Der Mächtige Strom

Der Mächtige Strom

Eine Lebensgeschichte von der Mandschurei bis nach Taiwan


EUR 30,90
EUR 18,99

Format: 18 x 27 cm
Seitenanzahl: 512
ISBN: 978-3-903861-10-7
Erscheinungsdatum: 17.03.2021
Die fesselnde Autobiografie „Der Mächtige Strom“ gilt als literarische Sensation im Südostasiatischen Sprachraum. Chi Pang-yuan, die Tochter eines chinesischen Revolutionärs, beschreibt die dramatische Flucht ihrer Familie und das wechselhafte Leben im Exil auf Taiwan.
Prolog
Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter unermesslicher Tragik. Das leidvolle Schicksal der Juden in Europa wurde nach dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen literarischen Werken beschrieben und in beinahe ebenso vielen Verfilmungen nacherzählt. Weniger geläufig in der öffentlichen Wahrnehmung ist das asiatische Pendant des nationalsozialsozialistischen Vernichtungskrieges. Das japanische Kaiserreich hatte in nie dagewesenem Ausmaß millionenfachen Tod und abermillionenfache Vertreibung, vor allem über das chinesische Volk, aber auch über zahlreiche andere asiatische Völker gebracht. Jedoch überlagert von den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima, deren Klagelied Japan zu singen nicht müde wurde, geriet der Massenmord an der chinesischen Zivilbevölkerung nie wirklich in den Fokus des Weltinteresses und der Anteilnahme.

In der Geschichte zweier Generationen meiner mandschurischen Familie werden die Geschehnisse dieser noch nicht sehr weit zurückliegenden Zeit wieder lebendig. Auf dem langen Weg vom „Juliu He“, dem mächtigen Strom, bis nach „Yakou Hai“, der Bucht des Schweigens, möchte ich einen zeitgenössischen, persönlichen wie allgemeinen Einblick in die asiatische Welt des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des darauf folgenden Wiederaufbaus gewähren.

Juliu He als Ausgangspunkt der nachfolgenden Ereignisse war die Bezeichnung des „Liao-Flusses“ zu Zeiten der Qingdynastie (1644–1911). Er ist einer der sieben wichtigsten Wasserstraßen Chinas und gilt als Mutterfluss der Bevölkerung Liaonings im Nordosten Chinas. Am Ende unseres Weges steht Yakou Hai, eine kleine Bucht in der Nähe des Cape Eluanbi, an der Südspitze Taiwans, die vor allen Dingen aufgrund des dort 1883 erbauten, mittlerweile denkmalgeschützten Leuchtturms bekannt ist, der auch Weltruhm genießt. Im Volksmund heißt es, dass die Brandung, so stürmisch sie auch sein möge, verstumme, wenn sie diese Bucht erreicht.

Über 60 Jahre lang schwelte in mir das Bedürfnis, von meiner Heimat und den vielen selbstlosen, auf ihre Weise kämpfenden Menschen zu erzählen. Die fürchterlichen Wunden, die durch die unsägliche japanische Invasion, gefolgt von einem nicht minder grausamen Bürgerkrieg, in unsere Seelen geschlagen wurden, sind bis heute nicht verheilt. Und während der allgegenwärtige Tod und die bitteren Tränen der Flüchtlinge mit der Zeit verblassten, blieb uns Überlebenden die Gnade des Vergessens verwehrt. Oft stellte ich mir die Frage, wie wir Menschen trotz solcher Erfahrungen weiterleben können. Die Antwort ist so simpel, wie sie psychologisch fatal ist: Wir verdrängen!

Und so stürzte ich mich nach der Kapitulation Japans darauf, mein Studium in Wuhan abzuschließen, während in meiner mandschurischen Heimat der Kampf um die politische Vorherrschaft in China unter Einmischung und Sabotage Russlands zwischen den Kommunisten und den Nationalisten von Neuem entflammte. Kurz nach meinem Studienabschluss im Jahr 1947, es schien, als sollten die Nationalisten in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten die Oberhand behalten, erhielt ich dann eine provisorische „Ernennungsurkunde“ der Taiwan-Universität in Taipei, in der mir die Stelle einer Assistentin am Institut für Fremdsprachen angeboten wurde. Diese „Urkunde“ kam unerwartet und bestand zu meiner Verwunderung aus einer, unter damaligen Umständen durchaus üblichen, auf Reispapier handgeschriebenen Pinselschrift, wobei mir die darin in Aussicht gestellte Anstellung mit Weiterbildungsmöglichkeiten durchaus gefiel, auch wenn dies bedeutete, auf eine exotische Insel im Pazifik übersiedeln zu müssen.

