Der rote Faden, der ein blauer wurde

Der rote Faden, der ein blauer wurde

Annäherungen an ein selbstbestimmtes Leben in 71 Kurzgeschichten

Sigurd Saß


EUR 21,90
EUR 17,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 468
ISBN: 978-3-99130-210-0
Erscheinungsdatum: 26.06.2023
Vom Leben in Brasilien, Kriegserfahrung, naturnahem Aufwachsen mit Tarzan-Spielen in deutschen Wäldern, Begegnungen mit Picasso und anderen Kunstgrößen in Frankreich, den 1968ern und mehr. Sigurd Saß kann einiges aus seinem bunten Leben berichten. Als Zeitzeuge nimmt er uns mit auf diese unterhaltsame Reise.
Vorwort


Der ‚rote Faden‘, weil der Blick auf Ereignisse gerichtet wird, die einen inneren Zusammenhang zu haben scheinen. Ereignisse einer Biografie, die hauptsächlich in Deutschland spielt, und zwar bis heute.
Warum der ‚blaue Faden‘ ins Spiel kommt, kann ich nicht genau sagen. Er hat sich von selbst eingefunden. Blau ist die Farbe des Himmels, der unbegrenzten Weite, der Leichtigkeit, des Ungreifbaren und der Freiheit, die im Rahmen einer Biografie nicht von selbst da ist, sondern Ergebnis einer Befreiung. Vielleicht ist der blaue Faden einfach die immaterielle Essenz des roten oder dessen Transformation zum formlosen Blau.

Dieses Buch zu schreiben, schwebte mir schon lange vor. Bisher gab es dazu jedoch keine Vorstellung – weder für die Form noch für die Konzentration. Doch plötzlich war beides da. Als Form stellte sich (wie die Lösung eines gordischen Knotens) die Gliederung in Kapitel ein, wie eine Sammlung von Kurzgeschichten mit innerem Zusammenhang. Stilistisch werden unterschiedliche Sprachstile miteinander verwoben, eine Art Spiegelbild des lebendigen Sprachgebrauchs. Das Artifizielle spielt eine untergeordnete Rolle und wechselt sich ab mit Alltagssprache.

Ich danke den vielen Menschen, denen ich freundschaftlich begegnen durfte. Ich danke den Lebensgefährtinnen, die mich begleitet und zu Erkenntnissen meiner selbst verholfen haben. Und ich danke meinen Kindern, von denen ich viel gelernt und die so manche Eiskruste in mir zum Schmelzen gebracht haben. Besonders danke ich Dorothee, die mir eine beglückende und bisweilen schmerzliche Ehrlichkeit in der Akzeptanz der Ebbe und Flut des Lebensflusses vermittelt hat.

Gewidmet sei dieses Buch meinem Bruder Harald.

Sigurd Saß

Mallorca, 26.02.2016/
Röpersberg Ratzeburg, 03.11.2016/
Grassel 20.04.2017 – 2019/
Mallorca und Grassel 2022



Kapitel 1 - ANKUNFT


Da war dieser Junge.
Laufen, laufen, laufen,
fällt mir bei ihm ein.

Mein Gott, was bin ich mein Leben lang gelaufen: Paris total – ohne Ende –, fast nie die Metro benutzt, von Deutschland übers Elsass, dann den Doubs und die Rhone hinab bis zur spanischen Grenze, Port Bou, Pyrenäen, Barcelona mit der ersten heißen Schokolade, in der der Löffel stand …

Doch zurück zu dem Jungen.
Der lief wie ein Seemann, als er nach dreiwöchiger Reise in Hamburg von Bord ging. Eher geführt wurde oder gar getragen?
Er war ja erst zwei. Für ein Leben, das gerade mit Mühe vom Krabbelalter in den aufrechten Gang gelangt war, waren drei Wochen auf dem Schiff ein prägender neuer Kosmos gewesen.
Da musste man breitbeinig gehen und stehen, damit die Schaukelei einen nicht umwarf.

Großvater hatte sein Amüsement, als er den kleinen Brasilien-Geborenen mit seinem wackeligen Spreizgang in Empfang nahm.

„Wie ’n oller Seemann – guckt euch den an – klasse – und dann mit seinem Windelpaket zwischen den Beenen.“

Er konnte trotz der Empfangsreise nach Hamburg seinen Berliner Dialekt nicht verbergen.

