Evolutionär

Evolutionär

Hilfe, ich herrsche!

Attila Bardosi


EUR 14,91
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 148
ISBN: 978-3-95840-805-0
Erscheinungsdatum: 30.04.2019
Eine Sammlung von Gedankenflügen, Skizzen, Diskussionen. Im Zentrum: der Mensch. Die großen Themen: Gesellschaft und Politik, Wissenschaft, Forschung und Kunst. Moral, Ästhetik und Glaube. Allesamt gesehen im Prozess der Entwicklung, Blickwinkel „Evolution“.
WIR SIND ALLTÄGLICH VON ILLUSIONEN UND LÜGEN UMGEBEN! – WARUM BETRÜGEN WISSENSCHAFTLER?
Moralische und ethische Folgen der Konkurrenzgesellschaft in der Welt der Wissenschaft.


EINLEITUNG

Ein wahrhaft guter Wissenschaftler ist ein Wissenschaftler, der danach strebt, nicht den Beweis für die Richtigkeit seiner Theorie, sondern den Beweis für ihre Abwegigkeit zu erbringen. Ein auf diese Weise erlittener Misserfolg kann glaubhaft die Stichhaltigkeit einer Theorie bestätigen. Infolge dieses Umstands ist er frei von jeglicher Art wissentlichen oder unbewussten Strebens, das auf eine Manipulation der Wirklichkeit zum Selbstzweck abzielen könnte, denn eine Theorie kann dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie sich auch bestätigt. Deshalb betrügt auch niemand, wenn er nicht recht haben möchte.

Die Lüge ist ein essenzieller Teil der sozialen Intelligenz. Voraussetzung des Erfolgs unserer zwischenmenschlichen Kommunikation ist nicht allein die Fähigkeit zum Lügen, sondern auch deren Erkennen bei anderen. Ein Teil der Wissenschaftler geht sogar einen Schritt weiter. Ihrer Meinung nach war für die Entwicklung der Intelligenz im Verlauf der Evolution die Vervollkommnung unserer Fähigkeit zum Lügen unerlässlich. Die Zunahme unseres Gehirnvolumens kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass im Interesse unseres Fortbestandes für uns oftmals die Notwendigkeit zu immer neueren, noch raffinierteren Lügen bestand. Forschungsergebnisse scheinen diese Behauptung zu bestätigen: Das Lügen ist eine beachtenswerte intellektuelle Leistung. Demnach können wir vielleicht gar nichts dafür. Der evolutionäre Zweck der Lüge ist zweifacher Art: der persönliche Vorteil beziehungsweise die Lösung, Eliminierung einer für uns problematischen, eventuell gefährlichen Situation. Beides kommt zum Einsatz und dient somit dem Überleben. Mit der Anhäufung materieller Güter wachsen im gleichen Verhältnis auch unsere Wahlmöglichkeiten, weil mit den Gütern auch unsere Macht immer größer wird (zumindest im System der heute existierenden Gesellschaftstypen). Das kann natürlich nur so lange funktionieren, solange unsere Schliche nicht ans Licht kommen, oder wenn sie ans Licht kommen, sie bis dahin ihre Bedeutung verloren haben, beziehungsweise, dass das, was wir tun, nicht das evolutionäre Überleben der Masse gefährdet. Zu diesem Zusammenhang liefert uns unsere Geschichte unzählige Beispiele, denken wir nur an die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg. In unserem Gehirn sind sichtbare, objektiv messbare Spuren dieses Prozesses vorhanden. Wenn wir lügen, steigt im vorderen Teil des Gyrus cinguli signifikant die Aktivität jener Nervenzellen an, die zusammen mit anderen Hirnarealen unter anderem die Steuerung der Aufmerksamkeit sowie die Qualität der Nervenimpulse kontrollieren. Gleichzeitig werden jene in der präfrontalen Hirnrinde vorhandene, speziell hemmende Neuronen aktiviert, die – neben mehreren anderen Gehirnregionen – daran beteiligt sind, ob in Form der Erinnerung früher erworbene und gespeicherte Informationen erneut oder auch nicht aktiviert werden. Beide Gehirnregionen sind Teil des unglaublich komplexen Systems, das „entscheidet“, welche Information aus unserer Erinnerung erneut in unser Bewusstsein gelangt. Offensichtlich muss man, um eine Lüge auszusprechen, etwas unterdrücken. Und dieses Etwas ist dann wohl die Wahrheit. (Langleben)


