aber bis 1962 aus eigener Kraft innerhalb der DDR eine höhere Schulbildung erworben. So konnte ich 1962 ein Chemie-Hochschulstudium beginnen und sah einer Karriere in der DDR entgegen.
Das wurde durch meine Verhaftung durch das Ministerium für Staatssicherheit unter dem Vorwurf, „Hetze“ betrieben zu haben, abrupt beendet. Ich erlebte einen Stasi-Knast von innen, wurde entsprechend verurteilt und vom Studium an allen Hochschulen und Universitäten der DDR ausgeschlossen. Damit war meine Karriere in der DDR wieder auf „Anfang“ mit ungewissem Ausgang gestellt.
Vom Rektor der Hochschule wurde mir die Möglichkeit in Aussicht gestellt, mich nach zwei Jahren nachweislich guter Arbeit in der sozialistischen Landwirtschaft um eine Wiederaufnahme des Studiums zu bewerben. Ich erfüllte die Bedingung zähneknirschend. Es gab keine Alternative. Mauerdurchbruch wäre nicht „mein Ding“ gewesen. Ich setzte das Studium unter den Augen meiner jetzt zwei Jahre im Studium weiter fortgeschrittenen ehemaligen Kommilitonen bis zur Promotion fort.
Ich wusste auch ohne direkten Beweis, dass ich – obwohl angeblich rehabilitiert – unter besonderer „Pflege“ durch das Ministerium für Staatssicherheit stand und versuchte, mich entsprechend zu verhalten. Das gelang mir weitgehend, aber nicht gänzlich, wie einige Episoden meines Buches zeigen. Ich trat nicht in die regierende Staatspartei der DDR ein und konnte, wohl um die dadurch eingeschränkten Karrieremöglichkeiten wissend, einigermaßen erfolgreich in der Chemieindustrie arbeiten.



1 Flucht aus Schlesien


Ich wurde am 9. April 1944, einem Ostersonntag, in Neusalz an der Oder (Schlesien) durch meinen Großvater Dr. Rudolf Müller-Hagen, der als Chirurg das dort befindliche Krankenhaus leitete, entbunden. Seine Frau, Großmutter Hanna Müller-Hagen, assistierte ihm als ausgebildete Johanniter-Krankenschwester dabei.

Meine Mutter, Sigrid Müller-Hagen, geborene Peukert lebte damals zusammen mit ihrem Vater Max Peukert und ihrer 14-jährigen Schwester Christa Peukert in dem kleinen Dorf Guhlau bei Lüben in Schlesien. Dort hatte mein Großvater MaxPeukert als Landwirt einen Betrieb, der sich auf die Pferdezucht – Deutsches Rheinisches Kaltblut – spezialisiert hatte. Meine Mutter war eigens zur Geburt per Bahn in die Klinik ihres Schwiegervaters gefahren. Mein Vater, Adolf Müller-Hagen, fiel am 12. Juni 1944 als Oberleutnant und Pilot der Luftwaffe in Böhmen und wurde in Guhlau beerdigt. Der Bericht fußt auf Informationen, die in Briefen und Dokumenten des Jahres 1945 bezüglich der Flucht unserer Familie aus Schlesien enthalten sind. Ich bin, damals erst neun Monate alt, möglicherweise einer der letzten lebenden Teilnehmer. In meiner frühen Kindheit wurde sehr viel über dieses einschneidende Ereignis und die Folgen gesprochen.
Daran erinnere ich mich.
Später habe ich versäumt, meine Mutter konkret zu befragen. Es gab ja auch in den Jahren danach einige andere Herausforderungen, denen wir uns zu stellen hatten. Meine Mutter verstarb 1997.
Ein großer Teil der vorliegenden Briefe zu diesem Thema stammt aus ihrem Nachlass.
Anhand der in den Briefen enthaltenen Informationen, auch Daten, lassen sich Verlauf und Umstände der Flucht rekonstruieren:
Am 18. Januar 1945 stießen vor den Augen meiner Mutter über dem Gutshof Guhlau zwei deutsche Jagdflugzeuge zusammen, die eine Mannschaft kam ums Leben, die andere konnte sich mit dem Fallschirm retten.
Am 22. Januar 1945 waren alle Straßen von Flüchtlingen verstopft, im Gutshaus Guhlau wurden zehn Flüchtlinge aus dem Kreis Guhrau untergebracht. An den Oderbrücken herrschten chaotische Zustände, Kanonendonner war zu hören, Ferngespräche nach Neusalz/Oder wurden nicht angenommen. Ein Pferdegespann des Gutes kehrte nicht mehr zurück. In der folgenden Nacht musste ein weiteres an den Volkssturm übergeben werden. Eine Bahnlinie wurde beschossen. Im Entenstall wurden zwei Kisten mit Silber und wertvollem Geschirr vergraben. Großvater Peukert befürchtete, dass die Beschlagnahme aller gummibereiften Wagen sowie der Pferde durch die Wehrmacht oder den Volkssturm bevorstand. Bisher waren seine Pferde – weil für die schlesische Kaltblutzucht wichtig – im Wesentlichen vom Kriegseinsatz verschont geblieben. Trotz der offensichtlich bedrohlichen Lage gab es keinen Evakuierungsbefehl für die Zivilbevölkerung.

