Als Maikäfer nicht fliegen durften …

Als Maikäfer nicht fliegen durften …

Meine Gefangenenjahre 1945-1949

Martina Emes


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 48
ISBN: 978-3-99107-979-8
Erscheinungsdatum: 11.01.2022

Leseprobe:

Prolog

Die erschütternden Erlebnisse einer jungen Frau aus Westpommern im Kriegsjahr 1945 und in den 4 Jahren danach, von ihr handschriftlich niedergeschrieben im Jahr 1950. Ein Tagebuch, das schnörkellos ihren Leidensweg beschreibt. Ein Zeitzeugnis, das durch seine authentische Sprache überzeugt. Und ein Vermächtnis an all diejenigen, die in Folge des Krieges wehrlos verschleppt, gedemütigt und entrechtet wurden und unter schwierigsten Bedingungen in Arbeitslagern mühsam ihr Leben fristen mussten. Beileibe nicht alle kamen wieder.

Herausgegeben von Martina Emes.


Als im Januar 1945 der Strom der Flüchtlinge aus Ostpreußen täglich mehr und mehr wuchs, als sie keine Unterkunft mehr fanden, da bereits alles belagert war, wussten auch wir in unserem kleinen pommerschen Dörfchen, dass es so nicht mehr lange weitergehen würde. Die Not war groß, denn der Winter war damals kalt und es lag viel Schnee. Jeden Tag kamen mehr Flüchtlinge, und die Front rückte näher. Nicht lange, da hörten wir schon die ersten Kanonenschüsse. Also war der Feind nicht mehr weit entfernt. Es war an einem Sonntag, den 25. Februar, da hörten wir aus dem Radio in den Nachrichten, dass die Russen bereits die Stadt Neustettin besetzt hatten. Da bekamen wir es mit der Angst zu tun, denn die Entfernung betrug nur noch 30 km. Am Montag, den 26. Februar nach­mittags, umringten die Russen dann auch schon die nahegelegene Stadt Bublitz. In Windes­eile waren sie angerollt, die ersten Panzer rückten in die Stadt ein.
Wir lebten in unserem Dorf 6 km weit außerhalb, konnten die Lage aber sehr gut übersehen, denn es war weit und breit nur flaches Land. So sahen wir, wie die ersten Häuser in Brand auf­gingen. Alles war in größter Aufregung, ein Flüchten gab es nicht mehr. Im Handumdreh­en hatte der Russe die ganze Umgebung abgeriegelt. Wir wohnten auf einem großen Gut und hatten zehn Russen als Kriegsgefangene dort, mit denen wir uns gut verstanden. Diese sprachen uns Mut zu und sagten, der Russe sei ein so gutmütiger und ausgegliche­ner Mensch, wir bräuchten keine Angst zu haben. Als sich die Lage dann aber verschärf­te, bekamen diese Gefangenen selber Angst vor ihren Kameraden. Sie beratschlagten gemeinsam mit uns, was am besten zu machen sei. Sie sagten unter anderem, dass Stalin gefordert hatte: Nicht in deutsche Gefangenschaft gehen, lieber sterben! In dieser Situation entschlossen sie sich, zu ihren anrückenden Kameraden zu gehen, vielleicht in der Hoffnung, in deren Reihen untertauchen zu können.
Was aus ihnen wurde, weiß niemand. Sie können uns aber nicht verraten haben, denn die ersten russischen Soldaten tauchten erst fünf Tage später, am 2. März, bei uns auf. Es waren aber harmlose Soldaten, sie sagten: „Habt keine Angst.“ Wir verstanden kein Wort, es war aber noch ein gefangener Pole da, der hat es uns übersetzt. Dann kam aber schnell alles anders. Denn kurze Zeit nach diesen Soldaten kamen andere, die bewiesen uns das Gegenteil. Mit vorgehaltenen Pistolen traten sie an uns ran, verlangten Uhren und Schnaps. Wir gaben ihnen zu verstehen, dass wir nichts hatten. Da fingen sie an zu toben, warfen sämtliche Kleider und Wäsche aus den Schränken. Immer wieder schrien sie: „Frau, wo ist Uhr?“ Wir verneinten nur, da wurden sie so böse, ein betrunkener Russe legte an und wollte meinen Vater erschießen. Ich sprang schnell vor ihn, um ihn zu schützen. Da ließ er das Gewehr runter, murmelte ein paar Worte, drehte sich um und ging weg. Wir wollten den anderen zu essen geben, auch Milch boten wir ihnen an, aber alles warfen sie uns vor die Füße.