RELIGION UND WISSENSCHAFT, QUELLEN VON ZWEIFELN

Nun, in Bezug auf unsere heutige Zeit klingt die erste Hälfte des Essay-Titels – WIR SIND ALLTÄGLICH VON ILLUSIONEN UND LÜGEN UMGEBEN! – ziemlich schablonenhaft, man kann diesen Ausdruck bereits auch als trivial betrachten, denn was es bedeutet, das spürt jeder an der eigenen Haut, unabhängig davon, ob er es will oder nicht. Aus der alltäglichen Welt können wir nicht „aussteigen“ – zumindest nicht lebend. Solange wir atmen, so lange sind wir mit unseren Gedanken und Handlungen auch ungewollt ein Teil dieser Welt. Mehr noch, wir formen sie mal mit größerem, mal mit geringerem Erfolg, auf diese Weise werden die alltäglichen Lügen ein organischer Teil unseres Alltags, was wir moralisch und ethisch bereits seit langer Zeit akzeptiert haben. Aber was ist nun mit der zweiten Hälfte des Titels (die fette Hervorhebung ist kein Irrtum), mit dem in der Frage erwähnten Wissenschaftler, mit der sogenannten Wissenschaft, was ist mit dem mit einem Nimbus umgebenen und für die Mehrheit nicht fassbaren, abstrahierten Begriff, dem der Normalsterbliche mit einer Art Andacht und kleinlaut vor dem geforderten und oftmals erzwungenen Prestige begegnet, obwohl er ahnt, dass es ihn niemals betreffen wird, den er als eine instituierte Verkörperung der tadellosen Moral betrachtet und für den in seiner davon ausgeschlossenen Welt nicht einmal der Schatten des Verdachts der Lüge und des Betrugs in ihm hochkommen kann? – Zumindest glaubten wir das in der Vergangenheit. Das zur Wissenschaft entstandene Verhältnis ist in vielerlei Hinsicht der Ausübung der Religion, des Glaubens ähnlich, denn man ist nicht in der Lage, ihren Wahrheitsgehalt aus objektiven Gründen heraus zu kontrollieren. In unseren Augen genießt sie ein fast grenzenloses Vertrauen, jedoch kann sie gegebenenfalls in uns auch ein unangenehmes Gefühl des Ausgeliefertseins wecken. Somit überrascht es nicht, dass wir die Wissenschaft als eine Art Religion ansehen, denn in beiden ist die zur zielbewussten Manipulation geeignete, verlockende Macht verborgen! Gegenüber der Wissenschaft und Religion gibt es nur zwei Möglichkeiten des Vehaltens: Entweder nehmen wir ohne Bedingung ihre Behauptungen an, oder wir lehnen sie mit einem Fragezeichen versehen ab. Entweder „schlucken“ wir das, was uns vorgesetzt wird, oder wir wenden uns naserümpfend ab, unabhängig davon, von wem und wie „gekocht“ wurde. In unserem Verhältnis zu ihnen gibt es keinen Mittelweg, weder für uns noch für die Wissenschaft und die Religion, beide streben nach Totalität. In welchem Maße, mit welchen Mitteln und auf welche Weise die Manipulation auf das Individuum und die Gesellschaft, auf das Handeln des Individuums und der Gesellschaft wirkt, ist allein vom Gewissen der Vermittler – der Kirche, der Päpste, der wissenschaftlichen Einrichtungen, der Forscher und der ihnen zu Diensten stehenden Medien – abhängig.

