52 deutsche Jahre

52 deutsche Jahre

Eine preußische Familienchronik 1894–1945

Harald Walter


EUR 32,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 802
ISBN: 978-3-99146-322-1
Erscheinungsdatum: 25.09.2023
In den unsicheren Zeiten zweier Weltkriege versucht eine preußische Familie, den politischen Wirren zu trotzen und ihr Leben in sichere Bahnen zu lenken. Harald Walters Chronik zeichnet rund fünf Dekaden voller Umbrüche, Verzicht, Liebe und Hoffnung nach.
Die Kaiserreichjahre 1894–1914


1894 Deeden in Ostpreußen – ein trauriger Geburtstag

Seinen siebenten Geburtstag hatte Otto sich anders vorgestellt. Zwar hatte es zum Frühstück die heißersehnte Tasse warme Schokolade und das dick mit Butter bestrichene Marmeladenbrot gegeben. Und es waren die innig gewünschte Pelzmütze und ein paar nagelneue Winterstiefel hastig neben die dicke Kerze auf dem Küchentisch platziert worden, aber es hatte die gemütliche Runde mit den Eltern und der Magd Svetlana gefehlt, denn die Mutter Wilhelmine war sofort wieder ins Schlafzimmer verschwunden, wo Ottos Vater im Bett um sein Leben kämpfte. Svetlana wartete auf der Diele vor dem Schlafzimmer auf eventuelle Anweisungen wie frische feuchte Tücher für die fieberglühende Stirn des Großbauern oder frisches Wasser oder im Küchenherd gewärmte Ziegel. Friedrich, ihr Mann, Hausdiener und Kutscher stand ratlos neben ihr am Treppenaufgang. Großvater Johann Mohn, der Vater Wilhelmines, war seit gestern an der Seite seiner Tochter und des Schwiegersohnes. Auch der Doktor Rosenbaum aus Stallupönen war erneut gekommen, ein bärtiger gedrungener Mann mit rotem Gesicht, dessen tiefe Stimme bis in die Küche zu hören war. Sein Pferd stand noch dampfend vor dem Haus, gerade dass er mal die Zügel um eines der dünnen Bäumchen geschlungen hatte, welche die Treppe zum erkerartigen Hauseingang des hölzernen doppelstöckigen Gutshauses flankierten.
Auf dieser Treppe saß Otto jetzt, hatte seine neue Pelzmütze auf und die zerschlissene Winterjacke mit den schon zu kurzen Ärmeln, deren Ersatz sein sehnlicher Wunsch zum kommenden Weihnachtsfest war. Es war bitterkalt an diesem Donnerstag, den 15. Dezember 1894, so kalt, wie er es eigentlich von jedem Dezember in seiner ostpreußischen Heimat kannte. Über die dicke Schneedecke fegte ein schneidender Ostwind, der die Flocken hinter jedem Hindernis zu Bergen türmte. Otto hatte schon mitbekommen, dass sich Mutter, Großvater und Svetlana seit Tagen große Sorgen machten.
Am letzten Sonntagmittag nach der Mahlzeit war der Vater, wie jeden Sonntag, mit dem Schlitteneinspänner im dichten Schneegestöber ins nahe Stallupönen zum Frühschoppen aufgebrochen, aber nicht wie üblich zum Abendbrot zurückgekehrt. Auch das war schon öfter passiert und so warteten Otto und seine Mutter zunächst geduldig am gedeckten Tisch. Als dann aber der Stallmeister Arthur Adworeit aufgeregt in die Küche stürzte mit den Worten: „Der Schlitten ist zurück, ohne den gnädigen Herrn!“, da war die Aufregung groß gewesen. Eigentlich waren die fünf Straßenkilometer nach Stallupönen schnurgerade und die Landstraße führte dann weiter über Insterburg bis nach Königsberg, doch gelegentlich nahm Ottos Vater nicht die Straße, sondern den unbefestigten Weg neben der 400 Meter entfernten Eisenbahnstrecke, auf welcher der Bahnfernverkehr von Berlin über Königsberg ins nahe russische Reich führte. Im Schneegestöber dieser Tage war der Bahndamm oft ein besserer Wegweiser als die mit hohen Schneewehen verschneite Landstraße. Und es schneite unaufhörlich weiter, längst war es stockdunkel und der eisige Wind ließ die Flocken tanzen.