Da sie nun keine Wertsachen bei uns fanden, gingen sie fort, und nach kurzer Zeit kamen wieder andere. Diese waren ganz hemmungslos, holten alle jungen Frauen raus und haben sie schändlich missbraucht. Ich wurde hierbei auch nicht verschont: Drei Russen standen bereit, mein Weinen und Kratzen half nichts. Die Pistole wurde mir auf die Brust gesetzt, und so erreichten zwei von ihnen mit brutaler Gewalt ihr Ziel. Inzwischen war der dritte kurz fort. So schnappte ich mir schnell meine Jacke und lief davon. Ich sah, wie der Russe mich suchte, ich hatte aber Glück und konnte ihm entkommen. Aber lange noch tobten sie in den Häusern rum. Da sammelte mein Vater, der aus dem 1. Weltkrieg ein verkrüppeltes Bein mitgebracht hatte und schwer gehbehindert war, heimlich alle Mädel im Dorf und sagte: „So geht’s nicht weiter, ich kann euch nicht schützen; ihr müsst euch verstecken, kommt alle mit in eine große Scheune.“ Da sie abgeschlossen war, machte mein Vater von außen einige Bretter los, nun krochen wir zu acht Mädels da hinein. Die Bretter wurden wieder angeschlagen, und wir saßen im Stroh. Alles war mäuschenstill, jeder hörte sein Herz schlagen. Auf einmal hörten wir Schritte um die Scheune kommen. Unsere Angst war so groß, am liebsten hätten wir laut geschrien. Aber es waren die Schritte von der Mutter eines der Mädels. Sie rief uns, wir könnten wieder kommen, die Russen hätten den Befehl erhalten, unseren Ort zu ver­lassen, denn es sollte ein Lazarett eingerichtet werden. Ich sehe heute noch die Gesichter von den abziehenden Russen, als wir alle wieder auf den Hof kamen, aber es hat uns dann niemand mehr was angetan.
Aber es war klar, hier konnten wir nicht länger bleiben. Schnell nahmen wir ein paar Sachen, nur was wir tragen konnten. Wir mussten 3 km gehen in ein anderes Dorf. Hier kamen wir in dunkler Nacht an, zum Glück sahen wir keinen Russen, waren so froh und glaubten uns in Sicherheit. Die Familien aus dem Dorf waren alle schon fort, so gingen wir zu vier bis fünf Familien in eine Wohnung zusammen. Was nicht in die Betten ging, legte sich auf den Fußboden. So ging dann die Nacht auch rum. Aber im ersten Morgengrauen kamen schon zwei russische Offiziere, einer sprach deutsch. Sie sagten uns: „Habt keine Angst, es darf euch niemand was tun. Wenn die Soldaten euch belästigen wollen, dann meldet es sofort bei der Kommandantur.“ Wir dachten, so ein Blödsinn, bis wir bei der Kommandantur angekommen wären, da würden uns sicher inzwischen wieder ein paar gefangen genommen und vergewaltigt haben.
Bald darauf kam nun das, woran keiner so richtig denken wollte, aber wovor sich jeder insgeheim gefürchtet hatte. Es war der 5. März, ein Montag. Wir hatten uns alle wieder zur Nachtruhe gelegt (was man damals so Ruhe nannte), alle mit offenen Augen und gespitzten Ohren. Als Licht benutzten wir Weihnachtskerzen, denn das elektrische Licht funktionierte nicht, es waren sämtliche Kabel durchgeschnitten. Wir hatten gerade dunkel gemacht, jeder ging seinen eigenen Gedanken nach, da wurde plötzlich die Tür aufge­rissen – abschließen konnten wir schon lange nicht mehr – und herein kamen zwei be­trun­kene russische Soldaten. Mit den Taschenlampen, die sie bei sich hatten, leuchteten sie jedem von uns ins Gesicht. Dann schrien sie, wir sollten Licht machen, und so mach­ten wir die Weihnachtskerzen an. Sie suchten nach jungen Mädels, haben uns rausge­zerrt. Wir waren ja stets angezogen, nur keine Schuhe hatten wir an den Füßen. So zog mich der eine Betrunkene nach draußen auf die Straße. Meine Eltern waren starr vor Schreck und Entsetzen, weil sie nichts dagegen tun konnten. Durch hohen Schnee und auf Strümpfen musste ich nun mit ihm in ein anderes Haus gehen. Hier wohnte eine Familie aus Litauen, die gut die