Nur zwei Jahre später folgte, was wir lange für undenkbar gehalten hatten, die endgültige militärische Niederlage Chiang Kai-Sheks und der von ihm geführten Nationalisten. China stand vor der größtmöglichen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Während Mao Zedong (1893–1976) am 1. Oktober 1949 die kommunistische Volksrepublik China ausrief, kam mein Vater Ende November des gleichen Jahres mit der letzten Maschine aus der Kriegshauptstadt Chongqing nach Taiwan. Sein Zustand erschreckte mich zutiefst. Dieser Mann, der das Schicksal Chinas immer engstens mit dem Seinen verbunden gesehen hatte, der stets für sein Land und dessen Bevölkerung eingetreten war und für seine Überzeugungen gekämpft hatte, dieser Mann, der in den Augen all seiner Angehörigen, Freunde, Wegbegleiter und Schüler ein Fels in der Brandung war, saß nun stundenlang schweigend in unserer kleinen Dienstwohnung. Matt und niedergeschlagen saß er regungslos da, ohne ein Wort von sich zu geben. Die stürmische See des Krieges hatte den Fels zermürbt, die Brandung ihn zerschlagen und die Strömung ihn schließlich endgültig fortgerissen. Er war gerade einmal 51 Jahre alt gewesen, als der mächtige Strom seines Heimatlandes ihn wie Treibgut in die fremde Bucht des Schweigens von Taiwan hineingespült hatte.

In den darauffolgenden 60 Jahren konzentrierte ich mich auf meine Lehr- und Schriftstellertätigkeit, ständig darum bemüht, meine und die Horizonte meiner Schüler und Studenten zu erweitern. Und obwohl ich eine Vielzahl von Kommentaren verfasste, um andere Schriftsteller zu ermutigen, wagte ich selbst jedoch nicht den Blick zurück – kein einziges Wort schrieb ich über die nicht aus der Erinnerung löschbare Vergangenheit, die in mir und um mich herum lebte, und die mir mehr bedeutete als mein bescheidenes Leben. Vielleicht war es die unterbewusste Befürchtung, die mich hemmte: Ich kann und will die Geschichte nicht zerstückeln und wie einzelne Wäschestücke an den vertrocknenden Ästen eines absterbenden Baumes aufhängen. Das würde dieser Vergangenheit nicht gerecht werden. Ich will die Erinnerung an Menschen wachhalten, die sich voller Trauer und Verbitterung über ihre von Invasoren zerstörte Heimat, ohnmächtig im Angesicht der allgegenwärtigen Verwüstung, die keine Familie verschont hatte, auf den langen und gefährlichen Fluchtweg in den Südwesten des Landes bis in die Stadt Chongqing machten. Jene, die sich allen Leiden zum Trotz nie aufgegeben und eisern an ihrer Selbstachtung festgehalten hatten. Diese ihre Geschichte muss von ganzem Herzen fühlend und mit Ehrfurcht erzählt werden.

Ich muss von den guten, unkomplizierten Menschen erzählen, die nach Taiwan gekommen waren und sich mit Leib und Seele dem Aufbau und der Gestaltung einer modernen, alten Kulturnation verschrieben hatten. Von all den Menschen muss ich erzählen, die mich begleitet haben in den Jahren meiner Jugend, als Erwachsene und im Alter. Und plötzlich überkam mich die Angst, ich hätte zu lange gewartet, gezaudert, und wäre dem Blick zurück ausgewichen, so dass es womöglich schon zu spät war. Nun, wie aus einem langen Schlaf wachgerüttelt, wurde mir schlagartig klar, dass ich so nicht aus der Welt scheiden konnte. All diese Geschichten mussten zuvor erzählt werden, und zwar von mir.