Ottos Mutter war eine dreißigjährige stämmige Frau, deren breite Wangenknochen und das kräftige Kinn die slawische Abstammung verrieten. Sie zögerte keine Minute, sondern gab die Order aus, dass Friedrich und Arthur mit dem Pferdeschlitten den Weg absuchen sollten.
„Er wird den Weg am Bahndamm genommen haben. Das Pferd kennt ihn auch am besten“, sagte sie in festem Ton.
Beide zogen ihre dicken Winterpelze und Kappen an, schlüpften in die festen Stiefel und schnallten Schneeschuhe an. Arthur entfachte eine Petroleumsturmlampe, während Friedrich den Pferdeschlitten wendete und das Pferd beim Zügel nahm. Dann stampften beide in Richtung Bahndamm. An einigen Stellen konnten sie noch Spuren des Schlittens erkennen, sodass sie in ihrer Annahme richtiglagen, dass der Großbauer Georg Waischwillat den Rückweg entlang der Schienen gewählt haben musste. Das flackernde Licht der Petroleumfunzel bot nur wenig Sicht und immer wieder waren hüfthohe Schneewehen zu durchqueren. Sie kamen nur sehr langsam voran.
„Mannchen, mannchen!“, brummte Arthur dauernd vor sich hin, sodass Friedrich ihn schließlich anfuhr, er möge doch seine Klappe halten, sonst drohe die Zunge einzufrieren. Für die paar hundert Meter bis zum Bahndamm brauchten sie fast zwanzig Minuten. Als sie ihn erreicht hatten, konnten sie in Richtung Westen abbiegen und besser vorankommen. Der harte Nordostwind hatte die nördliche Seite des Bahndammes leergefegt und auf der südlichen hohe Schneewehen aufgetürmt. Nur im Windschatten von gelegentlichem Buschwerk mussten sie sich doch wieder mühselig vorankämpfen. Sie erreichten die Stelle, wo der Bahndamm durch einen der Zuflüsse des Flüsschen Trübe unterquert wird, welches sich in eisfreien Zeiten nach Norden schlängelt. Hier fiel der Begleitweg normalerweise zum Bach steil ab, doch die Senke war jetzt komplett mit Schnee gefüllt, nur andeutungsweise waren die Spuren des Schlittens von der Rückfahrt noch zu erkennen. Doch an einer Stelle am anderen Ufer ragte die Pelzmütze von Georg Waischwillat aus der Schneemasse! Vermutlich war der stark angetrunkene Großbauer beim Hinuntergleiten des Schlittens in die Senke vom Kutschbock gefallen. Friedrich hielt das Pferd an, während Arthur sich schon durch den Schnee über dem gefrorenen Bachlauf wühlte und anfing, seinen Brotgeber mit ständigem Mannchen, Mannchen freizuschaufeln.
Das bärtige Gesicht des Großbauern war von einer Eisschicht bedeckt, die feuchte Atemluft hatte sich bei den Temperaturen um die minus 30 Grad sofort kristallisiert. Er röchelte, blieb aber sonst völlig bewegungslos. Beide Retter hofften nur, dass sein dicker Fellmantel, die festen Handschuhe und die Fellstiefel ihn vor den schlimmsten Erfrierungen hatten schützen können. Mit vereinten Kräften zogen sie den regungslosen Mann auf die andere Seite des Bachlaufes und hievten ihn auf die niedrige Ladefläche des Schlittens. Dann wendeten sie und stapften, das Pferd am Zügel, den Weg, den sie gekommen waren und der schon wieder jungfräulich mit Schnee bedeckt war, zum Gutshof zurück.
Dort hatte Wilhelmine schon alles vorbereitet. Das Bett gewärmt und frisches Nachtzeug bereitgelegt. Svetlana, die auch die Aufgaben der Köchin innehatte, stellte heißen Kräutertee mit einem ordentlichen Schuss Branntwein bereit.