Zum Schutz seiner 21 und 14 Jahre alten Töchter und seines neun Monate alten Enkels sorgte Großvater Peukert dafür, dass diese am 25. Januar 1945 illegal mit einem Straßentransport der Luftwaffe nach Görlitz aus der unmittelbaren Gefahrenzone entweichen konnten. Wegen dieser „wehrkraftzersetzenden Aktivität“ wurde er in seiner Kreisstadt Lüben angezeigt. Wahrscheinlich war es nur dem Umstand, dass die Front schon am 26. Januar sich stark nach Westen verschob, zu verdanken, dass keine Zeit mehr vorhanden war, ihn zu bestrafen.
So aber kam an diesem Tage doch der Evakuierungsbefehl. Die befürchtete Beschlagnahme von Pferden und Gummiwagen blieb aus.

Nun hatte er mit 15 Pferden, vier Zugochsen und entsprechendem Fuhrwerk, zu dem auch ein Landauer (eine an beiden Achsen gefederte Kutsche mit Verdeck) für Mütter mit Kleinkindern gehörte, und sämtlichen Bewohnern des kleinen Dorfes binnen drei Stunden einen „Guhlauer Treck“ zusammenzustellen. Als „Trecks“ wurden Ende des Zweiten Weltkriegs organisierte Personentransporte zu Fluchtzwecken bezeichnet. Dieser Treck verfügte sogar über eine Feldpost- beziehungsweise Trecknummer und war vom Prinzip her postalisch erreichbar.

Somit war die Guhlauer Peukert-Familie zunächst auf der Flucht getrennt. Die Töchter mit dem Enkelsohn fuhren in einem Traktor der Luftwaffe über die Stationen Bunzlau, wo sie in einem Gaststättenquartier die demoralisierte Endzeitstimmung der einquartierten Soldaten erlebten, und Kesselbach in den Raum Görlitz. Hier bekamen sie bei einer von der Pferdezucht her bekannten Bauernfamilie in Ebersbach bei Görlitz (westlich der Neiße) am 30. Januar Quartier und wohnten dort etwa zwei Wochen. Angesichts des herrschenden strengen Schneesturm-Winters war das ein sehr günstiger Umstand.

Vom „Guhlauer Treck“ aus berichtete Max Peukert in Postkarten vom 27. und 29. Januar aus Jakobsdorf und Primkenau über chaotische Zustände: „es ist furchtbar und nicht voranzukommen und keine Unterkünfte … der Schneesturm letzte Nacht war fürchterlich … zwei Pferde haben schon schlapp gemacht“. Es wurde über den ersten Todesfall berichtet. Der Treck führte weiter über Sprottau und Rothenburg in Richtung Niesky, wo wegen Erschöpfung des Zugviehs eine Pause eingelegt werden musste. Da es inzwischen auch in Görlitz unsicher war, schlossen sich meine Mutter mit ihrem Baby und ihrer Schwester in Niesky am 13. Februar dem Guhlauer Treck an.

