Freispruch für Stella Goldschlag

Freispruch für Stella Goldschlag

Karl Alich


EUR 24,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 228
ISBN: 978-3-99130-204-9
Erscheinungsdatum: 28.11.2022
Stella Goldschlag verriet als „Greiferin“ Juden an die Gestapo und war damit für deren Deportation nach Auschwitz mitverantwortlich. Das Buch gibt die Antwort auf die Frage: Was hat Stella Goldschlag zu diesem schrecklichen Verrat an den Juden getrieben?
XXX.
Praxis Dr. Burger

Stellas Anwalt hatte ihr die Anschrift und den Termin bei der Sachverständigen, Frau Dr. Burger, mitgeteilt. Pünktlich um kurz vor neun stand Stella vor dem Haus in der Konstanzer Straße 5. Sie war wieder in der Gegend, in der sie ihre Jugend verbracht hatte und in der sie auf die Jagd nach untergetauchten Juden gegangen war.
Sie drückte die Klingel neben dem Schild „Dr. Burger, Psychiaterin“. Es ertönte ein Summen und eine Stimme sagte: „Ich hole Sie mit dem Fahrstuhl ab, bitte einen Augenblick im Parterre warten.“
Stella betrat ein herrschaftliches Treppenhaus. Auch sie hatte in ihrer Kindheit in einem solchen Haus mit Teppichen im Treppenhaus, vielen Spiegeln und Wandmalereien gewohnt. Nach der Inflation hatten ihre Eltern sich nicht mehr die große Wohnung leisten können und waren in die Xantener Straße 2 gezogen, in eine kleine Wohnung im Hinterhaus.
Stella betrachtete sich im Spiegel. Mit ihren 50 Jahren konnte sie sich noch sehen lassen. Sie fand, dass sie eine gepflegte, attraktive Erscheinung sei. Ein klickendes Geräusch, der Fahrstuhl war im Par­terre angekommen. Frau Dr. Burger empfing Stella in einem weit geschnittenen Kleid, ihr Dekolleté verbarg sich hinter einem Seidentuch. Stella hatte, wie zu allen offiziellen Anlässen, ein eng anliegendes Kostüm an, in welchem sie sich gefiel und von dem sie annahm, dass sie auch allen anderen gefallen würde. „Guten Tag, Frau Schellenberg, schön, dass Sie da sind, ich bin Helga Burger, für Sie ohne den Doktor.“
„Guten Tag, Frau Dr. Burger, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Bitte nennen Sie mich Gärtner, ich heirate in den nächsten Tagen Karl Gärtner.“ Es war keine unterkühlte, aber auch keine warmherzige Begrüßung zwischen den beiden Frauen. Die eine dachte, das ist die Frau, die 31 Juden an die Gestapo verraten hat. Wie viele Gesichter hat diese Frau? Die andere dachte, das ist die Frau, die mir ein Loch in den Bauch fragen wird.
Der Fahrstuhl kam in der zweiten Etage an. Frau Dr. Burger drückte den Türöffner und die beiden Frauen verließen den Fahrstuhl. Frau Dr. Burger sagte „Bitte nach links!“ und schloss eine große Flügeltür auf, die den Blick frei machte auf eine großzügige Altbauwohnung. Aus dem hinteren Bereich des Flurs kam ein pechschwarzer Kater, der langsam auf Stella zuging. Er rieb seinen Rücken an Stellas Schienbein und schnurrte leise.
Frau Dr. Burger sagte: „Carlo mag Sie, das ist ein gutes Zeichen, ein sehr gutes Zeichen.“
Stella dachte sich, das kann ja lustig werden, wenn der Kater mitreden kann. Für eine Hexe ist sie aber zu jung und zu hübsch.