russische Sprache beherrschte. Zwei Soldaten waren noch mit in der Wohnung. Der eine lag auf dem Fußboden am Ofen und schlief, der andere saß am Tisch, wo auch ich sitzen musste. Ich bekam ein Glas Brennspiritus vorgestellt, dies sollte ich trinken. Ich in meiner Angst holte aus und schlug ihm das Glas aus der Hand. Zum Glück wurde er nicht sofort gewalttätig sondern nur sehr zornig, dann ging er und machte sich an einem Bett zu schaffen, da sollte ich zur Strafe mit ihm schla­fen. Es dauerte aber etwas bis er das Bett fertig hatte. Inzwischen gab der andere Russe, der mit am Tisch saß, mir einen Wink, ich solle rauslaufen. Da ich direkt an der Türe saß, zögerte ich nicht lange, fasste mir ein Herz und lief weg. Gleich hinter mir hörte ich die Türe schlagen, da wusste ich sofort, dass der Russe hinter mir her war, und lief wie der Blitz durch den größten Schnee, meine Füße spürten die Kälte schon nicht mehr. Wie ich in das Haus zurückkam, in dem meine Eltern und die anderen waren, ist mir heute noch ein Rätsel. Meine Gedanken waren, nur schnell in Sicherheit. So kümmerte ich mich nicht um die vielen Russen, die inzwischen im Haus waren, und lief fast ohne Atem auf meine Mutter zu, die auf einem Sofa lag. Unter dem Federbett suchte ich Schutz. Zu meiner Mutter flüsterte ich: „Beschütze mich, wenn der kommt und mich findet, zerreißt er mich.“ Mein Herz schlug mir bis zum Halse, ich hörte dauernd Kindergeschrei und Scherben klirren.
Aber nicht lange dauerte dieser Schutz, da wurde auf einmal das Federbett hochgezogen, und in dem Moment packte mich auch schon ein Russe am Arm und zog mich auf den Tisch, wo er selbst drauf stand. Ich dachte, es wäre derselbe, dem ich fortgelaufen war, aber Gott sei’s gedankt, ich stand einem anderen gegenüber; den vorherigen habe ich nicht mehr gesehen. Dieser hier konnte ein paar Worte deutsch und fragte: „Du Angst haben?“ „Ja“, sagte ich. „Warum?“, fragte er. „Ihr seid so böse und macht uns alles kaputt.“ Darauf lachte er nur und ließ mich los. Aber es dauerte nicht lange, da glich die Wohnung, in der wir Unterschlupf gesucht hatten, einem Trümmerhaufen. Sämtliches Geschirr war aus den Schränken geholt und auf dem Fußboden zertrümmert. Die große Wanduhr war in Stücke geschlagen, der Kronleuchter wurde mit einem Gewehrkolben zerschmettert, die Splitter flogen einem acht Tage alten Säugling ins Gesicht. Diesen kleinen unschuldigen Jungen nahmen sie nun und wollten ihn an die Wand werfen. Auf das Weinen und Flehen der Mutter ließen sie es sein, dafür aber hausten sie jetzt nur noch wilder in der Wohnung, schlugen sämtliche Fensterscheiben ein, und Stühle und Kinderwagen flogen auf die Betten und in alle Ecken.
Es waren keine normalen Soldaten, es waren schwer Betrunkene, die meisten hatten Zivilkleidung an. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde unbrauchbar gemacht. Unter den Betten fanden sie nun auch noch zu unserem Unglück deutsche Militärkleidung und Munition. Jetzt war es ganz aus, die Russen sagten, wir hätten deutsche Soldaten versteckt, dabei wussten wir doch selber nicht, wie diese Sachen dahingekommen waren. Wir konnten es ihnen ja auch nicht sagen, weil wir nicht Russisch konnten. Daraufhin nahmen sie eine alte Frau von fast 70 Jahren und missbrauchten sie. Dann packten sie zwei kleine Kinder von 10 Jahren und zogen sie aus, auch diese sollten dran glauben; aber als sie sahen, dass es Jungen waren, wurden sie in eine Ecke geschubst und be­kamen Milchtöpfe an die Köpfe geworfen. Es war grauenhaft, was wir in diesen Stun­den durchmachen mussten, es schaudert mich noch heute, wenn ich daran denke. Wir waren diesen Bewaffneten hilflos ausgeliefert, und es war uns allen, als sollte es die letzte Stun­de für uns sein, denn wir fühlten uns wirklich zwischen Leben und Tod.