Der seit Jahrtausenden bestehende und auch in unserer Zeit kontinuierlich zur Geltung kommende, geschichtsbildende Einfluss von Wissenschaft und Religion ist unumstritten. Diese Verknüpfung ist aus evolutionärer Sicht nützlich und notwendig. Die Religion lieferte für Menschen häufig den gedanklichen Ausweg in solchen Situationen, in denen die Wissenschaft noch keine Erklärung für bestimmte Naturphänomene geben konnte. Bei der Entdeckung und dem Verstehen von Naturereignissen setzt die Evolution eine logische Reihenfolge fest, die nicht verändert werden kann – z.?B. vor Entdecken der Elektrizität konnte man den wahren Grund der Blitzerstehung nicht erkennen. Von Beginn an war ihr Hauptzweck identisch, und er ist es auch bis in die heutige Zeit geblieben: das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt noch Unerklärbare zu erklären, auf eine gestellte und noch nicht beantwortete Frage eine auch für die Mehrheit (!) annehmbare Antwort zu finden. Bei dieser Antwortsuche liegt die Betonung auf dem „noch“. Aufgabe der Wissenschaft ist es, das „noch Unerklärbare“ durch Suche von beweisbaren Gesetzmäßigkeiten und deren Anwendung „in ein bereits Erklärbares“ umzuwandeln. Vom Gesichtspunkt der Existenz ergibt sich der Unterschied der beiden grundlegenden Weltanschauungen, des Theismus und des Atheismus (vereinfacht betrachtet, ohne sich jetzt tiefer in Einzelheiten zu verlieren), auch aus der Eigenschaft der Antwortsuche. Während die Religion die Diversität unserer Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten auf Gott, auf die göttliche Vorsehung als ursächlichen Grund zurückführt, sieht die Wissenschaft den Grund in der Existenz der Welt an sich und in deren Vielschichtigkeit, und sie ist bestrebt, die kausalen Zusammenhänge, die dies bewirken, aufzudecken. Für das Letztere liefert die Evolution die theoretische Grundlage. (Obwohl es vorkommen kann, dass ein Wissenschaftler aufgrund seiner eigenen Unvollkommenheit und Ratlosigkeit sich manchmal wieder der Religion für eine Erklärung zuwendet.)

Der zielbewusst manipulierende und die Massen absichtlich beeinflussende Charakter der Religion und der Kirche, die eine Vertreterfunktion annimmt, besteht seit dem Moment ihrer Entstehung. Während die Machtgier heute noch den Kern der über Jahrtausende hindurch wuchernde, die Umgebung erstickende und diese vollständig zuzuwachsen strebende Parasitenpflanze bildet, kann diese Eigenschaft im Hinblick auf die Wissenschaft in den früheren Jahrhunderten nur auf die Unausgereiftheit und Untauglichkeit der verschiedenen Wissenschaftszweige und der angewandten Untersuchungsmethode sowie auf die aufgestellten und über einen längeren oder kürzeren Zeitraum allgemein anerkannten falschen Ideen zurückgeführt werden. Zu dieser Zeit fehlte der Wissenschaft noch das im Interesse der Macht ausgeübte Zielbewusstsein. Ihr vorsätzlich manipulierender Charakter war in dieser Zeit noch nicht oder nur gelegentlich feststellbar, dessen gesellschaftsformende Bedeutung aus heutiger Sicht zu vernachlässigen war. Eine Ausnahme bildete sich, als sich die Religion durch Dogmatisierung falscher Anschauungen manipulierend mit dem Ziel in die Wissenschaft einmischte, um ihre Macht auch darüber auszudehnen und zu festigen beziehungsweise die bedrohende Entwicklung zu verhindern, was über kurz oder lang auch erfolgreich war. Denken wir nur an die geführten, nicht selten mit dem Tod endenden weltlichen und kirchlichen Strafprozesse gegen die auch heute die Geschichte beeinflussenden Wissenschaftler. Denken wir beispielsweise an Galileo Galilei, der wegen seiner Anschauungen und seiner Gesinnung im Jahr 1616 zu Gefängnis verurteilt wurde (später in Hausarrest umgewandelt) und den der Vatikan erst 1992 (!) rehabilitierte, beziehungsweise an Giordano Bruno, der im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen endete. Das Unrecht des Urteils erkannte der Papst erst im Jahr 2000 (!) an. Für die bis in die heutige Zeit spürbare Einmischung der Religion mithilfe der Politik in die Wissenschaft möchte ich, gestatten Sie mir, ein aktuelles Beispiel, welches die Evolutionstheorie von Darwin betrifft, erwähnen. In Amerika wurde unter anderen Staaten im Staat Kansas im Jahr 1999 der Schulunterricht der Evolutionstheorie abgeschafft. Eine ähnliche Entscheidung hat derzeit auch die türkische Regierung gefällt. Gerade wegen der aus der Geschichte entnommenen negativen Erfahrungen wurde in den modernen westlichen Staaten die Trennung des Staates und der Religion zum festen Bestandteil des Grundgesetztes. Um diese Trennung aufzuheben, wird in einigen Diktaturen heute jedoch erneut der Versuch bewusst unternommen, da die Fähigkeit der Religion und Kirche, die Massen zu manipulieren, nach wie vor lebendig ist.

