Ein Rückblick

Ein Rückblick

Über die Zeit zwischen Zweitem Weltkrieg und dem Untergang der DDR

Jürgen Parschat


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 250
ISBN: 978-3-99107-392-5
Erscheinungsdatum: 13.04.2021
Jürgen Parschat wurde 1937 in Ostpreußen geboren und hält im Alter von 80 Jahren Rückschau auf ein bewegtes Leben, insbesondere auf die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang der DDR.
Kindheit

Ostpreußen: „Land der dunklen Wälder und kristall’nen Seen, über weite Felder lichte Wunder geh’n“. Dieser Anfang der Hymne der Ostpreußen sollte eigentlich bei allen dort Geborenen ein Heimatgefühl entfachen. Nicht so bei mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich, wenn auch in Königsberg geboren, schon mit sieben Jahren diese Gegend verließ. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass wir, wenn wir vom Bahnhof in Ludwigsort mit einer Kutsche abgeholt wurden, auf den rund zehn Kilometern bis zu unserem Dorf Großklingbeck durch dichte Wälder oder an kristallnen Seen vorbeigekommen sind.
Und wie unser Dorf zu dem Beinamen Groß gekommen ist, bleibt auch fraglich. Großklingbeck hatte so an die zweihundertfünzig Einwohner, also in etwa deißig Gehöfte, denn die Familien bestanden im Dorf meist aus mehr als sieben bis acht Personen, Eltern, Großeltern und in der Regel mehr als drei Kindern! Dann gab es eine Gaststätte und einen kleinen Kaufmannsladen an der einzigen Straßenkreuzung des Ortes – dort, wo die Straße von Ludwigsort nach Zinten führend eine Abzweigung nach Grünwiese, einem Nachbardorf, hatte. Richtung Zinten führte die Straße an dem Dorfteich entlang und dann als letztes Gehöft auf der linken Seite kam das Schulgebäude. Gegenüber waren noch ein paar Bauernhöfe.
Jedenfalls war das Schulgebäude mein erstes Zuhause. Das Schulgebäude, von der Straße aus durch eine Art Garten etwas versetzt, bestand aus zwei Gebäudeteilen: dem eigentlichen Schulhaus mit einem Klassenzimmer im Erdgeschoss und darüber im Giebeldach eine Art Kinosaal. Angrenzend daran ein Flachbau mit unserer Wohnung. Schließlich hatte mein Vater 1937
die Lehrerstelle in dieser einklassigen Volksschule erhalten, nachdem er vier Jahre als Lehrer an der Volksschule in Wolittnick und weitere vier Jahre in Gr. Windkein tätig war. 1938 wurde mein Vater zur Wehrmacht einberufen, sodass sich meine Erinnerungen an ihn nur auf gelegentliche Urlaubstage beziehen. Mit Mama und meiner zwei Jahre älteren Schwester Ulla durften wir aber weiter in dieser Lehrerwohnung leben.
Der Eingang zu unserer Wohnung lag hinter dem Haus, angrenzend an so eine Art Hof. Gegenüber befand sich so was wie eine Scheune, wo unsere drei Gänse und eine Handvoll Hühner ihr Zuhause hatten. Die Gänse hatten sogar persönliche Namen. Hinter der Scheune lag der Sportplatz, der von einem kleinen Bach begrenzt wurde. Ich erinnere mich noch, dass ich in einem Winter in den Bach gerodelt bin. Und wie das nun mal so ist, rettete ich mich durchnässt und frierend natürlich an das gegenüberliegenden Ufer. Und erst mein jämmerliches Gebrüll holte meine Mama zur Hilfe, welche zuerst durch den Bach watete, der zwar nicht tief war, aber es reichte für nasse Füsse und führte darauf zu einer starken Erkältung
von Mama.
Angrenzend an den Sportplatz kam ein eingezäunter Garten mit Gemüse, Beerenpflanzen und einem herrlichen Kirschbaum. Dann kam der Hauseingang, links angebaut die Toilette (Plumpsklo). Parallel zum Schulgebäude befand sich eine Ackerfläche, in der Größe von einem drei Viertel Morgen, des damals üblichen Ackerflächenmaßes. Von diesem Acker ernteten wir unseren Kartoffelbedarf.
Noch weiter hinten, also hinter dem eigentlichen Schulgebäude, befand sich auch noch ein Garten mit Obstbäumen. Ich erinnere mich noch an die herrlich schmeckenden Klaräpfel, die frisch vom Baum gegessen wurden. Direkt an der Hauswand war so eine Art Spielplatz oder Sandkasten. Jedenfalls rannte ich einmal erschrocken zu Mama in die Küche, weil ich dachte, das Haus stürzt ein. Ich hatte beim Hochsehen das Wolkenziehen missverstanden.