Der Großbauer war stämmig und muskulös, aber kein Hüne. So schafften die beiden Männer es, ihn die Holztreppe hinauf in den ersten Stock ins Schlafzimmer zu tragen und auf die Bettkante zu setzen, wo Wilhelmine und Svetlana ihn von den steifgefrorenen Kleidungsstücken befreiten und ins Bett wuchteten. Sie rieben seine Hände und Füße und schlugen sie dann in warme Tücher ein. Offensichtlich hatte der Alkohol die Durchblutung der Gliedmaßen noch aufrechterhalten. Die große Gefahr der Betrunkenen war jedoch, dass sie insgesamt schneller auskühlten. Der Versuch, ihm warmen Tee einzuflößen, schlug erstmal fehl, also deckten sie ihn bis unter die Kinnspitze zu und beschwerten die Decke mit in Tücher gehüllten warmen Ziegeln. All das ließ der Großbauer mit sich geschehen und außer einem gelegentlichen Röcheln, bei dem er eine kräftige Alkoholfahne ausblies, die man hätte anzünden können, gab er keine Regung von sich.
Der Sonntagsschoppen mit seinen Freunden aus den Nachbarhöfen und Dörfern muss diesmal besonders intensiv gewesen sein. Wahrscheinlich hatten sie ausgiebig über Politik diskutiert. Hatte Kaiser Wilhelm II. doch gerade Ende Oktober mit dem 75-jährigen Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst einen neuen Reichkanzler eingesetzt, dessen Kompetenz, dem Kaiser auch die Meinung zu sagen, stark angezweifelt wurde. Und gerade vor zehn Tagen hatte der Kaiser mit viel Pomp den neuen Reichstag in Berlin eingeweiht. Das Bauwerk soll mehr als 20 Millionen Reichsmark gekostet haben. Weitere ortspolitische Themen gab es zudem genug und jedes war immer mit einem Gläschen Branntwein und Starkbier gespült worden.
Wilhelmine verbrachte die weitere Nacht zum Montag am Bett ihres Mannes. Auch Svetlana bekam keine Nachtruhe, denn sie musste die abgekühlten Ziegel austauschen und alle paar Stunden für frischen heißen Tee sorgen, als der Großbauer sich dann endlich aufrichten ließ.
Am Morgen schien es, als würde er sich erholen und, wie all die vielen Räusche zuvor, auch diesen gut verkraften. Doch als er dann den Versuch machte, sich aus dem Bett zu erheben, brach ihm der kalte Schweiß aus, die Luft blieb ihm weg und er sank schlaff auf die Kissen zurück.
Wilhelmine, die auf dem Stuhl neben dem Bett eingenickt war, schreckte hoch. „Um Gottes Willen, Georg! Bleib liegen! Deck dich zu. Ich schicke Friedrich nach Dr. Rosenbaum!“ Verschlafen stolperte sie die Treppe hinunter und rief den Knecht und Kutscher, der mit seiner Frau Svetlana im Souterrain seine Kammer hatte.
„Friedrich! Nimm dir ein Pferd und hole Dr. Rosenbaum! Schnell. Beeile dich!“
Friedrich schlüpfte in die Felljacke, stülpte sich die Kappe über, stieg in die schweren Reitstiefel und verließ polternd das Haus. Er holte sich aus dem Stall eines der schweren Reitpferde, sattelte es auf und galoppierte, soweit es die Schneedecke zuließ, ins vier Kilometer entfernte Stallupönen. Der jüdische Arzt Dr. Rosenbaum, der ein guter Freund des Großbauern war, saß gerade beim Frühstück, stürzte die Tasse Kaffee hinunter, biss noch einmal von der Käsestulle ab, packte seine schwere Arzttasche und sattelte sein Pferd. Dick vermummt folgte er Friedrich den Weg zurück nach Deeden.