Das war also die neue Welt.
Etwas ist abgeschnitten, spürte Sigurd in seiner kleinen Brust.
Das Abenteuer auf dem Schunkelboden war vorbei.
Es war so abrupt, dass er nun wieder aufpassen musste, auf dem starren Untergrund nicht aus der Balance geworfen zu werden. Zaghaft, wie zur Erprobung von Glatteis, ertastete er mit seinen Füßchen den unbekannten Boden. Mit seinen Augen suchte er nach bekannten Haltepunkten. Doch die gab der Asphalt nicht her. Viel Mut kosteten die ersten torkeligen Schritte auf dem neuen Kontinent.
Laufen, laufen, laufen.
Übungen für eine neue Welt.

Noch vieles mehr war abrupt. Der Himmel erschien so grau wie das Licht. Die Luft fühlte sich kühl an. Auf den Boden konnte er seinen Po nicht – wie gewohnt – weich fallen lassen. Hart war der, staubig und steinern.

Sigurd vermisste das vertraute Karree des Kinderställchens auf dem frischen Gras der Tijouka. Von tief innen überflutete ihn ein Glücksgefühl, wenn er daran dachte, wie eine reife Zitrone neben ihn geplumpst war. Sein Blick, nach oben gerichtet, hatte gesucht, wo sie wohl herkam. Dort im Blätterdach über dem Ställchen hingen ganze Scharen. Und wenn eine von diesen wohlriechenden gelben Bomben vor seinen Füßen gelandet war, war das immer wie ein Geschenk des Himmels zum Spielen, Matschen und Naschen gewesen.
Vor allem fehlten ihm die tausend kaleidoskopischen Figürchen, welche die Sonne durch das Blätterdach auf den Rasen geworfen hatte. Welche Freude hatte es ihm stets gemacht, danach zu haschen. Geheimnisvolle Wesen – nie ließen sie sich greifen, auch wenn er sie schon gefangen wähnte.

Zwei Kinderjahre prägender Erfahrung:
Das Leben – ein fröhliches Spiel in Wärme und Licht, eingebettet in eine grüne Farben- und Formenvielfalt. Zitronen-, Orangenbäume und Bananenstauden. Im Wind zitterte der Bambus. Palmen, Oleander, Mimosen, Canna da India, Bougainvillia und vieles mehr verbreiteten ihre Düfte. Am Boden leuchteten in Grün, Gelb und Ocker die Halme der Rasenflächen. Dazwischen hockten felsige Steine wie vertraute Kobolde. Sie winkten grüßend zum großen Bruder ‚Gavea’ hinüber, dem Felsmassiv am Horizont von Rio de Janeiro.
Der Rasen war von sandigen Wegen durchzogen. ‚Boami’ hatte sie in unermüdlichem Laufeifer wie Wildwechsel geprägt. Die Schäferhündin gehörte wie der 2 Jahre ältere Bruder und das Kindermädchen zum Ensemble des mauerumfriedeten Gartens. Sie passten auf, dass sich keine Schlange dem Ställchen näherte. Sigurd hatte die Hündin stets mit jauchzender Freude empfangen, wenn sie sich zum Kuschelstündchen eingefunden hatte.

Gebäude hatten in diesem tropischen Naturreich nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Sie waren sporadisch besuchte Schutzzonen für die Nacht oder gegen die Mittagshitze oder in der Regenzeit.

Außer den tausend tanzenden Figuren aus dem Wechselspiel von Licht und Schatten herrschten vor allem die vertrauten süßlich-aromatischen Gerüche vor – mmmhhh – durch Sigurds Erinnerung zog der intensive Duft der Mangoblüten. Und dann die befreundeten und doch so geheimnisvollen Geräusche. Das Zirpen der Grillen verstummte nur zur Zeit der größten Mittagshitze. Ab und zu durchdrang der Schrei eines wilden Papageis die Stille. Die Kolibris an den Blüten der Trompetenblumen – wenn Sigurd ganz still und aufmerksam lauschte, konnte er ihren Flügelschlag wahrnehmen.

Spaß hatte Sigurd besonders das Plätschern von Vaters Gartenbewässerung gemacht. Er hatte von seinem Ställchen aus zusehen können, wie Papa sie gebaut hatte. Die dicken Bambusstangen für die Wasserführung durch den Garten hatten schon beim Abladen tolle Klänge hervorgezaubert. Zuerst ein Orchester klappernder Trommeln. Tiefe hohle Basstöne hatten sich später mit hellen, flötenden Pfeifgeräuschen gemischt, wenn der Wind an ihnen vorbeigestrichen war. Und wenn Papa die Bambusstämme gespalten hatte, war das immer ein Knacken, Zischen und Summen gewesen. Ein Konzert, welches Sigurd oft einen lustvoll freudigen Laut entlockt hatte.
Manchmal hatte das Rauschen der Blätter im Garten angekündigt, dass ein Luftzug von den nahen Bergen heruntergefallen oder zusammen mit Salzgeschmack vom Meer heraufgefegt war. Das war stets ein dankbar empfangener Moment der Kühlung gewesen.