Meine Eltern sind tot, mein Bruder und meine jüngste Schwester leben im fernen Ausland. So sind nach all den Jahren nur noch meine jüngere Schwester Ningyuan und ich auf Taiwan geblieben. Unsere Beziehung wurde dadurch umso inniger und liebevoller, auch weil sie die Einzige war, die verstand, weshalb ich keine Ruhe würde finden können, wenn ich die Vergangenheit nicht niederschriebe. Ich musste mit dem Buch beginnen und ich musste es vollenden.

Es ist Frühling im Jahr 2009 und die von mir handgeschriebenen Papierhäufchen aus den vergangenen vier Jahren sind zu einem Berg herangewachsen. Ja, es ist beinahe vollbracht. Ningyuan ist mit mir zum Gipfel des Datun Shans gefahren. Sie möchte mit mir die bevorstehende Veröffentlichung meines Buches feiern. Hierzu hat sie uns einen besonderen Ort ausgesucht. Genau hier vor mir, eingerahmt von den fruchtbaren grünen Bergen, die Taipei kesselförmig umschließen, schauen wir über die Bucht, in der der Tamsui in die Straße von Formosa mündet, in die herrliche Weite des offenen Meeres. So frei muss das Leben sein!

Hier oben denke ich intensiv an meinen Mann, Yuchang, der schon zu Beginn meiner Arbeit an diesem Buch schwer erkrankte. Ich frage mich nun, ob er meine Sicht auf diese zumeist gemeinsamen und wechselvollen Jahre geteilt und ob dieser Blick zurück ihm den gleichen Frieden des Geistes und des Herzens geschenkt hätte wie mir. Mein einzig verbliebener Wunsch ist es, dass unsere drei Söhne meine Freude über die Vollendung dieses Buches wahrhaftig teilen mögen. Mein Leben ist erfüllt.


Juni 2009





Kapitel I
Heimat nur in Liedern


Vorspann

Im letzten Jahr des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden zwei Personen, die später meine Eltern werden sollten, in Dörfern geboren, die etwa zehn Kilometer voneinander entfernt in der Flussebene des Liao in der Mandschurei lagen. Das Gebiet, in das sie hineingeboren wurden, ist ein riesengroßes fruchtbares Weideland. Eigentlich sollte es die ideale Heimat der Hirten mit ihren Rindern und Schafen sein. Aber in der Geschichte Chinas sind seit 2000 Jahren unzählige Kriege auf diesem endlosen Weideland ausgetragen worden, und so kam es, dass während der Blütezeiten der Han- und Tangdynastien auch eine Vielzahl an Kriegshelden aus dem Volke der Han entstammte. Die Mongolen und die Mandschus wiederum eroberten von hier aus ganz China und gründeten die Yuan- und Qingdynastien, die mehr als 400 Jahre über das Land herrschten. Die Familie der Chi stammte aus dem Han-Volk und hatte ihren Ursprung in Taiyuan, in der Provinz Shanxi. Nachdem sie in die Mandschurei ausgewandert war, ließ sie sich im Kreis Tieling, was so viel wie Eisenberg bedeutet, in der Provinz Liaoning nieder. Unser Gutshof Fanjiatun lag in der Nähe von Hetu’ Ala. Der Überlieferung nach dort, wo „der Drache der Qing-Herrscher aufgestiegen“ war. Die Provinzhauptstadt Shenyang (Mukden) lag nur eine Stunde Bahnfahrt von uns entfernt.

In meiner Kindheit hörte ich bei meiner Großmutter immer von älteren Verwandten, Tieling liege am Ende der Großen Mauer. Im 17. Jahrhundert, nachdem sich die Qing-Herrschaft in Peking etabliert hatte, befahl der erste Kaiser Kangxi den Weiterbau der Großen Mauer einzustellen, denn das Feindbild der Chinesen außerhalb der Langen Mauer entwickelte sich bereits zum Herrn des Hauses, und wovor sollte man sich noch schützen? Angefangen bei der ersten Qin- über die Han-, Tang- und Song- bis zur Mingdynastie hatte China immer erhebliche Grenzprobleme mit dem Norden gehabt. Am Ende der Mingdynastie gelang es den Mandschu-Armeen, in die Reichsmitte Chinas einzudringen; nicht einmal die tausende Kilometer lange Große Mauer konnte ihnen Einhalt gebieten. Zuzeiten der Späten Qingdynastie und des Anfangs der Republik China waren die drei mandschurischen Provinzen im Nordosten mit ihrem riesigen Weideland, das eine Fläche von 1.230.000 Quadratkilometern ausmachte, zwar integraler Bestandteil Chinas, aber China war durch Konflikte mit der Außenwelt und Unruhen im Inneren bereits stark geschwächt. Die Grenzzwischenfälle mit dem Nachbarn Russland häuften sich und für Japans expansionistisches Interesse an einer „Neuordnung im Kreis Groß-Ostasiens“ bot es ebenfalls ein einladendes Ziel. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen brachte der Mandschurei großes Unheil und verheerende Katastrophen. Doch die unnachgiebige Seele des kriegerischen Nomadenvolkes blieb am Ende unbesiegbar.