Meine Mutter benutzte den für Mütter mit Kleinkindern vorgesehenen Landauer nicht. Sie stellte meinen Kinderwagen auf einen der überdachten gummibereiften Wagen und hielt sich vornehmlich dort auf. Sie berichtete, dass mir das Schaukeln auf dem Gefährt sehr gefallen habe. Großvater führte den Treck vorwiegend über Nebenstraßen, um so Straßensperrungen für die Durchfahrt motorisierter Wehrmachtstransporte möglichst zu umgehen. Mehrfach musste der Treck die Tour für einige Tage unterbrechen, weil die Pferde zu überlastet und an „Druse“ erkrankt waren. Dass die Logistik funktionierte, ist beeindruckend, wenn man allein an die Beschaffung der jeweiligen Nachtquartiere, die Verpflegung des Zugviehs und die schätzungsweise mindestens etwa 25 Familien denkt. Praktisch erfolgte das etwa so, dass Treckteilnehmer mit dem Fahrrad vorausfuhren und in dem jeweils als Quartier vorgesehenen Dorf den Treck ankündigten und Details mit Verantwortlichen des Orts vorbereitend absprachen.

Von Niesky aus fuhr der Treck über Guttau – von wo man den Feuerschein des bombardierten Dresden sah – und Bautzen nach Bischheim bei Kamenz und von dort über Radeburg nach Niederebersbach. Hier ist eine Übernachtung am 21. Februar 1945 durch Briefstempel belegt. Von dort aus überquerte der Treck die Elbe in Meißen und erreichte nach etwa 55 km den Ort Pinnewitz bei Lommatzsch am 2. März 1945. Hier musste zunächst wieder ein „Boxenstopp“ wegen Erkrankung einiger Pferde eingelegt werden. Außerdem war es erforderlich, die bisher ungebremsten Wagen des Trecks in der Schmiede des Ortes mit mechanischen Bremsen auszurüsten, um die bevorstehenden „Bergetappen“ sicher bewältigen zu können. Geplant war ein Treckverlauf bis nach Bayreuth, der durch ausgeprägt bergiges Gelände geführt hätte. Die für landwirtschaftliche Nutzung im Flachland ohne Bremse gebauten Ackerwagen konnten auf stark abschüssigen Strecken von der Muskelkraft des Zugviehs allein nicht gehalten werden.

Nachdem die Pferde wieder gesund und die Wagen mit Bremsen versorgt waren, verfügte aber der Bauernführer des Kreises Meißen am 15. März 1945, dass die Pferde und Zugochsen des Trecks im Kreis Meißen zu verbleiben haben. (Zugvieh war infolge der Kriegsverluste allgemein sehr knapp, Traktoren viel seltener als heute, teilweise auch für den Krieg beschlagnahmt, die Spritversorgung problematisch.) Sie sollten hier für die Frühjahrsbestellung eingesetzt werden, um „den Endsieg“ zu sichern. Alle Gespannführer hatten zusammen mit ihren Familien bei ihren Tieren zu verbleiben. Die anderen Teilnehmer des Trecks wurden per Deutscher Reichsbahn weiter nach Bayreuth verschickt. Dem Vernehmen nach siedelten sich schließlich viele von ihnen im Raum Bogen/Bayern an.