Prolog

Die erschütternden Erlebnisse einer jungen Frau aus Westpommern im Kriegsjahr 1945 und in den 4 Jahren danach, von ihr handschriftlich niedergeschrieben im Jahr 1950. Ein Tagebuch, das schnörkellos ihren Leidensweg beschreibt. Ein Zeitzeugnis, das durch seine authentische Sprache überzeugt. Und ein Vermächtnis an all diejenigen, die in Folge des Krieges wehrlos verschleppt, gedemütigt und entrechtet wurden und unter schwierigsten Bedingungen in Arbeitslagern mühsam ihr Leben fristen mussten. Beileibe nicht alle kamen wieder.

Herausgegeben von Martina Emes.


Als im Januar 1945 der Strom der Flüchtlinge aus Ostpreußen täglich mehr und mehr wuchs, als sie keine Unterkunft mehr fanden, da bereits alles belagert war, wussten auch wir in unserem kleinen pommerschen Dörfchen, dass es so nicht mehr lange weitergehen würde. Die Not war groß, denn der Winter war damals kalt und es lag viel Schnee. Jeden Tag kamen mehr Flüchtlinge, und die Front rückte näher. Nicht lange, da hörten wir schon die ersten Kanonenschüsse. Also war der Feind nicht mehr weit entfernt. Es war an einem Sonntag, den 25. Februar, da hörten wir aus dem Radio in den Nachrichten, dass die Russen bereits die Stadt Neustettin besetzt hatten. Da bekamen wir es mit der Angst zu tun, denn die Entfernung betrug nur noch 30 km. Am Montag, den 26. Februar nach­mittags, umringten die Russen dann auch schon die nahegelegene Stadt Bublitz. In Windes­eile waren sie angerollt, die ersten Panzer rückten in die Stadt ein.
Wir lebten in unserem Dorf 6 km weit außerhalb, konnten die Lage aber sehr gut übersehen, denn es war weit und breit nur flaches Land. So sahen wir, wie die ersten Häuser in Brand auf­gingen. Alles war in größter Aufregung, ein Flüchten gab es nicht mehr. Im Handumdreh­en hatte der Russe die ganze Umgebung abgeriegelt. Wir wohnten auf einem großen Gut und hatten zehn Russen als Kriegsgefangene dort, mit denen wir uns gut verstanden. Diese sprachen uns Mut zu und sagten, der Russe sei ein so gutmütiger und ausgegliche­ner Mensch, wir bräuchten keine Angst zu haben. Als sich die Lage dann aber verschärf­te, bekamen diese Gefangenen selber Angst vor ihren Kameraden. Sie beratschlagten gemeinsam mit uns, was am besten zu machen sei. Sie sagten unter anderem, dass Stalin gefordert hatte: Nicht in deutsche Gefangenschaft gehen, lieber sterben! In dieser Situation entschlossen sie sich, zu ihren anrückenden Kameraden zu gehen, vielleicht in der Hoffnung, in deren Reihen untertauchen zu können.
Was aus ihnen wurde, weiß niemand. Sie können uns aber nicht verraten haben, denn die ersten russischen Soldaten tauchten erst fünf Tage später, am 2. März, bei uns auf. Es waren aber harmlose Soldaten, sie sagten: „Habt keine Angst.“ Wir verstanden kein Wort, es war aber noch ein gefangener Pole da, der hat es uns übersetzt. Dann kam aber schnell alles anders. Denn kurze Zeit nach diesen Soldaten kamen andere, die bewiesen uns das Gegenteil. Mit vorgehaltenen Pistolen traten sie an uns ran, verlangten Uhren und Schnaps. Wir gaben ihnen zu verstehen, dass wir nichts hatten. Da fingen sie an zu toben, warfen sämtliche Kleider und Wäsche aus den Schränken. Immer wieder schrien sie: „Frau, wo ist Uhr?“ Wir verneinten nur, da wurden sie so böse, ein betrunkener Russe legte an und wollte meinen Vater erschießen. Ich sprang schnell vor ihn, um ihn zu schützen. Da ließ er das Gewehr runter, murmelte ein paar Worte, drehte sich um und ging weg. Wir wollten den anderen zu essen geben, auch Milch boten wir ihnen an, aber alles warfen sie uns vor die Füße.