Ich wurde in eine leidvolle Zeit hineingeboren. Mein Leben war eine einzige Wanderschaft. Für mich gibt es kein heimisches Fleckchen Erde, wohin ich zurückkehren kann. Für mich existiert die Heimat nur in den von Sehnsucht ergriffenen Gesängen. Und diesen Liedern lauschte ich schon während meiner Kindheit – lauschte meiner Mutter, die häufig voller Schwermut sang. Es war immer dasselbe Lied: „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee. Er lebte als Gefangener neunzehn lange Jahre, umgeben von Eis und Schnee …“ 20 Jahre später, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, in der subtropischen, schneefreien Stadt Taizhong auf Taiwan, unweit vom nördlichen Wendekreis des Krebses, sang sie noch immer dieses Lied, diesmal an der Wiege meines Sohnes. Da sagte ich zu ihr: „Aber Mutter, kannst du denn nichts anderes singen?“, woraufhin sie das Lied „Frau Meng Jiang klagt an der Großen Mauer“ anstimmte, das von ihrem großen Schmerz über den bitteren Verlust des Ehemannes handelte.

Mutter war 19 Jahre alt, als sie mit Vater verheiratet wurde und zur Familie Chi kam. Einen Monat später ging Vater bereits zum Studium ins Ausland. Er kam nur einige wenige Male während der Sommerferien nach Hause. Unmittelbar nach seiner endgültigen Rückkehr aus dem europäischen Ausland schloss er sich General Guo Sunglings Revolutionsbewegung in der Mandschurei an. Er wurde schließlich ins Exil verbannt. Etliche Jahre lang war es ihm verboten, nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu besuchen. Während all dieser Zeit musste meine Mutter sich und uns Kinder ganz allein durchbringen. Die schiere Hoffnungslosigkeit des langen Wartens hatte tatsächlich sehr viel Ähnlichkeit mit der verzweifelten Lage des Han-Beamten Su Wu und dessen historisch belegter Verbannung. Während all der langen Jahre konnte auch er nichts anderes tun als zu warten und dafür zu sorgen, dass aus seinen Lämmern Schafe heranwuchsen.

Als Mutter bereits 30 Jahre alt war, wurde es ihr endlich gestattet, die drei Tage und zwei Nächte dauernde Bahnfahrt über den Shanhai-Guan, einen weitläufigen Berg- und See-Pass, ins Landesinnere zu unternehmen, um doch noch ein gemeinsames Leben mit unserem Vater zu beginnen. Von nun an begleitete sie ihren Mann von Ort zu Ort. Dabei entfernten sie sich immer weiter von der Heimat. Es verwundert also kaum, dass Mutter wirklich kein anderes Wiegenlied kannte außer „Su Wu, der Schäfer vom Baikalsee“.

Noch bevor ich mein 20. Lebensjahr erreicht hatte, war ich bereits vom nordöstlichen Abschnitt des Liao-Flusses bis nach Südchina gewandert, von dort aus am Jangtse-Jiang und Min Jiang entlang Richtung Südwesten bis nach Dadu He. In dem acht Jahre andauernden Widerstandskrieg gegen Japan existierte meine Heimat für mich weiterhin nur in den Liedern. Unzählige Menschen aus allen Himmelsrichtungen Chinas waren nach Chongqing unterwegs, und sie sangen gegen ihre wachsende Verzweiflung an, während sie auf der Suche nach Rettung jeden noch so abgelegenen Fluchtweg probierten, immer wieder hilflos umherirrten und sich selbst durch knietief verschlammte Pfade kämpften, oftmals inmitten der Bombenhagel und begleitet vom Donnern der Kanonen. Was waren das für Lieder, die sie sangen? Was waren das für Lieder, die sie nicht aufgeben ließen?
Es war das Lied:

„Zehntausend Meilen lang ist die Große Mauer,
Zehntausend Meilen lang …
Jenseits der Mauer, dort liegt meine Heimat …“

Doch wie sollte ich mir eine solche Heimat vorstellen?