„Frau Gärtner, was möchten Sie, Tee oder Kaffee?“
„Wenn ich einen Kaffee bekommen könnte, schwarz, das wäre schön.“
„Kaffee kommt gleich, ich bevorzuge Tee.“
„Bitte nehmen Sie dort drüben auf dem Sessel Platz.“ Frau Dr. Burger brachte Stella den Kaffee und stellte eine Schale mit Keksen daneben. Gegenüber stellte sie die Schale mit dem Tee auf den Tisch. „Muss 4 Minuten ziehen, 3 Minuten braucht er noch. Wissen Sie, Frau Gärtner, ich habe Psychologie studiert, um mehr von mir und den anderen Menschen zu erfahren. Ich habe mehr Fragen als Antworten gefunden. Wissen Sie, viele Menschen halten es mit Konfuzius, ‚selig sind die, die nicht wissen, dass sie nicht wissen, was sie nicht wissen‘. Mit dieser Weisheit ist jedoch niemandem geholfen. Ich kann Ihnen sagen, dass ich meine Doktorarbeit zum Thema Täter-Opfer-Beziehung geschrieben habe, mit Auszeichnung geschrieben habe. Ich kann also von mir behaupten, dass ich eine internatio­nal anerkannte Kapazität auf diesem Gebiet bin. Bei diesem Thema kommt derzeit niemand an mir vorbei. Ich will Ihnen ganz offen sagen, mein Gutachten hat für Sie persönlich erhebliche Auswirkungen. Ich habe die Anklageschrift und die Prozessakten aus dem Jahr 1957 gelesen. Ich bin weder Richter noch Staatsanwalt, noch Verteidiger.“
Stella nickte und nahm einen Schluck von dem Kaffee.
„Vom Gericht habe ich den Hinweis erhalten, dass bei Straftaten, durch die höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Personen verletzt wurden, jede einzelne Tat einzeln beurteilt werden muss.“
Stella gefiel die ruhige Art von Frau Dr. Burger und die Tatsache, dass sie nicht gleich mit bohrenden Fragen und ständigem Blick auf die Uhr anfing. Sie wollte, dass ihr jemand zuhört, wirklich zuhört und sie nicht sogleich der Kategorie Mörderin zuordnet. Sie fragte Frau Dr. Burger: „Halten Sie mich für eine Mörderin?“ Sofort antwortete die Gefragte: „Nein, auf keinen Fall! Für mich ist auch Magda Goebbels, die ihre sechs Kinder umgebracht hat, keine Mörderin. Diese Frau war nicht verantwortlich für das, was sie tat. Diese Frau war psychisch krank, sie litt unter extremen Narzissmus. Sie gierte nach Anerkennung. Diese Gier konnte sie in einer Vielzahl von Beziehungen nicht befriedigen. Erst ihre Aufopferung für Hitler hat ihren Narzissmus befriedigen können. Hitler war ihr Gott und sie wollte seine Heilige sein. Wo wir gerade bei der Religion sind. Sie haben in einem Brief an den Landgerichtsdirektor B. am 1. Juli 1956 geschrieben, Sie möchten eine ähnliche Rolle wie Jesus Christus spielen. Was meinten Sie damit?
Stella erwiderte: „Ich finde schon, dass mein Schicksal dem von Jesus Christus gleicht. Ich bin bereit, die Rolle einer Märtyrerin zu übernehmen.“
„Frau Gärtner, wollen Sie die Rolle für sich oder für andere Menschen übernehmen?“ „Ich verstehe nicht!“, Stella schaute Frau Dr. Burger fragend an.
Dr. Burger merkte, dass sie zu weit gegangen war. Sie dachte: Ich muss die Situation schnell retten, sonst finde ich keinen Zugang mehr zu der armen Seele. Sie beeilte sich, die Selbstlosigkeit von Stella zu loben, obwohl sie bereits nach wenigen Worten wusste, dass sie es mit extremem Narzissmus zu tun hatte. „Frau Gärtner, Sie haben das Geheimnis des Lebens begriffen. Liebe und Freundschaft verdoppeln sich, wenn man Liebe und Freundschaft teilt.“
Stella war beruhigt, dass Frau Dr. Burger so ein gutes Gespür für ihre Seele hatte.