Eingedenk des Vorstehenden überrascht nicht, dass sich die Religion und die Wissenschaft in der Vergangenheit auf mehreren Gebieten miteinander verflochten haben, obgleich sie von ihrer Natur her bis zum heutigen Tag gegeneinanderarbeiten (nach Meinung von einigen nur dem Anschein nach). Obwohl anzumerken ist, dass in beiden Lagern von Zeit zu Zeit und allgemein, an eine bestimmte Person gebunden, Bestrebungen aufflammen, deren inhaltliche Unvereinbarkeit man bis zu einem gewissen Grad zu lösen versucht. Nicht wenige Wissenschaftler geraten in die Falle, wenn sie aufgrund der Beschränkung ihres Wissens mit den auf die gestellten Fragen zu gebenden möglichen, jedoch mit der Zeit falschen Antworten am Ende und oftmals unfähig sind, dies auch sich selbst einzugestehen. Nun probieren sie, sich mithilfe der Hinwendung zur Religion, zum Glauben wie über eine „Hintertür“ aus dem mit sich selbst und mit der Umgebung entstandenen Konflikt zurückzuziehen. Diese opportunistische Problemlösung ist jedoch nicht auf die Unvollkommenheit der Wissenschaft, sondern auf die menschliche Eitelkeit und Ratlosigkeit zurückzuführen. Direkte Folge davon ist die vollständige oder teilweise Aufgabe des Skeptizismus, der früher gegenüber den in der jeweiligen gesellschaftlichen Umgebung herrschenden Überzeugungen und Ansichten, ohne daran festzuhalten, praktiziert wurde. Hierbei bildeten auch solche Genies keine Ausnahme wie beispielsweise Ernest Rutherford oder Max Planck.

Der früher zwischen der Religion und der Wissenschaft bestehende, vorstehend aufgezeichnete methodische, qualitative Unterschied verschwindet ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach. Welche Ursache es für diese Veränderung gibt, auf diese Frage – wenn wir das Problem oberflächlich behandeln würden – könnte man auch mit einem Wort antworten: Machtgier, die im Verlauf der Jahrhunderte eines der bestimmenden Merkmale der Religion und der diese vertretenden Kirche war, unabhängig davon, über welche Religion wir sprechen, denn von diesem Gesichtspunkt her sind alle Religionen gleich (vielleicht kann der Buddhismus bis zu einem gewissen Grad als Ausnahme angesehen werden). Diese Eigenschaft als ein allgemeiner Charakterzug tritt im Bereich der Wissenschaft erstmals im vergangenen Jahrhundert auf. Wie viel Wahrheitsgehalt die vorstehend angeführte Antwortsuche hat – namentlich die Stärkung der eigenen Machtposition und die Erhöhung des Prestiges mittels der Vergrößerung des Einflusses auf die Gesellschaft – ist nicht bedeutsam.