Und dann unsere Wohnung. Richtung Hof war die Küche, von der es ins Schlafzimmer ging und noch zu einer Kammer, in der das Pflichtjahrmädel schlief. Die Küche war für meine Begriffe recht groß, denn zum Baden wurde eine Wanne hineingestellt. Das tägliche Waschen fand auch in der Küche statt. Dann gab es direkt neben dem Hauseingang eine Pumpe, mit der wir unseren zusätzlichen Wasserbedarf deckten. Im Flur zwischen unser Wohnung und dem Klassenzimmer befand sich auch noch ein kleines Waschbecken aus Eisen.
Zur Straße hin kann ich mich an ein auch recht großes Wohnzimmer erinnern, mit einem gewaltigen runden Tisch mit einer Edelholzplatte. An der Wand stand ein Klavier. Dahinter ging es ins sogenannte Herrenzimmer, keine Ahnung, ob ich da jemals herinnen war.
Wenn wir mal ein Huhn zum Essen haben wollten, gingen wir zu dem uns gegenüber liegenden Bauernhof, wo die Hausherrin dann vor unseren Augen das mitgebrachte Huhn köpfte. Ich seh noch heute, wie das geköpfte Huhn der Bäuerin aus der Hand flog und erst einige Meter weiter kopflos zu Boden fiel. Der Nachwuchs der Hühner wurde von Hand aufgezogen. Ich weiß noch, wie niedlich das war, die Kücken mit Brei aus weichgekochten Eiern zu füttern.
Kühe hatte der Hof gegenüber nicht, sodass wir, meine Schwester und ich, die Milch mit einer Milchkanne von einem Hof holten, der sich etwa einen Kilometer entfernt, kurz vor der Reichsautobahn, befand.
Zu Weihnachten wurde eine Gans geopfert und da die Gänse individuelle Namen hatten, fiel die Aswahl immer recht schwer. Das Töten haben wir nicht miterlebt, aber anschließend viel Zeit mit dem Rupfen der Federn verbracht – die weichen Daunenfedern wurden separat gesammelt und mussten abgegeben werden. Dann wurde die Gans mit zu meinen Großeltern mütterlicherseits genommen. Die wohnten in Tapiau, einem Städtchen östlich von Königsberg am Fluss Pregel gelegen.
Die Eltern vom Vater im Samland haben wir nie besucht, Vater war ja im Krieg und Mama hatte keine besondere Beziehung zu ihren Schwiegereltern.
Nach Tapiau fuhren wir mit dem Zug von Ludwigsort aus über Königsberg. Zum Bahnhof in Ludwigsort brachte uns ein Pferdefuhrwerk von dem Hof gegenüber aus. Vom Bahnhof in Tapiau zu der Wohnung der Großeltern war es nur ein kleines Stück zu Fuß.
Die Wohnung von Oma und Opa war in einem größeren Mietshaus am Rande eines Betriebsgeländes, in der oberen Etage, und hatte für unsere Begriffe eine beachtliche Größe. Zwei nebeneinander liegende Stuben eigneten sich hervorragend zum Ausprobieren der zu Weihnachten erhaltenen Roller. Und Opa hatte sogar ein Radiogerät, einen sogenannten Volksempfänger, was damals noch nicht für jeden Haushalt eine Selbstverständlichkeit war. In Großklingbeck hatten wir jedenfalls
kein Radio.
Geschlafen haben wir in einem separaten Schlafzimmer. Wo Omatante und Opa genächtigt haben, ist nicht in Erinnerung.
Für die Errichtung der Notdurft, ob Groß oder Klein, stand ein Nachttopf zur Verfügung. Wie und wohin dieser entleert wurde, hat uns nicht interesseirt. Zum Waschen stand eine Schüssel auf einem Tisch, darunter ein Eimer für das Altwasser und daneben ein größerer Krug mit Frischwasser.
Oma wurde Omatante genannt, weil ihre Mutter in einem Nebenzimmer auch noch lebte. Oma war die dritte Frau von Opa, nachdem die erste Frau starb, als meine Mutter noch ein Kleinkind war, die zweite Frau lebte auch nicht lange. Erst mit 16 Jahren erhielt meine Mitter die aktuelle Oma Clara.
Und von dem Gänseschmaus ist noch bleibend in Erinnerung die große Schüssel mit Sülze, aus den diversen Gänsekleinstücken.
Einmal zu Weihnachten bekam ich eine Eisenbahn, eine einfache Holzeisenbahn, aber für mich etwas ganz Besonderes. Am zweiten Tag trat Omatante aus Versehen auf die Bahn und kaputt war meine erste Spielzeugbahn. Einmal erhielt ich so eine Art Luftgewehr, die kleine Kugel war mit einer Schnur am Gewehr befestigt und konnte somit keinen größeren Schaden anrichten. Doch unter Opas Anleitung konnte ich vorzüglich die großen Christbaumkugeln treffen, selbstverständlich sehr zum Ärger von Mama.