„Sagen Sie, Frau Gärtner, waren Sie irgendwann mal in therapeutischer Behandlung? Also nach dem Krieg oder nach der Haftzeit in der DDR?“
„Nein, nie.“
„Danach gibt es offenbar auch keine Unterlagen jünge­ren Datums über Ihren Gemütszustand.“
„Nein, gibt es nicht.“
„Wir müssen also Ihren Gemütszustand in den Jahren 1943 bis 1944 beschreiben. Schwierig, aber nicht unmöglich. Wissen Sie, ich schreibe nicht irgendetwas, was ich nicht verantworten kann. Das überlasse ich lieber anderen. Ich schlage daher vor, dass wir über Ihre Kindheit reden und dann die Sitzung für heute beenden. Was halten Sie davon?“
„Wenn Sie das sagen, bin ich damit einverstanden. Ich glaube, dass ich bei Ihnen in guten Händen bin.“
„Davon können Sie sicher ausgehen.“
Das beruhigte Stella, denn sie hatte immer noch Dr. W. vor Augen, der sie 5 Minuten lang gefragt hatte, warum sie so eitel und egoistisch wäre und weil sie darauf keine Antwort gewusst hatte, die Untersuchung abgebrochen hatte. In der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 1956 hatte er dann aber eine halbe Stunde die Auffassung vertreten, sie wäre zwar egoistisch und infantil, aber noch lange nicht schuldunfähig. Stella erzählte und erzählte. Frau Dr. Burger ließ sie erzählen. Als Stella jedoch zum dritten Mal ausführte, dass sie ein großer Star werden wollte und dass sie eigentlich viel bessere Voraussetzungen hatte als Marlene Dietrich, weil ihr Vater Musiker und ihre Mutter Sängerin gewesen waren, unterbrach Frau Dr. Burger sie.
„Ich möchte Ihnen jetzt meine vorläufige Einschät­zung sagen. Sie waren in einem Übermaß verwöhnt und es wurde Ihnen eine Erwartungshaltung oktroyiert, an der Sie zwangsläufig scheitern mussten. Auch ohne die tragische Entwicklung in Deutschland wären Sie gescheitert. Was Marlene Dietrichs Karriere angeht, da stimme ich Ihnen zu. Alles wurde Ihnen aufgrund Ihrer Schönheit zu leicht gemacht, Sie hatten einen Status, der eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung verhinderte. Sie hätten mit den Schmuddelkindern spielen sollen, das hätte Ihnen gut getan. Sie haben Rückschläge und Niederlagen nicht als Chance begreifen können, sondern haben darin sozusagen eine Majestätsbeleidigung gesehen. Sie waren ganz offensichtlich bereits in der Kindheit ein Opfer, ein Opfer Ihrer Ansprüche und der überzogenen Ansprüche an sich selbst. Auch eine Prinzessin kann ein Opfer sein, wenn sie kein Königreich in Aussicht hat. Wissen Sie, Frau Gärtner, Frauen mit außergewöhnlicher Schönheit sind meist unglücklich, die allerwenigsten glücklich. Schauen Sie sich Marlene Dietrich an, Sie war einsam. Frau Gärtner, wir haben zwei Stunden hart gearbeitet. Wir machen eine kleine Pause und können weiterarbeiten. Wenn Sie jetzt aufhören wollen, dann sagen Sie es mir bitte.“
„Nein, nein, es ist schon gut, wir machen weiter.“
„Gut, Sie bekommen noch einen Kaffee, ich mach mir einen Tee, Carlo bekommt sein ‚Fresschen‘ und wenn Sie wollen, können Sie sich im Bad noch etwas frisch machen. Bitte die dritte Tür rechts.“
Nach 5 Minuten hatte Stella einen Kaffee, Frau Dr. Burger einen frischen Tee, der aber noch 3 Minuten ziehen musste und Carlo lag zufrieden mit einer Portion Katzenfutter im Bauch in der Ecke. „Wissen Sie, Frau Gärtner, Sie hatten offenbar als Kind einen Sonderstatus. Plötzlich brach Ihre Welt zusammen, praktisch über Nacht wurde alles anders. Nur eines wurde nicht anders, Sie blieben eine außerordentlich attraktive Frau, eine blonde Jüdin. Sie haben auf alle, ob Männer oder Frauen, wie eine Fackel gewirkt. Die Männer wollten Sie besitzen, die Frauen wollten Sie umbringen, völlig unabhängig von Rassegeset­zen. Wie hat das auf Sie gewirkt?“
„Ich weiß es nicht, es ist schon so lange her. Die alltäglichen Sorgen haben dazu geführt, dass meine Schönheit verblasst ist.“