Er fand seinen Duzfreund in einem beängstigenden Zustand vor. Kurzatmig röchelnd und Schleim hustend, mit Schweißperlen auf der Stirn lag der Herr des Hauses wie ein Häufchen Elend im Bett. Dr. Rosenbaum handelte schnell, horchte mit dem Stethoskop, klopfte Brustkorb und Rücken ab, prüfte die schlaffen Reflexe und maß den erhöhten Puls und das hohe Fieber. Seine Anordnungen setzten die Frauen sofort um. Heißer Kartoffelbrei im Leinensack auf die Brust, kühle Kompressen für die Stirn und Waden und eine Schale mit heißem Eukalyptuswasser, deren Dampf ihm zugefächelt werden sollte. Mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, machte er sich auf den Weg zu weiteren Hausbesuchen. Ein anstrengendes Unterfangen bei diesen arktischen Temperaturen.
Georgs Zustand wurde auch im Laufe des Tages nicht besser. Unermüdlich wechselten die beiden Frauen heiße und kühle Anwendungen und flößten ihm Pfefferminztee mit Thymian und Honig ein. Am Abend des Montags fiel der Hausherr in einen tiefen Schlaf, der immer wieder von Hustenattacken und Schnarchen unterbrochen wurde. So lief es auch am folgenden Dienstag und Mittwoch ab.
Dr. Rosenbaum verabreichte noch mehrmals Tropfen, die er in Nase und Mund träufelte. Er nahm Wilhelmine zur Seite. „Es ist eine Lungenentzündung mit starkem Katarrh, aber Georg ist ein kräftiger Bursche. Er muss da durch, er wird es schaffen!“
Auch am heutigen Donnerstag war sein Zustand nicht besser, er hatte sogar in der Nacht laut fantasiert, immer wieder durchbrochen von schnarrendem Husten und Röcheln.
So kam es, dass Ottos Geburtstag ganz nebensächlich behandelt wurde und er sich fröstelnd auf die Treppe des Herrenhauses zurückgezogen hatte. Mit seinen sieben Jahren hatte er schon die Tode seiner väterlichen Großeltern miterlebt. Man hatte ihn zwar nicht ans Sterbebett gelassen, damit er sich verabschieden konnte, aber als sie in der Diele des Hauses aufgebahrt waren, hatte er sie noch mal sehen können. Seine Großeltern waren sehr alt gewesen und schon lange vorher krank, sie hatten nur noch selten ihr Altenteil am Ende des Haupthauses verlassen. Jetzt hatte er nur noch die Großeltern mütterlicherseits, Johann und Wilhelmina Mohn, Wirtsleute im fünfundzwanzig Kilometer entfernten Pöwgallen.
Otto schaute versonnen in die weniger werdenden Schneeflocken, da kam Svetlana zu Tür heraus, setzte sich neben ihn und schlang das dicke Wolltuch, welches sie über der Schulter trug, auch um seinen Rücken. Otto lehnte sich mit dem Kopf an die linke ihrer kräftigen Brüste. Die übten, seit er sich entsinnen konnte, eine starke Faszination auf ihn aus.
Svetlana war die prägende Frauenfigur in seinem jungen Leben, mehr als seine eigene Mutter. Sie war vor einem Jahrzehnt im Alter von zwölf mit einer Truppe Muschiks, russisch-litauische Erntehelfer, über die nahe Grenze gekommen, um wie jedes Jahr zunächst bei der Saat und später bei der Ernte auszuhelfen. Das war notwendig geworden, weil viele Landarbeiter, aber auch zweitgeborene Bauernsöhne in die Industriegebiete nach Schlesien und Sachsen gelockt wurden, was ihnen die Namen „Sachsengänger“ eingebracht hatte. Svetlana war für ihr Alter schon sehr gut entwickelt gewesen und hatte sofort das Interesse des zu der Zeit pubertierenden Friedrich geweckt. Zwei Jahre später hatte der Siebzehnjährige sie im Frühjahr hinter einem Heuschober geschwängert. Der erboste Großbauer verlangte von Friedrich, das Mädchen zu heiraten. Im selben Jahr war auch Wilhelmine schwanger mit Otto gewesen. Das Schicksal wollte es, dass die jetzt Fünfzehnjährige ihr Kind im November 1887 im siebenten Monat verlor und kurz darauf ihre Herrin von einem gesunden Knaben entbunden wurde. Svetlana übernahm das Stillen und Versorgen des kleinen Otto und kam so über den größten Schmerz ihres eigenen Verlustes hinweg, während ihre Herrin sich wieder ihren ordnenden Geschäften des Waischwillathofes zuwenden konnte. Der Stillakt entwickelte sich bei Svetlana zu einem suchtartigen Prozess. Wenn beim ersten Saugreflex des kleinen Otto in beiden Brüsten die Milch einschoss, durchströmten ihren ganzen Körper Wellen der Wollust. Ihr Ehemann Friedrich wusste dies im zärtlichen Miterleben zu genießen.