Dann erhieit meine Schwester zwei Puppen, eine davon hieß Gustl und wurde von mir in Beschlag genommen, offensichlich weil kein geeignetes Spielzeug für einen kleinen Jungen zur Verfügung stand.
Natürlich wurden wir auch von Omatante verwöhnt, soll hei--
ßen, dass sie uns mal etwas zusteckte, was eigentlich nicht üblich war.
Ich weiß noch, dass es Würfelzuckerstückchen waren, die wir beide zum größen Ärger von Mama zum Naschen erhielten. Ulla hat diese Stücke ordentlich gelutscht, ich meinerseits habe diese stets zerkaut. Der Geschmack war dadurch kräftiger, wie ich fand.
Und jedes Mal wurde ich über dieses schädliche Kauen belehrt: Das macht die Zähne kaputt! Beim Zahnarzt dann das Ergebnis: Ulla bekam schon beizeiten kranke Zähne mit Plombenbehandlung und so. Meine Zähne blieben stabil (und das bis in spätere Jahre noch). Aber durch diese Zuwendung an Zuckenstückchen lernte ich zählen: „Ein Zucker – zwei Zucker“ – und so fort bis zehn!
Im Freien in Tapiau zu spielen, war für uns Landkinder problematisch. Na gut, meine Schwester konnte ihren Puppenwagen in dem recht großen Betriebshof spazieren fahren. Aber ich? Einmal schaufelte ich aus Verzweiflung an einer vor dem Haus stehenden riesigen Eiche. Hörte dann aber auf – aus Angst, dass die Eiche umkippen könnte. Einmal fand ich eine alte kaputte Fahradpumpe und spielte damit irgendwie herum. Jedenfalls verfing sich mein rechter Mittelfinger in dem leeren Rohr und konnte nicht mehr von mir befreit werden. Brüllend vor Schmerz und mit blutigem Finger, an dem die Luftpumpe hing, rannte ich zur Wohnung hoch. Wie und wo mir irgendwie geholfen wurde, ist nicht in Erinnerung, aber die Narbe ist heute noch an meinem rechten Mittelfinger zu erkennen.
Noch bleibend in der Erinnerung ist ein Luftangriff. Es war eines Nachts, zumindest war es stockfinster, als wir aus der Wohnung über den Hof in ein nahe gelegenes Fabrikgebäude mit Luftschutzkeller rannten. Über uns brummten die Flieger und der Hof war durch niedergehende sogenannte Christbäume grell erleuchtet. Am nächsten Tag erzählte Großvater, als er von der Arbeit auf der anderen Seite des Pregles kam, von einigen Bombenschäden, die offensichtlich der Brücke über dem Fluss gegolten hatten.
Und noch ein Luftangiff hat sich in mein noch junges Gehirn eingebrannt: der Luftangriff auf Königsberg im August 1944. Wir wohnten zwar über zwanzig Kilometer westlich von Königsberg entfernt, aber die anglo-amerikanischen Bomber flogen auch über unser Dorf. Ich erinnere mich noch an die Suchscheinwerfer, die einzelne Flugzeuge verfolgten. Eines sah man auch getroffen brennend abstürzen, wenn auch weit weg von uns. Und dann war da der rote Himmel durch die brennende Stadt. Auch heute noch, wenn, aus welchem Grund auch immer, der Himmel über der Stadt rötlich leuchtet, entsinne ich mich der damaligen Gefühle.
Mit sechs Jahren, also 1943, wurde ich eingeschult. Eine Zuckertüte bekam ich nicht, da ich zur Einschulungsfeier krank war. Und dann saß ich als Erstklässler mit noch einem Mädel in der rechten, ersten Reihe der Schulbänke. Insgesamt waren für die acht Klassen drei Reihen Doppelbänke vorhanden, jeweils vier hIntereinander, also für nicht mal fünfzig Schüler. Als Aushilfslehrer, Vati war ja im Krieg, diente ein Herr Tolksdorf, der mit seinem Motorrad aus dem Nachbardorf Grünwiese anreiste, dies aber nicht mal täglich.
Und auch nicht jede Klasse war besetzt, jedenfalls waren einige Bänke noch frei. Aber wir konnten jeder mithören, was der Lehrer den jeweiligen Klassenschülern erzählte. Klüger sind wir dadurch sicher nicht geworden. Genauer erinnere ich mich an Filmvorführungen, die auf dem Boden in einer Art Kinosaal stattfanden und im Wesentlichen von den ständigen Erfolgen unser siegreichen Armee berichteten. In den Ohren klingt noch die Musik von „Les Preludes“ von Liszt, was als Leitmelodie der Wochenschau lief.