„Frau Gärtner, ganz offensichtlich haben Sie mindestens 30 Juden, so jedenfalls die Anklage, aufgespürt und dann der Gestapo zugeführt.“
„Nein, habe ich nicht.“
„Frau Gärtner, bitte, ich will Ihnen helfen, und ich glaube, ich bin der erste Mensch, der Ihnen wirklich helfen kann, wenn Sie sich selbst die Wahrheit eingeste­hen. Zu der Wahrheit gehört nicht nur der Verrat, sondern auch die Ursache des Verrats, nämlich die Antwort auf die Frage, wie konnten Sie so komplett Ihr Mitgefühl gegenüber den Juden verlieren. Ich frage mich, wie viel Verletzung haben Sie ertragen müssen, um diese furchtbaren Taten, die Ihnen zur Last gelegt werden, zu begehen. Ich will wissen, was mit Ihnen geschehen ist, in den Kellern der Gestapo. Wenn Sie Ihr Gewissen verloren haben, dann nur dort unter der Folter. Anders ist für mich Ihr Verhalten nicht erklärbar.“
„Sie glauben also den Märchen, die über mich verbreitet werden?“
„Frau Gärtner, lassen wir es so stehen, lassen wir die Vorwürfe als Märchen stehen.“ „Darf ich noch einmal auf die Toilette gehen?“
„Ja, schließen Sie aber bitte nicht die Tür ab.“
„Keine Sorge!“
„Bitte, Frau Gärtner, wir müssen da durch. Sie werden sich besser fühlen, wenn alles vorbei ist.“
Stella stand auf und ging wie eine alte Frau zur Toilette. Sie schloss nicht ab. Sie schaute in den Spiegel, sie schaute sich minutenlang an. Was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Ihre strah­lende Schönheit war einem angespannten und verzerrten Gesichtsausdruck gewichen. Sie sagte mit leisen Worten zu sich: „Ich muss es sagen, hier und heute, alles. Ich will wieder schöner werden.“
„Ich hab das Gästehandtuch genommen, um mir das Gesicht abzutrocknen.“
„Ja, das ist gut, ich hänge immer ein frisches Handtuch in die Gästetoilette. Frau Gärtner, sind Sie bereit?“ Der Kater rieb seinen Rücken wieder an dem Schienbein von Stella und schnurrte leise vor sich hin. „Sehen Sie, Carlos schnurrt, er mag Sie, dann müssen Sie ein guter Mensch sein. Sagen Sie, Frau Gärtner, lieben Sie Tiere?“ „Ja, sehr. Die Tiere lieben mich auch. Ich habe einen Hund, nein, sogar zwei, vor dem Verhungern gerettet. Ich war immer gut zu Tieren. Am liebsten hätte ich meiner Tochter Yvonne einen Hund geschenkt. Ja, Frau Dr. Burger, ich bin bereit. Ja, ich bin bereit für die Wahrheit. Im Jahre 1941 wurde ich mit meinen Eltern dienstverpflichtet. Am 23. Oktober 1941 schloss ich mit Manfred Kübler die Ehe. Er wurde im Februar 1943 von der Gestapo verhaftet und dann nach Auschwitz deportiert. Ich selbst konnte im Februar 1943 einer Verhaftung durch die Gestapo entgehen und lebte die folgenden Monate illegal in Berlin. Falsche Papiere wurden uns durch Isaaksohn beschafft. Ich beschaffte falsche Papiere, eine Unterkunft und lebensnotwendiges Essen. Ich ließ mich dafür auch in Gegenwart der Eltern penetrieren. Bereits in dieser Zeit verlor ich jede Scham und jedes Gefühl und auch jede Form der Selbstachtung. Meine Seele war bereits zu diesem Zeitpunkt so gut wie tot. Am 2. Juli 1943 wurden wir von Gestapobeamten verhaftet. Die Gestapo vermutete, dass ich den Aufenthaltsort des Passfälschers Schönhaus, alias Rogoff, kennen müsste. Ich kannte Schönhaus zwar, wusste aber nicht, wo er untergetaucht war. Ich wurde schwerstens gefoltert, damit ich den Unterschlupf von Schönhaus verrate. Die normale Folter wie Schläge, Zufügung von Schmerzen wurde nur anfangs angewandt. Später zielte die Folter darauf, meine Würde als Frau zu verletzen. Die Folterer haben sich auch sexuell befriedigt. Ein Wachhund wurde immer wieder an einer kurzen Leine an meinen Körper geführt, kurz bevor er zubeißen konnte, wurde er zurückgerissen. Mir wurden die Augen verbunden, ich war nackt und wurde gefesselt und dann in