Über zwei Jahre stillte Svetlana ihr Ersatzkind und wurde dafür besser mit Essen versorgt als die anderen Bediensteten. Später las sie Otto Geschichten vor, sang russische und deutsche Lieder und brachte ihm früh die russische Sprache bei. So war auch Lana sein erstes Wort noch bevor er Mama sagte. Die Magd Svetlana besaß ein anderes Wesen als Ottos Mutter, die zurückhaltende kühle Hausherrin, die mit unbeweglichem Gesicht und knappen Worten kommunizierte und selten ein Gefühl durchblicken ließ, auch nicht ihrem kleinen Sohn gegenüber. Svetlana hingegen konnte ihre Gefühle nicht verbergen, alles war in ihrem Gesicht und an ihrer Körperhaltung abzulesen, Freude und Trauer, Erstaunen und Mitgefühl. Otto konnte sich noch an die Zeiten erinnern, in denen er auf ihrem Schoß saß und seine Nase zwischen ihre prallen Brüste presste oder sie ihn bei anderen Aufgaben rittlings auf ihrer breiten Hüfte durch die Gegend trug, was schon damals ein irritierendes, schönes Gefühl in ihm ausgelöst hatte. Auch liebte er Svetlana dafür, dass sie zwischendurch in der Küche immer eine kleine Köstlichkeit für ihn bereithielt. Otto hatte bisher eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Das hatte er auch seinem Vater zu verdanken, der ganz anders als seine Mutter war, und mit ihm spielte und angeln ging, wenn er Zeit hatte.
„Muss Papa sterben?“, fragte er ängstlich.
„Dein Vater ist ein kräftiger und tüchtiger Mann. Er wird vor einer Lungenentzündung nicht kapitulieren“, antwortete Svetlana und strich ihm sanft über die Wange. Im Stillen war sie sich der Sache aber nicht mehr sicher, weil der Großbauer immer schwächer geworden war und kaum noch Luft bekommen hatte, als sie das letzte Mal einen Blick ins Zimmer werfen konnte. Wilhelmine hatte mit unbewegtem Gesicht seine Hand gehalten, Johann Mohn, ihr Vater, hilflos die Arme seiner Tochter gestreichelt und der Doktor immer wieder mit dem hölzernen Stethoskop nach den rasselnden Atemgeräuschen gehorcht. Die feuchte Luft im Zimmer hatte nach Eukalyptus, Minze und Schweiß gerochen.
„Du solltest jetzt aber wieder in die Küche gehen, sonst holst du dir auch noch die Erkältung“, sagte sie und stand auf. „Ich mach dir noch eine Schokolade.“
Wortlos stand Otto auf und folgte ihr durch Windfang und Diele in die Küche, die durch den vielfach genutzten Herd wohlig warm war. Svetlana goss aus einer Kanne Milch in einen Stieltopf, gab zwei Löffel Kakaopulver und einen ordentlichen Löffel Honig hinzu und setzte den Topf auf die Ofenplatte, wo er sich knisternd erwärmte. Dann füllte sie den dampfenden Kakao in Ottos Keramikbecher. Otto wärmte seine klammen Finger daran und schlürfte vorsichtig den geliebten Trank.
So vergingen die Stunden seines Geburtstages. Immer wieder wurde Svetlana gerufen, musste dieses oder jenes besorgen, frische Wäsche, warmes oder kaltes Wasser oder einen Kräutertee für die erschöpften Helfer. Auch musste sie die besorgten Angestellten des Großbauern beschwichtigen, die immer wieder an die Tür klopften und sich nach dem Zustand ihres Dienstherrn erkundigten.