Einmal herrschte große Aufregung im Dorf: Der Gauleiter Koch wurde erwartet, natürlich nur auf Durchreise nach Zinten. Jedenfalls wurden alle Dorfbewohner aufgefordert, am Straßenrand Spalier zu stehen und mit Blumen zu winken. Es durften aber keine Blumen in Blumentöpfen verwendet werden. Der eigentliche Besuch des Gauleiters verlief dann so, dass mehrere schwarze Limosinen ohne Halt durch das Dorf fuhren.
Eines Tages kam ein Mann an unseren Hintereingang und bettelte um irgendetwas. Mutter gab ihm ein Stück Brot und schickte ihn dann weg. Wir wurden ermahnt, niemandem von diesem ungebeten Besuch zu erzählen. Wahrscheinlich war dieser Mensch aus irgendeinem Lager geflohen.
Und noch ein Besuch ist in Erinnerung. Wahrscheinlich war es eine Nachbarin, die mit ihrem Töchterlein zum Kaffeeklatsch oder so bei uns vorbeisprach. Und das kleine Mädel war blind!
Was blind bedeutete, war uns Kindern natürlich nicht geläufig. Aber als meine Mutter dem Mädchen einen Muff (eine Art Pelzhandschuh) in die Hand gab: „Miezekatze“. Das Kind glaubte, eine Katze zu fassen. Und dies machte uns auf drastische Weise deutlich, was blind bedeutet.
Doch auch angenehme Erinnerungen gab es, sogar eine, die für mich so etwas wie prägend war. Es war im Frühjahr 1944. Ich war also gerade mal sieben Jahre alt, als meine Mutter eine sogenannte KDF-Reise (KDF – der Verein „Kraft durch Freude“) nach Oberstdorf im Allgäu genehmigt bekam.
Ob auf der Hinfahrt oder Rückfahrt weiß ich nicht mehr, jedenfalls übernachteten wir in München in einem renomierten Hotel. Wir staunten nicht schlecht, dass die Vorhänge an den riesigen Fenstern bis auf den Fußboden reichten. Zum Abendbrot gab es Makaroni mit Tomatensoße, damals schon mein Lieblingsgericht. Und ich bekam sogar Nachschlag und dies mehr als einmal. Jedenfalls freute sich das Personal über den Appetit des kleinen Jungen.
Und dann unsere Einfahrt in das tief verschneite Oberstdorf: Ich sehe noch heute unsere Einfahrt mit dem Zug in die Bergwelt vor mir – in weitem Bogen führt die Bahn vor herrlich weißer Bergkulisse hinein in den Ort mit seinem spitzen Kirchturm. Seitdem träume ich beim Anblick von Haufenwolken am Horizont von schneebedeckten Bergen.
Unser Quartier war die Pension Alpina. Von hier aus unternahmen wir oftmals Wanderungen in die winterliche Landschaft. Einmal erschreckte uns ein hinter einer Kurve plötzlich auftauchender Wasserfall. Ein anderes Mal erwischte uns eine Lawine – na sagen wir mal ein kleines abgehendes Schneebrett. Jedenfalls steckte meine Schwester mit ihren Beinen so fest im Schnee, dass sie nicht mehr selbstständig freikam. Gott sei Dank kam kurze Zeit später ein Mann mit Stock, der sie dann freihackte.
Wir waren auch auf dem Nebelhorn. Ich erinnere mit noch, wie wir aus der Seilbahnstation durch einen Schneetunnel gehen mussten, so viel Schnee lag damals noch im März.

In Königsberg wohnte unsere Tante Lene, irgendeine Verwandte von Oma Clara. Hier haben wir auch hin und wieder übernachtet, natürlich noch vor dem schrecklichen Luftangriff. Einmal sind wir sogar in die Oper gegangen: „Hänsel und Gretel“. Ganz schwach erinnere ich mich noch an die gruselige Hexe. An mehr aber auch nicht.

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Karin Klein

... immer noch diese Gedanken ...

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