einen Keller mit ausgehun­gerten Ratten geworfen. Am 25. August 1943 gelang mir bei einem alliierten Flie­gerangriff die Flucht. Ich tauchte jedoch nicht unter, sondern ging zurück in das Sammellager ‚Große Hamburger Straße‘. Nach weiteren schweren Folterungen habe ich einen Treueeid auf den Führer Adolf Hitler schwören müssen und mich bereit erklärt, künftig als Fahnderin und Greiferin für die Gestapo zu arbeiten. Ich musste alles unterschreiben. Als Abschluss des Gelöbnisses urinierte Dobberke noch auf mein Gesicht. Er nannte das „christliche“ Taufe. Er hat zu mir gesagt, wenn ich den Eid auf den Führer breche, werde er mich sofort erschießen. Frau Dr. Burger, ich wollte mich umbringen, aber ich hatte nicht mehr die Kraft, es wirklich zu tun.“
Stella öffnete den Mund und stieß unverständliche Leute aus. Frau Dr. Burger nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich. Stellas Körper zuckte wie unter Stromstößen. Sie hatte den Eindruck, dass Stella weinte. Sie konnte jedoch keine Tränen beobachten. Nach einigen Minuten fragte Dr. Burger: „Wollen wir für heute abbrechen oder eine kurze Pause machen?“
Stella tat erstaunt: „Was, wir sind noch nicht fertig?“
Dr. Burger dachte: Frau Gärtner muss erkennen, das hier ist keine Beichtveranstaltung mit Sünden beichten und anschließender Vergebung und schon gar kein Ablasshandel, sagte aber: „Wir haben noch einiges zu tun.“
„Gut, dann machen wir weiter!“
„Frau Gärtner, wir müssen jetzt über die Zeit von 1943 bis 1944 reden. In dieser Zeit gab es eine Reihe von Denunziationsfäl­len, in denen Ihnen vorgeworfen wurde, untergetauchte Juden aufgespürt und an die Gestapo verraten zu haben. Hier ist für mich wichtig, Ihre Motivation kennenzulernen, um beurteilen zu können, ob Sie schuldfähig waren oder nicht. Wenn Sie auf den Berliner Straßen auf der Suche nach untergetauchten Juden waren, fühlten Sie sich da verpflichtet, erfolgreich zu sein?“ „Ja, Dobberke verlangte von mir, dass ich für ihn so viel wie möglich untergetauchte Juden aufspüren muss. Er drohte mir, dass ich nach Auschwitz käme, wenn ich nicht erfolgreich wäre. Ich kann sagen, mein Leben war abhängig von der Fahndertätigkeit für die Gestapo.“
„Gab es eine Abhängigkeit zu Dobberke?“
„Dobberke war unberechenbar und ein Choleriker. Ich hatte Angst vor ihm und er hat mit meiner Angst gespielt. Ich war ihm hilflos ausgeliefert. Mit seinen Methoden hatte er es erreicht, dass ich ohne Willen war. Der Treueid auf Hitler tat ein Übriges. Ich war in einer Situation, aus der ich nicht herauskam. Ich war in einer totalen Abhängigkeit. Wenn er gesagt hätte, spring aus dem Fenster, wäre ich gesprungen. Ich weiß nicht warum, aber ich wäre gesprungen. Wenn ich einen Juden aufgespürt hatte, dann dachte ich zuerst, was würde Dobberke dazu sagen? Ich war abhängig von seinem Lob.“
„Frau Gärtner, hatten Sie Rachegedanken gegenüber den Deutschen, die Sie gefoltert haben?“
„Nein.“
„Frau Gärtner, hatten Sie Rachegedanken gegenüber den Juden?“
„Nein.“
„Frau Gärtner, welches ist die richtige, die beste Religion?“
Stella war überrascht, war das jetzt Religionsunterricht? Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater immer die Ringparabel zitiert hatte, wenn es um die einzig wahre Religion gegangen war. Als er seine Gedanken zu den Religionen entwickelt hatte, hatte sie nicht zugehört. Das Einzige, was ihr in dem Zusammenhang in Erinnerung geblieben war, war das Stichwort „Ringparabel“. Also sagte sie: „Ich halte es da mit der Ringparabel.“
„Oh, ich bin überrascht!“, sagte Frau Dr. Burger. Auch ihr war in dem Zusammenhang nur das Stichwort präsent. Stella hatte Glück. Frau Dr. Burger war in Sachen Religion offenbar ebenfalls nicht „sattelfest“ und fragte deshalb nicht nach dem Inhalt der „Ringparabel“.