Großvater wurde als Verwalter auf dem Rittergut des Herrn von Ivernois in Pinnewitz eingesetzt und bekam mit seiner Familie in dem kleinen Schloss eine Zweizimmerwohnung mit eingerichteter Küche und sogar einem kleinen Garten zugewiesen. Über mein Ergehen wird berichtet, dass ich den Treck, abgesehen von einem als „Milchschorf“ bezeichneten Hautausschlag, gut überstanden habe. Ich habe bis heute mit Hautausschlägen zu tun, die von den Hautärzten aber mit anderen Begriffen bezeichnet werden. In Pinnewitz habe ich Laufen gelernt. Hier erfuhr meine Mutter erstmals, dass die Müller-Hagens aus Neusalz/Oder in Köthen/Anhalt, der Heimat meines Großvaters Rudolf Müller-Hagen, untergekommen waren. In den Berichten über die Flucht, die ich später hörte, waren die etwa acht Wochen in Pinnewitz so etwas wie ein „Idyll im Schwebezustand der Ungewissheit“.
Das änderte sich mit Artilleriebeschuss durch die heranrückende Front am 26. April. Pinnewitz musste fluchtartig verlassen werden, die langsameren Zugochsen und einige Wagen verblieben in Pinnewitz, der Treck war ja deutlich kleiner geworden. Man erreichte Ossig im Kreis Döbeln, quartierte sich dort ein und hoffte, wieder nach Pinnewitz zurückzukommen. Daraus wurde nichts, am 6. Mai musste der Treck, wieder unmittelbar von der Front verfolgt, weiter in Richtung Westen. Am 7. Mai war man erfreut, nach mehr als 300 km Flucht in Königshain bei Mittweida zunächst „beim Amerikaner“ angekommen zu sein. Dort blieb man in einem guten Quartier für etwa zwei Wochen. In dieser Zeit erfolgte die Übergabe an die sowjetische Armee. Von Plünderungen blieb man zunächst verschont.
Da der Krieg nun beendet war, versteckte Großvater seine Pistole bei unserem Wirt im Taubenschlag. Die Wertsachen ließ man ebenfalls dort, um Unwägbarkeiten auf der Heimreise zu entgehen (Bei Kontrollen durch die Rote Armee hätte sich ein Waffenfund verhängnisvoll für den Besitzer ausgewirkt, Wertsachen wären Plünderungen zum Opfer gefallen). Die Heimreise verlief wegen des viel kleineren Trecks, nicht mehr überfüllter Straßen, der jetzt mit Bremsen ausgerüsteten Gefährte und der deutlich besseren sommerlichen Straßenverhältnisse sehr zügig. Großvater hatte einen ähnlichen Straßenverlauf gewählt, jedenfalls fuhren wir wieder über Pinnewitz und Bischheim.
Ziel war Guhlau. Großvater wollte trotz der Meldungen über weitgehende Zerstörungen in Guhlau, die zutrafen, die Felder bestellen. Es drohte ja Hunger. Er hatte noch genügend Pferde und Gespannführer, obwohl auf der Rückfahrt insgesamt fünf Pferde mit vorgehaltener Waffe von Soldaten der Sowjetarmee entwendet worden waren.

Doch es kam anders. Am 2. Juni 1945 begegneten die „Heimkehrer“ in Reichenbach/Oberlausitz, also 15 km vor Görlitz, einer Kuhherde, die von deutschen Mädchen auf Befehl der sowjetischen Armee betreut, das heißt gehütet und gemolken, werden musste. Diese berichteten, dass alle Neißebrücken zerstört oder gesperrt sind. Deshalb musste die Fahrt in Ebersbach bei Görlitz beendet werden. Der Treck wurde aufgelöst, die Familie Peukert kam bei den gleichen Wirtsleuten wie im Januar unter.

Es wurde in diesen Tagen sehr bedauert, das Ziel der Reise, die Heimkehr, nicht geschafft zu haben. Heute wissen wir, dass eine erfolgreiche Überquerung der Neiße nicht zur Heimkehr, sondern zu völliger Beschlagnahme des Eigentums und Vertreibung unter Mitnahme lediglich von Handgepäck geführt hätte.