Aber versuchen wir jetzt einmal in die Schlucht zu schauen, deren Ränder sich immer schneller öffnen und deren Grund immer tiefer klafft. Vielleicht können wir den einst auf dem Grund rinnenden Fluss erblicken, der beginnt sich zu stauen und dessen Strömung immer heftiger wird.
Vor einigen Jahrzehnten konnten wir uns von einem Wissenschaftler vielerlei vorstellen, nur das eine nicht, dass er bewusst lügt oder betrügt. In der Geschichte der Wissenschaft finden wir dafür nur gelegentlich ein Beispiel. Das Bekannteste ist in der Neuzeit der Fall des Piltdown-Menschen (Eoanthropus dawsoni). Nach Behauptung des britischen Fossilien-Forschers Charles Dawson „entdeckte“ er im Jahre 1912 einen Kieferknochen, auf Grundlage dessen die Anthropologen einen neuen Typ von Urmenschen vermuteten, den sie als fehlendes Kettenglied zwischen Menschen und Affen einreihten. Der Betrug wurde durch Zusammenfügen von einem einige Hundert Jahre alten Unterkiefer eines Orang-Utans und dem Knochenteil eines modernen Menschenschädels erstellt, wobei die Zähne unter anderem durch Schleifen und chemische Behandlung angeglichen wurden. Zur Aufdeckung der Fälschung kam es erst mehr als 40 Jahre später im Jahr 1953, nach dem Tod Dawsons (Russell, 2003).
Unwahre Behauptungen können grundlegend auf zwei verschiedene Arten und Weisen in eine wissenschaftliche Publikation gelangen. Eine davon ist die „unverschuldete Lüge“, die aus der vom Wahrheitsgehalt unabhängigen, kritiklosen Übernahme, aus der reihenweisen Wiederholung von früher publizierten literarischen Angaben entsteht. Je öfter ein wissenschaftliches Ergebnis zitiert wird, desto größer wird seine Glaubwürdigkeit. Es kann sogar passieren, dass eine falsch zitierte, jedoch primär richtige Angabe sich in der Fachliteratur in verdrehter Form verselbstständigt. Nur ein Bruchteil der Forscher geht zurück bis zur „primären Quelle“ Viele filtern die Informationen aus „sekundären Quellen“, zum Beispiel aus zusammenfassenden Artikeln heraus. Auf diese Weise können sie auch ungewollt zur Propagierung einer falschen Theorie beitragen. Der andere Weg besteht in der mit krimineller Energie begangenen „bewussten Lüge“ aus persönlichem Interesse, welcher auch Gegenstand des vorliegenden Essays ist.

Die Wissenschaftler neigen dazu, dass sie die durch sie entdeckte „Wahrheit“ als Betriebsgeheimnis behandeln und diese Wahrheit nur mit Mitgliedern eines eingeweihten, engen Kreises teilen, denn auch sie – wie bei den meisten Berufen – müssen sich verkaufen, und nicht jede Wahrheit dient diesem Zweck. Auch bei ihnen sind die Triebkräfte der persönliche Ruf, der Preis, das Geld, der Besitz von Macht und die Anerkennung, weshalb es verständlich ist, dass das Korrigieren einer unangenehmen „Wahrheit“ das ein oder andere Mal verlockend sein kann, denn aus Sicht der Karriere muss nicht jedes wahre Ergebnis von Vorteil sein. Eine andere Art der Lüge ist, wenn die wahren Ergebnisse unvorteilhaft sind, aber diese nicht geändert werden können, dass man sie einfach verschweigt (siehe die Geschichte der Antidepressiva). Auf einen engen Kreis von Eingeweihten ist die auch in Fach- und juristischen Kreisen bekannte Tatsache zurückzuführen, dass ein bei der Lüge ertappter Forscher, Wissenschaftlicher nur im Ausnahmefall mit Sanktionen rechnen muss, die Sache wird meistens vertuscht. Wenn jedoch auch das nicht gelingt und die Öffentlichkeit erlangt Kenntnis darüber, verglüht das Interesse so schnell, wie es aufflammte. Es gibt wenige Fälle, die ans Tageslicht gekommen sind, sie haben jedoch für die heutige Zeit die Ansicht der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Redlichkeit eines Wissenschaftlers geändert.
Lassen Sie uns den Versuch unternehmen, diejenigen, voraussichtlich vielschichtigen Gründe und komplexen gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Mechanismen und Zusammenhänge aufzudecken, die für die Veränderung in negativer Richtung verantwortlich gemacht werden können, und die Frage beantworten: Warum lügen Wissenschaftler, weshalb wurde der Betrug im wissenschaftlichen Leben alltäglich und stillschweigend angenommen?