Das zusammenwirkende Gewebe der Erlebnisse rundherum, es war wie die ineinandergreifenden Fasern eines großen Nestes, vertraut und doch immer für Entdeckungen gut.

Nun diese abrupten Wechsel.
Zunächst das Schiff als schwimmende Mammutschaukel. Statt Pflanzen gab es nur Treppen und Türen, große und kleine Räume ohne Grün und ohne Fenster. Immer musste Sigurd aufpassen, nicht getreten zu werden. Die Vielzahl an Beinen und Schuhen war manchmal enger als ein Bambusdickicht. Wenn er nicht auf Papas oder Mamas Arm war, hatte er sie direkt vor der Nase: diese großen, kleinen, dicken, dünnen, uniformierten, müffelnden und parfümierten Füße. Drei Wochen lang täglich dieselben Abläufe in der wiegenden Bewegung auf dem Ozean.

Einmal hatte es eine Tagesunterbrechung in Lissabon gegeben, bevor es weitergegangen war. Nun schließlich der harte, feste Boden des Hamburger Hafens. Er war wie ein Angriff auf den wiegenden kinderbeinweichen Gang des frisch eingeschifften brasiliendeutschen Lebens.

Laufen, laufen, laufen.
In die neue Welt.

Der Großvater stand mit ausgebreiteten Armen da.
Sollte Sigurd es wagen, die letzten Meter mit wackeligen Beinen zu überbrücken? Großvaters Lachen verhieß eine sichere Zuflucht. Also los.

Opa Paul und Oma Martha waren den Kindern schon vertraut durch einen Besuch in Brasilien und durch die Gespräche der Eltern. Ein enges Band war zudem gewachsen durch die vielen oft sehnlichst erwarteten Postsendungen aus der alten Berliner Heimat. Jedes Mal waren die Briefe wie ein Ritual im Familienkreis geöffnet und vorgelesen worden.
Dabei hatten die Kinder schon immer gespannt auf die Geschichten von Opa Paul gewartet. Stets hatte er etwas Lustiges zu erzählen. Schon bald konnten Sigurd und Harald die Briefe von Mutters Eltern gut von dem viel ernsteren Ton der Oma Hulda unterscheiden.

Nun waren es die Arme vom lebenslustigen Opa Paul, die zur Begrüßung in die neue fremde Welt einluden. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für die Beine und das Gefühlsleben eines 2-Jährigen.



Kapitel 2 - BERLIN


Mit dem Einzug in die Berliner Wohnung waren bei den Eltern die früher erlernten sozialen Abläufe eingekehrt. Für die Kinder stellten sie einen ungewohnt domestizierenden Rahmen dar.

Da war dieser Junge.

Sein begeisterungsfreudiger Entdeckerdrang, der in der Tijouka so manches „Oh“ und „Ah“ bei den Eltern und bei Besuch hervorgerufen hatte, erlebte eine unerwartete Vollbremsung.
Vater kam einmal dazu, als er in andächtiger Inspiration aus selbstproduzierter brauner Windelknete eine überkindergroße Wandmalerei zauberte. Sigurd war so entrückt in die geheimnisvollen Schlangen, die sich aus dem braunen Brei durch seine Finger auf die Tapete schlängelten, dass Vaters Reaktion ihm wie ein Schock durch seinen kleinen Körper zog. Denn anders als erwartet wurde sein Tun mit Geschrei und Bestrafung geahndet. Verständnislos konnte er sich nur zusammenducken, wie Boami, die brasilianische Hündin, es bei einem unerwarteten Gewitterschauer getan hatte.