***

Der Hof Georg Waischwillats gehörte zu den größeren ihrer Art mit seinen 105 Hektar Grund und Boden und sieben gemeldeten Feuerstellen. Da gab es drei Familien, sogenannte Instmann-Familien, dazu Arthur Adworeit, der Stallmeister mit Frau und zwei Töchtern, der Melkermeister Adolf Wauszkies und schließlich Kutscher und Dienstmann Friedrich Memel mit Frau Svetlana. Anders als auf den großen adligen Gütern, die oft mehr als hundert Angestellte mit den verschiedensten Fertigkeiten hatten, arbeiteten auf dem Waischwillatschen Hof mehrere Bedienstete in Personalunion. So verrichteten die Instleute vorwiegend im Winter handwerkliche Aufgaben, ihre Frauen machten die Gartenarbeit, betreuten das Gefieder und halfen mit, die Kühe zu melken.
Die Böden am nördlichen Rand der Rominter Heide in der Pissa-Niederung waren nur zum Teil für Roggen- oder Kartoffelanbau geeignet. Deren Ertrag reichte oft nicht für viel mehr als den Eigenbedarf, deshalb hatte Georg sich auf Milchviehwirtschaft spezialisiert und darin auch schon bescheidene Erfolge in der Zucht gehabt und Tiere auf dem Markt in Insterburg verkaufen können. Begründet worden war das durch seinen Vater Michael Waischwillat, der eine ordentliche Abfindung bekommen hatte, als sein Anwesen in den fünfziger Jahren durch den Bau der Bahnlinie Königsberg – Eydtkuhnen durchschnitten worden war.
Alle Angestelltenfamilien hatten freie Wohnungen in den zwei großen Gebäuden, die rechteckig das Haupthaus flankierten, in denen sich auch die Stallungen der Tiere befanden. Jeder Angestellte durfte sich ein Schwein halten, dazu Hühner und Gänse, und erhielt feste Rationen Getreide, Kartoffeln, Brennholz und Reisig und hatte jeweils eine kleine Parzelle, in welcher er Gemüse und Obst anbauen durfte, wovon aber bei Bedarf dem Dienstherrn etwas abgegeben werden musste. Da ihr Barlohn nur um die 20 Mark monatlich betrug, verschafften die Angestellten sich zusätzlichen Verdienst durch den Verkauf von Eiern, Milch, Butter, Geflügel und Speck. Das System war ein familiäres Miteinander, voller Respekt gegenüber dem Großbauern. Auf dem Hof herrschte keinerlei adlig-elitäres Gutsgehabe.
Neben 60 Milchkühen, von denen jede schon damals eine jährliche Milchleistung von über 3500 Kilogramm brachte, gab es sechs Zugochsen und zehn Kaltblutpferde, die entweder geritten oder vor Kutsche und Schlitten gespannt wurden. Sie waren genügsamer und stabiler als die berühmten Warmblüter aus dem nahen Trakehnen, die weit über die Grenzen Ostpreußens hinaus schon berühmt waren.
Unabkömmlich waren zudem die vier Hofhunde, alles Mischlinge, welche die Geflügelgehege vor Füchsen und Wölfen bewachten und eine unbekannte Zahl von Katzen, die den Mausbefall der Wohnungen und Ställe im Lot hielten.
Friedrich und Svetlana hatten durch ihre Stellung und Wohnung im Haupthaus den Respekt aller anderen Angestellten und so konnte Svetlana die besorgten Leute immer wieder beruhigen und abwimmeln.

***
4 Sterne
52 Deutsche Jahre - 25.02.2024
Marita Kellner

Interessant

4 Sterne
52 Deutsche Jahre - 25.02.2024
Marita Kellner

Interessant

4 Sterne
52 Deutsche Jahre - 25.02.2024
Marita Kellner

Interessant

5 Sterne
Sehr Interessant  - 25.02.2024
Anton

Das Buch ist sehr Interessant und schön geschrieben

5 Sterne
Ein tolles Buch  - 25.02.2024
Emma Höppner

Tolles Buch, kann man nur weiterempfehlen

5 Sterne
52 deutsche Jahre - 24.02.2024
Bärbel Walter

Sehr informative da gut recherchiert. Eine großartig erzählte Familienchronik aus den dunkelsten Jahren unseres Landes. Sehr empfehlenswert.

5 Sterne
52 deutsche Jahre - 11.02.2024

Dieses Buch habe ich so schnell gelesen wie lange keins. Es war hoch interessant, ein geschichtlicher Auffrischungslehrgang,. Es fesselte durch eine stark empfundene Anteilnahme am Schicksal der beschriebenen Personen. Häufig stellt sich die Frage, wie Menschen diese vielfälltigen Belastungen und Schicksalsschläge ertragen konnten.. Man leidet mit. Die Schreibweise ist gut verständlich, nicht kompliziert. Leider war es dann auch mal beendet. Das Buch hat mich sehr beeindruckt, ich kann es uneingeschränkt weiter empfehlen.Es sind aber viele Seiten und etwas Gewicht hat es auch.

5 Sterne
52 Deutsche Jahre - 15.01.2024
Paul Conradi

Dieses Buch verdient eine Bewertung von fünf Sternen aufgrund seiner beeindruckenden sprachlichen Gestaltung und der fesselnden Erzählweise. Der Autor versteht es, Emotionen subtil zu vermitteln, und schafft eine mitreißende Leseerfahrung. Die Qualität der schriftstellerischen Arbeit macht dieses Buch zu einer empfehlenswerten und unvergesslichen Erfahrung.