Stella setzte noch einen drauf und sagte: „Lessing.“
Frau Dr. Burger lenkte ab und sagte: „Wir sind gut vorangekommen. Ich denke, wir brauchen noch eine Sitzung und dann kann ich mein Gutachten schreiben. Am liebsten wäre mir, wenn wir in den nächsten Tagen noch mal zusammentreffen könnten. Leider habe ich morgen in Hannover einen Termin. Den nehme ich aber nur war, wenn es nicht regnet. Ich fahre übrigens grundsätzlich nicht im Regen, wenn es dunkel ist. Macht es Ihnen was aus, wenn ich schnell den Wetterbericht in den Nachrichten höre, es dauert nur eine Minute.
Als Stella den Kopf schüttelte, schaltete Frau Dr. Burger das Radio ein. „Liebe Hörerinnen und Hörer, wir unterbrechen das Programm für eine Sondermeldung: Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft.“ Dem Nachrichtensprecher war die Erregung anzumerken. Mit tränenerstickter Stimme verlas er die Namen der ermordeten israelischen Sportler. Als er den Namen des elften Sportlers verlas, versagte ihm die Stimme. Frau Dr. Burger schaltete das Radio aus. Sie schaute Stella an, die aus dem Fenster starrte.
Dann verlor Stella die Fassung und brüllte los: „Vor ein paar Tagen das erste Unheil im Briefkasten: Die Ladung zum Termin am 21. September vor dem Schwurgericht Berlin. Heute das zweite Unheil, der Terroranschlag auf die jüdische Olympiamannschaft. Das ist wie eine Verschwörung. Immer waren alle gegen mich. In der Schule, die Mitschüler und die Lehrer, weil ich klüger und schöner war als der Rest der Schule. Nicht nur in meiner Klasse, sondern jeden Tag auf der Straße wurde ich angegafft und musste mich stän­dig gegen Zudringlichkeiten erwehren. Und jetzt wieder, diese besondere Stellung der Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Ich will endlich die jüdische Herkunft vergessen und ein normales Leben führen.“ Stellas Gesicht war hochrot.
„Hier, trinken Sie erst mal einen Schluck Wasser und beruhigen Sie sich. Geht Ihnen der Terroranschlag nahe?“
„Nein, überhaupt nicht! Mir geht überhaupt nichts mehr nahe. Ich kann keine Tränen mehr weinen, ich habe keine Gefühle mehr. Stellen Sie sich vor, ich habe seit 30 Jahren keine Träne mehr geweint.“
„Wer ist daran schuld?“
„Ich weiß es nicht. Bitte keine Fragen mehr, darf ich jetzt gehen?“
„Ja, selbstverständlich, ich bringe Sie noch bis zur Straße.“
Stella war wie versteinert.
Frau Dr. Burger schaute Stella an. Beide Frauen verabschiedeten sich im Hausflur. Frau Dr. Burger öffnete die Haustür, sie ließ Stella den Vortritt. Stella ging auf die Konstanzer Straße, lief nach rechts in Richtung Kurfürstendamm. Sie schaute sich nicht mehr um und konnte deshalb nicht sehen, dass Frau Dr. Burger ihr noch minutenlang hinterherschaute.
Als sie Stella nicht mehr sehen konnte, ging Frau Dr. Burger zurück ins Haus und sagte laut: „Unglaublich, absolut unglaublich. Wie komme ich eigentlich dazu, das Radio während einer ‚Sitzung‘ einzuschalten.“ Sie schloss die Wohnungstür auf und dachte, das ist Vorsehung oder einfach nur Schicksal, egal, sie hatte sich ihre Meinung gebildet.

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