Da sie nun keine Wertsachen bei uns fanden, gingen sie fort, und nach kurzer Zeit kamen wieder andere. Diese waren ganz hemmungslos, holten alle jungen Frauen raus und haben sie schändlich missbraucht. Ich wurde hierbei auch nicht verschont: Drei Russen standen bereit, mein Weinen und Kratzen half nichts. Die Pistole wurde mir auf die Brust gesetzt, und so erreichten zwei von ihnen mit brutaler Gewalt ihr Ziel. Inzwischen war der dritte kurz fort. So schnappte ich mir schnell meine Jacke und lief davon. Ich sah, wie der Russe mich suchte, ich hatte aber Glück und konnte ihm entkommen. Aber lange noch tobten sie in den Häusern rum. Da sammelte mein Vater, der aus dem 1. Weltkrieg ein verkrüppeltes Bein mitgebracht hatte und schwer gehbehindert war, heimlich alle Mädel im Dorf und sagte: „So geht’s nicht weiter, ich kann euch nicht schützen; ihr müsst euch verstecken, kommt alle mit in eine große Scheune.“ Da sie abgeschlossen war, machte mein Vater von außen einige Bretter los, nun krochen wir zu acht Mädels da hinein. Die Bretter wurden wieder angeschlagen, und wir saßen im Stroh. Alles war mäuschenstill, jeder hörte sein Herz schlagen. Auf einmal hörten wir Schritte um die Scheune kommen. Unsere Angst war so groß, am liebsten hätten wir laut geschrien. Aber es waren die Schritte von der Mutter eines der Mädels. Sie rief uns, wir könnten wieder kommen, die Russen hätten den Befehl erhalten, unseren Ort zu ver­lassen, denn es sollte ein Lazarett eingerichtet werden. Ich sehe heute noch die Gesichter von den abziehenden Russen, als wir alle wieder auf den Hof kamen, aber es hat uns dann niemand mehr was angetan.
Aber es war klar, hier konnten wir nicht länger bleiben. Schnell nahmen wir ein paar Sachen, nur was wir tragen konnten. Wir mussten 3 km gehen in ein anderes Dorf. Hier kamen wir in dunkler Nacht an, zum Glück sahen wir keinen Russen, waren so froh und glaubten uns in Sicherheit. Die Familien aus dem Dorf waren alle schon fort, so gingen wir zu vier bis fünf Familien in eine Wohnung zusammen. Was nicht in die Betten ging, legte sich auf den Fußboden. So ging dann die Nacht auch rum. Aber im ersten Morgengrauen kamen schon zwei russische Offiziere, einer sprach deutsch. Sie sagten uns: „Habt keine Angst, es darf euch niemand was tun. Wenn die Soldaten euch belästigen wollen, dann meldet es sofort bei der Kommandantur.“ Wir dachten, so ein Blödsinn, bis wir bei der Kommandantur angekommen wären, da würden uns sicher inzwischen wieder ein paar gefangen genommen und vergewaltigt haben.
Bald darauf kam nun das, woran keiner so richtig denken wollte, aber wovor sich jeder insgeheim gefürchtet hatte. Es war der 5. März, ein Montag. Wir hatten uns alle wieder zur Nachtruhe gelegt (was man damals so Ruhe nannte), alle mit offenen Augen und gespitzten Ohren. Als Licht benutzten wir Weihnachtskerzen, denn das elektrische Licht funktionierte nicht, es waren sämtliche Kabel durchgeschnitten. Wir hatten gerade dunkel gemacht, jeder ging seinen eigenen Gedanken nach, da wurde plötzlich die Tür aufge­rissen – abschließen konnten wir schon lange nicht mehr – und herein kamen zwei be­trun­kene russische Soldaten. Mit den Taschenlampen, die sie bei sich hatten, leuchteten sie jedem von uns ins Gesicht. Dann schrien sie, wir sollten Licht machen, und so mach­ten wir die Weihnachtskerzen an. Sie suchten nach jungen Mädels, haben uns rausge­zerrt. Wir waren ja stets angezogen, nur keine Schuhe hatten wir an den Füßen. So zog mich der eine Betrunkene nach draußen auf die Straße. Meine Eltern waren starr vor Schreck und Entsetzen, weil sie nichts dagegen tun konnten. Durch hohen Schnee und auf Strümpfen musste ich nun mit ihm in ein anderes Haus gehen. Hier wohnte eine Familie aus Litauen, die gut die russische Sprache beherrschte. Zwei Soldaten waren noch mit in der Wohnung. Der eine lag auf dem Fußboden am Ofen und