5 Sterne
"52 deutsche Jahre" von Harald Walter - 14.01.2024
Hubertus Gillmeister

Die Zeit von 1894 bis 1945 war geprägt von politischen Umbrüchen, sozialen Veränderungen, wirtschaftlichen Herausforderungen und den tragischen Auswirkungen zweier Weltkriege. Die bewegte Familiengeschichte während dieser Ära bietet eine faszinierende Perspektive, um das Leben und die Herausforderungen der Menschen in diesem Zeitraum zu verstehen.Das Buch beschreibt eine äußerst tumultartige und transformative Periode in der deutschen Geschichte sowie in der Weltgeschichte insgesamt. Durch die persönliche Nähe wird man schnell Teil der Geschichte. Der Autor Harald Walter versteht es sehr gut, den Leser auf eine spannende Reise mitzunehmen. Ein dickes Buch, das lebendig, informativ und sich sehr flüssig lesen lässt. So wünscht man sich erkenntnisreiche Geschichte.

5 Sterne
52 deutsche Jahre - 14.01.2024
Detlev Walter

Ein Buch, das man nicht so schnell wieder aus der Hand legt , gut recherchiert . Eine eindrucksvolle Schilderung der damaligen Zeit.

5 Sterne
Das Leben am Rande der Zeit - 18.12.2023
Paweł Brudek (Warschau, Polen)

Harald Walters Buch „52 deutsche Jahre. Eine preußische Familienchronik 1894-1945" widmet sich sowohl dem Leben einer einfachen preußischen Beamtenfamilie als auch der turbulenten, dramatischen Realität Europas vom späten 19. bis zum Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Thema ist die Biografie von Otto Waischwillat, einem im Deutschen Reich geborenen preußischen Untertan und Großvater des Autors, der trotz aller Umbrüche und Veränderungen versuchte, seinen Lebensstil nach den Regeln der damaligen Zeit(en) zu führen. Ein nicht minder wichtiger Protagonist des Buches ist seine unmittelbare Familie, vor allem deren jüngere Generationen, die schließlich auch die Wirren jener Zeit miterlebten, in deren Folge sich die Welt nach einer in der Menschheitsgeschichte bis dahin unbekannten Katastrophe völlig und unwiderruflich veränderte. Hinter diesem komplexen Buch verbirgt sich also der bewundernswerte Ehrgeiz, die Geschichte dieser Welt zu erzählen, während sie gleichzeitig aus vielen Schichten aufgebaut ist. Es enthält auch sehr interessante Informationen aus der Sicht des polnischen Lesers. Otto Waischwillat kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Ostfront (u. a. in Krasnystaw und Brest) und wurde sowohl von Deutschland als auch von Österreich-Ungarn mit hohen militärischen Orden ausgezeichnet. Eine viel wichtigere Rolle spielte er während des Zweiten Weltkriegs, als er im Auftrag der Wehrmacht (als Mitarbeiter des Wehrkreisamtes) nach Warschau kam, um im Amt für Ernährung und Landwirtschaft im Kreishauptmann Warschau-Land zu arbeiten. Archivmaterial über die Tätigkeit der deutschen Besatzungsverwaltung des Kreises Warschau wird im Archiv der Stadt Warschau aufbewahrt und stellt eine wertvolle, wenn auch einseitige Quelle für die Geschichte des Alltagslebens in Warschau unter deutscher Besatzung dar. Harald Walters Buch bietet hier die einmalige Gelegenheit, das Leben und Wirken eines konkreten Vertreters des Dritten Reiches in dieser Funktion zu beleuchten. Otto Waischwillat war sowohl als Militär- als auch als Zivilbeamter tätig, als am 1. August 1944 der Warschauer Aufstand ausbrach: Er wurde als "Zivildeutscher" von Soldaten der Heimatarmee in der Warschauer Innenstadt gefangen genommen und blieb bis zum Ende des Aufstands in Internierung. Laut einer in den 1960er Jahren veröffentlichten Dokumentation über die Kapitulation des Aufstandes stand Otto Waischwillat, der von den aufständischen Behörden gut behandelt wurde, auf der Liste der deutschen Kriegsgefangenen, die von den Aufständischen nach Beendigung der Kämpfe an die deutsche Seite übergeben wurden. Leider war dies nicht das Ende seiner Kriegserlebnisse, das sich auf polnischem Boden abspielte und bei dem