MATERIAL UND METHODE

DAS ERSTE „ERLEBNIS“

Bevor wir auf diese Frage eine Antwort geben, gestatten Sie mir, Ihnen eine persönliche Erfahrung zu vermitteln.
Mit der bewussten Manipulation, die heute bereits als gängige Praxis in der Wissenschaft existent ist, bin ich erstmals und unwillentlich vor circa dreißig Jahren als junger Pathologe, der sich auch mit dem Nervensystem und der Myopathie befasst, in Berührung gekommen. Auf Ersuchen eines Klinikers, der Erkrankungen der Herzmuskulatur erforschte, untersuchte ich die morphologische Veränderung von Herzmuskelzellen bei 16 (!) Patienten mit Kardiomyopathie (mit degenerativer Veränderung der Herzmuskelzellen) mittels Herzmuskelbiopsie. Ich kann mich an die Fallzahl genau erinnern, da zu jener Zeit diese Untersuchungsmethode noch sehr neu war und meinem Wissen nach nur einige wenige sich mit diesem Forschungsthema befassten. Da die Ergebnisse vielversprechend waren, wurden diese deshalb in einem namhaften Fachblatt nach einigen Monaten auch veröffentlicht. Als junger Forscherarzt nahm ich stolz und mit großer Begeisterung den erschienenen Artikel in die Hand. Da ich den Inhalt gut kannte (zumindest habe ich das gedacht), überflog ich ihn nur, jedoch blieb mein Blick an einer Stelle haften. Die untersuchte Fallzahl war nicht 16 (!), sondern 45 (!). Mein Mitautor hatte ohne mein Wissen einfach diese Zahl fast verdreifacht. Die beobachteten Ergebnisse haben sich dadurch nicht verändert, jedoch sind ihre Glaubwürdigkeit und ihr wissenschaftliches Ansehen durch die höhere Fallzahl in den Augen der Leser automatisch gewachsen. So einfach ist es: kleine Lüge, große Wirkung. Der „Kollege“ wurde einige Jahre später Direktor einer bekannten kardiologischen Klinik.
Ich behaupte nicht, dass diese Erfahrung mich „schwer betrübte“ und dass mein Glaube an die Reinheit der Wissenschaft dadurch bereits zu der Zeit verloren gegangen ist, es hat mich jedoch nachdenklicher und vorsichtiger gemacht. Die weiteren negativen Erfahrungen der Folgejahre schufen in mir jedoch gegenüber wissenschaftlichen Publikationen und gegen einen gewissen Forschertyp nach und nach meinen gesunden Skeptizismus, welcher am Ende meiner beruflichen Laufbahn zu der nachstehenden, im Essay zusammengefassten Anschauung und Überzeugung führte und mich vor solchen Fehlern bewahrte, die meiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein vorzeitiges Ende hätten setzen können. Eigentlich müsste ich diesem „Kollegen“ noch danken, wenn ich das Geschehen aus heutiger Sicht betrachtend mit „der niedrigsten Form des Witzes“ (Oscar Wilde) im Stil des Sarkasmus bewerten würde.

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