schlief, der andere saß am Tisch, wo auch ich sitzen musste. Ich bekam ein Glas Brennspiritus vorgestellt, dies sollte ich trinken. Ich in meiner Angst holte aus und schlug ihm das Glas aus der Hand. Zum Glück wurde er nicht sofort gewalttätig sondern nur sehr zornig, dann ging er und machte sich an einem Bett zu schaffen, da sollte ich zur Strafe mit ihm schla­fen. Es dauerte aber etwas bis er das Bett fertig hatte. Inzwischen gab der andere Russe, der mit am Tisch saß, mir einen Wink, ich solle rauslaufen. Da ich direkt an der Türe saß, zögerte ich nicht lange, fasste mir ein Herz und lief weg. Gleich hinter mir hörte ich die Türe schlagen, da wusste ich sofort, dass der Russe hinter mir her war, und lief wie der Blitz durch den größten Schnee, meine Füße spürten die Kälte schon nicht mehr. Wie ich in das Haus zurückkam, in dem meine Eltern und die anderen waren, ist mir heute noch ein Rätsel. Meine Gedanken waren, nur schnell in Sicherheit. So kümmerte ich mich nicht um die vielen Russen, die inzwischen im Haus waren, und lief fast ohne Atem auf meine Mutter zu, die auf einem Sofa lag. Unter dem Federbett suchte ich Schutz. Zu meiner Mutter flüsterte ich: „Beschütze mich, wenn der kommt und mich findet, zerreißt er mich.“ Mein Herz schlug mir bis zum Halse, ich hörte dauernd Kindergeschrei und Scherben klirren.
Aber nicht lange dauerte dieser Schutz, da wurde auf einmal das Federbett hochgezogen, und in dem Moment packte mich auch schon ein Russe am Arm und zog mich auf den Tisch, wo er selbst drauf stand. Ich dachte, es wäre derselbe, dem ich fortgelaufen war, aber Gott sei’s gedankt, ich stand einem anderen gegenüber; den vorherigen habe ich nicht mehr gesehen. Dieser hier konnte ein paar Worte deutsch und fragte: „Du Angst haben?“ „Ja“, sagte ich. „Warum?“, fragte er. „Ihr seid so böse und macht uns alles kaputt.“ Darauf lachte er nur und ließ mich los. Aber es dauerte nicht lange, da glich die Wohnung, in der wir Unterschlupf gesucht hatten, einem Trümmerhaufen. Sämtliches Geschirr war aus den Schränken geholt und auf dem Fußboden zertrümmert. Die große Wanduhr war in Stücke geschlagen, der Kronleuchter wurde mit einem Gewehrkolben zerschmettert, die Splitter flogen einem acht Tage alten Säugling ins Gesicht. Diesen kleinen unschuldigen Jungen nahmen sie nun und wollten ihn an die Wand werfen. Auf das Weinen und Flehen der Mutter ließen sie es sein, dafür aber hausten sie jetzt nur noch wilder in der Wohnung, schlugen sämtliche Fensterscheiben ein, und Stühle und Kinderwagen flogen auf die Betten und in alle Ecken.
Es waren keine normalen Soldaten, es waren schwer Betrunkene, die meisten hatten Zivilkleidung an. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde unbrauchbar gemacht. Unter den Betten fanden sie nun auch noch zu unserem Unglück deutsche Militärkleidung und Munition. Jetzt war es ganz aus, die Russen sagten, wir hätten deutsche Soldaten versteckt, dabei wussten wir doch selber nicht, wie diese Sachen dahingekommen waren. Wir konnten es ihnen ja auch nicht sagen, weil wir nicht Russisch konnten. Daraufhin nahmen sie eine alte Frau von fast 70 Jahren und missbrauchten sie. Dann packten sie zwei kleine Kinder von 10 Jahren und zogen sie aus, auch diese sollten dran glauben; aber als sie sahen, dass es Jungen waren, wurden sie in eine Ecke geschubst und be­kamen Milchtöpfe an die Köpfe geworfen. Es war grauenhaft, was wir in diesen Stun­den durchmachen mussten, es schaudert mich noch heute, wenn ich daran denke. Wir waren diesen Bewaffneten hilflos ausgeliefert, und es war uns allen, als sollte es die letzte Stun­de für uns sein, denn wir fühlten uns wirklich zwischen Leben und Tod.

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