die sowjetischen Behörden eine fatale Rolle spielten. Hervorzuheben ist hier das Bild Polens und der Polen in Waischwillats Augen, das der Besatzungsbeamte frei von Verachtung und Hass zu sehen vermochte und das ihn von den zahlreichen nach "Osten" gerichteten Funktionären Nazideutschlands jener Zeit unterschied. Seine persönliche Geschichte und seine Wahrnehmung des Krieges von Warschau aus sind angesichts der besonderen Situation dieser Stadt, die weit von den Kriegsfronten entfernt lag, aber eine eigene ideologische "Front" im Kampf III Reichs gegen das "Polentum" darstellte, bemerkenswert. Dies ist ein weiterer Grund, zu diesem interessanten Buch zu greifen.Książka Haralda Waltera „52 deutsche Jahre. Eine preussische Familienchronik 1894-1945” poświęcona jest zarówno życiu zwyczajnej, pruskiej rodziny urzędniczej, jak i burzliwej, dramatycznej rzeczywistości Europy od końca XIX wieku do schyłku I połowy wieku XX. Jej tematem jest życiorys Otto Waischwillata, urodzonego w cesarstwie niemieckim poddanego pruskiego i dziadka autora, który próbował zachować swój styl życia zgodnego z zasadami tamtej epoki (epok ?) pomimo wstrząsów i zmian. Nie mniej ważnym bohaterem książki jest jego najbliższa rodzina, a szczególnie jej młodsze pokolenia, które przecież także doświadczały zawirowań tamtych czasów, w wyniku których świat zmienił się całkowicie i bezpowrotnie. Ta skomplikowana książka kryje więc podziwu godną ambicję opowiedzenia o tamtym świecie, zarazem zbudowana jest z wielu warstw. Zawiera również bardzo ciekawe informacje z perspektywy czytelnika polskiego. Otto Waischwillat podczas I wojny światowej walczył na froncie wschodnim (między innymi pod Krasnymstawem i Brześciem), był odznaczony wysokimi orderami wojskowymi zarówno niemieckimi, jak i austro-węgierskimi. Znacznie istotniejszą rolę pełnił podczas II wojny światowej, kiedy z ramienia Wehrmachtu (jako pracownik Biura Okręgu Wojskowego) przybył do Warszawy, by tu pracować w Urzędzie do spraw Wyżywienia i Rolnictwa w Urzędzie Starosty Powiatu Warszawskiego (Amt für Ernährung und Landwirtschaft im Kreishauptmann Warschau-Land). Materiały archiwalne dotyczące działalności niemieckiej administracji okupacyjnej powiatu warszawskiego znajdują się w Archiwum miasta stołecznego Warszawy, jako cenne, choć jednostronne źródło do historii życia codziennego Warszawy pod okupacją niemiecką. Książka Haralda Waltera daje tu niepowtarzalną możliwość przyjrzenia się zaś życiu i pracy konkretnego człowieka, reprezentującego na tym stanowisku III rzeszę. Otto Waischwillat jako urzędnik wojskowy i zarazem cywilny kontynuował swoją pracę, gdy w Warszawie wybuchło Powstanie 1 sierpnia 1944 r. Został wzięty do niewoli w śródmieściu Warszawy przez żołnierzy Armii Krajowej jako „cywilny Niemiec”; w internowaniu pozostawał do końca Powstania. Według opublikowanej w latach 1960-tych dokumentacji dotyczącej kapitulacji Powstania, Otto Waischwillat, dobrze traktowany przez powstańcze władze, znalazł się na liście niemieckich jeńców, przekazanych przez Powstańców stronie niemieckiej po zakończonych walkach. Niestety nie był to koniec jego wojennych perypetii, które rozegrały się na ziemiach polskich, a w których fatalną rolę odegrały władze sowieckie. Obraz Polski i Polaków w oczach Waischwillata jest tutaj godny podkreślenia; urzędnik okupacyjny potrafił patrzeć w sposób wolny od pogardy i nienawiści, co odróżniało go od licznych funkcjonariuszy nazistowskich Niemiec, kierowanych wówczas na „Wschód”. Jego osobista historia i samo postrzeganie wojny z Warszawy, mając na względzie specyficzną sytuację tego miasta, leżącego daleko od frontów wojny, ale stanowiącego oddzielny ideologiczny „front” walki hitlerowskich Niemiec z „Polskością”, są tutaj godne uwagi. To kolejny powód, by sięgnąć po tą interesującą książkę.

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