Ähnlich ging es Sigurd bei der Untersuchung des Stoffbären. Er hatte eine aufregende Entdeckung gemacht. Innen war der Bär mit Sägespänen gefüllt. Zunächst etwas enttäuscht fand er heraus, dass es durchaus ein tolles Material zum Spielen war. Es ließ sich, wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel, als Wegmarkierung verwenden. Wie Hänsel im Märchen zog er streuend durch das Labyrinth der Berliner Wohnung: vorbei an den zwei Badezimmern, an der Dienstbotentreppe zum Hof, durch die zwei Flure, vorbei an der historischen Mädchenkammer, durch 3 von den 5 Zimmern, zum Eingangssalon und der Küche. Am interessantesten war der Weg um den großen Flügel im Wohnzimmer, weil sich unter ihm auch Möglichkeiten zum Verstecken boten. Konzentriert und versunken legte er seine Spuren durch die gesamte Wohnung an, wie Boami ihre Sandwege auf dem Rasen der Tijouka. Doch auch diese Erfindung fand nicht die Gegenliebe von „Ah“ und „Oh“. Es gab Schimpfe und einen Klaps auf den Hintern.

Besonders zu schaffen machte ihm der Wechsel in Vaters alltäglichem Verhalten.
Der hatte einen Raum der weitläufigen Wohnung als ‚Herrenzimmer‘ eingerichtet. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch war Papa verbarrikadiert wie hinter einer hölzernen Palisadenabwehr.
Die Wand in seinem Rücken erregte Sigurds Neugier. Sie war drapiert mit Utensilien, die er von Brasilien her kannte. Am liebsten wollte er sie gleich in die Hand nehmen und damit spielen.

Doch: „Die sind nur zum Angucken, darf man nicht anfassen.“

Mit diesem Verdikt versanken sie für die Kinder im Ozean des Unzugänglichen!
Es war derselbe Ozean, aus dem künftig zu Weihnachten die dampfbetriebene Eisenbahn hervorgeholt wurde und die nur der Berührung des Vaters vorbehalten war.

Doch in der Berliner Anfangszeit war der Ozean sowohl für die Kinder als auch für die Eltern noch jung. Auch im ungewohnten Zusammenleben mit einer Familie auf begrenztem Raum musste man seine Position erst durch Wegmarken definieren. Etwas anders als bei Hänsel und Gretel leitete Vater diese Wegmarken aus seiner eigenen preußisch-patriotischen Familientradition her. Die französischstämmige, sozialdemokratische Tradition der Schwiegereltern war zwar anziehend, doch noch fremd.

Bleibt die Frage, wieso werden die Wegmarken eines Erwachsenen wichtiger genommen als die eines Kindes? Ist es der Kampf des Verstandes gegen den Impuls aus der Seele?

Immerhin waren die Erinnerungsstücke an die Zeit in den Tropen ein Anfang der selbstbestimmten, nach Freiheit schmeckenden Selbstdefinition in der neuen Umgebung. Es war zu dieser Zeit noch nicht abzusehen, wie schnell auch die ‚Wandmalerei’ und Deko des Herrenzimmers (nicht nur die des Sohnes) ihren Wert einbüßen konnte.

Sigurd verfolgte in berührter Anteilnahme das Wachstum der Wanddekoration. Papas weißer Tropenhelm aus Rio war dort genauso aufgespießt wie einer jener faszinierenden, blau schillernden, handgroßen Schmetterlinge aus dem Garten der Tijouka. Sigurds armausgestreckten Kommentar „Metterling fangen“ quittierte Vater wieder mit Kopfschütteln.

Ähnlich einer Präsentation von Jagdtrophäen gab es an der Wand: zwei gekreuzte Macheten, Kurare-Pfeile und Bogen amerikanischer Ureinwohner, Schwarz-Weiß-Fotos mit geränderten Rahmen von Begegnungen mit Brasiliendeutschen und Einheimischen. Mitbringsel von den Maultierreisen durch den brasilianischen Urwald vor der Zeit von Mutters Schwangerschaften.
Auch ein farbiges Ölgemälde von der imposanten Ansicht der Gavea weckte bei Sigurd die Erinnerung an die Sicht von der Tijouka. Doch erschien sie wie ein lebloses präpariertes Tier gegenüber der dort erlebten Fülle von Duft, Geräuschen, Licht und Farben im tropischen Garten.

Das Minimuseum war ein manifestes Zeichen, dass diese Zeit der Vergangenheit angehörte. Konserve in der Sammlung der Erinnerungen.
Nur zur heimlichen Genugtuung oder für besondere Besucher wurde die intime Demonstration einer ad acta gelegten Lebensphase wie eine Schatzvitrine geöffnet.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Der rote Faden, der ein blauer wurde

Dorothea Hesse-Swikle

Narben erinnern mich an das Erlebte, aber sie definieren nicht meine Zukunft

Buchbewertung:
*Pflichtfelder