Der ungewollte Neuanfang in Ebersbach war dadurch, dass Großvater nicht nur seine Fachkenntnisse, sondern auch Arbeitsfähigkeit durch Zugvieh und Gespannführer einbringen konnte, begünstigt. Die Landwirtschaft in dieser Region hatte nach Kriegsende infolge von Kriegsverlusten, Beschlagnahmen und Plünderungen kaum noch Zugvieh. Die Bestellung der Felder war ins Stocken geraten. Seine bald auf mehrere Dörfer verteilten Pferde halfen dabei, die Bestellung der teilweise verwahrlosten Felder zu sichern.
Außerdem konnte er durch Einsatz seiner hochdotierten Hengste auch einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau der damals für die Landwirtschaft noch essenziellen Pferdezucht leisten.
Auf meine Nachfrage teilte das Landgestüt Moritzburg bei Dresden im Jahre 2021 mit, dass dort bis 1970 insgesamt 14 Hengste verzeichnet sind, die als Nachkommen Peukertscher Zucht im Einsatz standen. Der erfolgreichste hieß „Maikönig von der Landstraße“. Das „von der Landstraße“ weist auf die Umstände seiner Geburt im Mai 1945 in einem Straßengraben aus einem Flüchtlingstreck heraus hin. Nach der Ankunft in Ebersbach am 2. Juni wurde Großvater sofort durch Aussaat geeigneter Feldfrüchte aktiv und konnte so schon im September durch Lieferung von Essbarem (Rapsblätter und grüne Peluschken) Hilfe für die extrem hungernde Bevölkerung von Görlitz leisten. Trotz dieser genannten günstigen Umstände war der Neuanfang ein tiefgehender, komplizierter Umbruch mit Gefahren und Unsicherheiten.

Ein Brief meiner Mutter an ihre Schwiegermutter vom 3. September 1945 vermittelt einen Eindruck über die erhebliche Unsicherheit in der Nachkriegszeit:

„Meine liebe Mutter!

Da morgen Gelegenheit nach Dessau ist, will ich schnell noch einige Zeilen schreiben. Heute kam Dein Brief vom 06.08., für den ich Dir herzlich danke. Die Sachen, die Du im April an mich schicktest, werden wir wohl nicht mehr wiedersehen. Das ist ja wieder ein großer Verlust, denn ich hatte recht gute Sachen darin. Es kommt ja allerdings schon nicht mehr so darauf an, denn eines Tages haben wir nur das, das wir auf dem Leibe tragen. Vati geht es heute schon so. Wir haben einen aufregenden Nachmittag hinter uns. Auf dem Feld wollten betrunkene Russen das Rad meines Vaters haben und schossen mit der MPi auf ihn, der Schuss ging vor ihm in den Sand, so dass er nur ein dickes Gesicht von den Steinen bekommen hat. Gleich darauf kamen sie von einem Deutschen geleitet und verlangten nach ihm in den Hof und ins Haus und verdroschen die alte Frau Schumann (ich war im Garten und holte Christa aus dem Fenster heraus und wir entflohen). Die Russen schossen im Haus und durchwühlten unsere Wohnung. Sie nahmen Vatis und Herrn Royzikis Anzüge, mein schwarzes Kostüm, 2 Blusen, meine Uhr und meine Lederjacke mit und verschwanden. Da keine Besatzung hier ist, kriegt man nicht geholfen. – Sonst ist alles beim Alten, ich schickte heute erst einen Brief an Dich ab. – Die Yorkstraße, wo noch Sachen von Dir sein sollen, liegt jenseits der Neiße. Ich wollte schon oft nach Haus fahren, um zu den Gräbern zu gehen und nach allem zu sehen. Ich kann und will aber nicht von Gerd-Adolf weg und jetzt ist es auch gar nicht mehr möglich, rüber zu kommen.
Heute war noch mal herrliches Wetter. Es ist ja auch draußen sehr viel Arbeit. Bisher wurden Rapsblätter als Gemüse verkauft und jetzt neuerdings grüne Peluschken.
Nun sei Du meine liebe Mutter, Vater, Käthe und Rudi herzlichst gegrüßt von Eurer Sigrid“

Solche Ereignisse waren typisch und wiederholten sich. Vermutlich aus diesem Grund hatte ich noch bis 1949 panische Angst vor Männern in Uniformen. Das bedrückendste Ereignis aber war der Abtransport der gesamten Familie auf einem Pferdewagen zum Verhör des Großvaters. Man übernachtete zunächst auf dem Wagen. Dann stellte die Bäuerin, auf deren Hof sich die Kommandantur eingerichtet hatte, ihr Wohnzimmer zur Verfügung. Es drohten vollständige Enteignung und Abtransport in die Sowjetunion.
5 Sterne
Sehr gutes ausführliches buch - 31.03.2024

Lesenswert ,,,

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