„Meine Heimat liegt im Nordwesten am Sungari-Fluss …
unendlich sind dort die saftigen Weiden,
unzählig die Herden von Vieh darauf …“

Während wir diese Lieder sangen, sehnte sich ein jeder nach dem eigenen Heimatfluss, der einem dann so unbeschreiblich schön vor Augen schwebte, wie der Yongding-Fluss, der Gelbe Fluss, der Han, der Huai, der Gan, der Xiang, der Gui, der Yi oder all die anderen herrlichen Flüsse des Landes. So begleitete mich meine Heimat in den sich stets fortbewegenden Strömungen:

„Unter meinem Holzfenster rauschet Nacht für Nacht der Fluss dahin,
sein Schluchzen jedoch bleibt, es flutet mir durch Herz und Seele!“



1 Der Anfang

Ich wurde am Tag des Laternenfestes im Jahre 1924 geboren. Um diese Jahreszeit herrscht in meiner Heimat, der Provinz Liaoning, eine strenge Kälte mit Temperaturen von minus 20 bis minus 40 Grad Celsius. Meine Mutter war während der Schwangerschaft sehr krank gewesen, weshalb ich schon mit einer schwachen Konstitution zur Welt kam. Als Säugling kränkelte ich häufig, und eines Tages, ich war kaum ein Jahr alt, bekam ich sehr hohes Fieber, welches sich nicht mehr senken lassen wollte. Mein Zustand wurde immer kritischer. Am Ende konnte ich kaum noch atmen. Mutter saß auf dem Kang, einem beheizten Bett aus Lehmziegeln, welches bei uns im Nordosten Chinas gebräuchlich war, und presste mich ganz fest an sich. Eine Verwandte, die angereist war, um bei uns das Frühlingsfest zu feiern, sagte zu ihr: „Das Kind ist doch so gut wie tot. Es atmet kaum noch. Warum hältst du noch an ihr fest? Lass es doch einfach sein!“ Meine Mutter konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, aber sie gab mich auch nicht her. Es war bereits Mitternacht, als meine Großmutter schließlich den Beschluss fasste: „Schickt einen der Diener in die Stadt, um einen Arzt zu holen. Mal sehen, ob der das Mädchen noch retten kann!“ Der Diener ritt also zu einem etwa fünf Kilometer weit entfernten Städtchen und fand auch tatsächlich einen Arzt, der nicht nur reiten konnte, sondern auch noch willens war, sich mitten in der Nacht und bei Eiseskälte zu unserem Landgut zu begeben. Und so wurde ich tatsächlich gerettet. Der sterbende Säugling, den Mutter beharrlich umklammert gehalten hatte, gewann bald wieder an Lebenskraft und sollte diese zurückgewonnene Vitalität nie wieder verlieren.

Laut Statistik betrug die Sterberate von Säuglingen zu jener Zeit um die 40 Prozent. Ein Leben wie das meine war also vergleichbar mit einem flackernden Öllämpchen im Wind. Die Liebe meiner Mutter jedoch und die Hilfe aller guten Menschen um uns herum waren wie ein Lampenschirm, der diese winzige, beinahe erlöschende Flamme vor dem Wind schützte. Einige Tage später kam der Arzt erneut in unser Dorf, um einen seiner Patienten zu besuchen. Meine Mutter brachte mich zu ihm und dankte ihm aufs Herzlichste: „Sie haben dieses Kind gerettet. Ihr Vater studiert in Deutschland und hat ihr noch keinen Namen gegeben. Würden Sie ihr nun einen Namen geben, um diese schicksalhafte Patenschaft des Glücks zwischen ihnen zu besiegeln?“ Der Arzt wählte für mich den Namen „Pang-Yuan“ (Bangyuan) und ließ mir damit bereits seinen zweiten Segen zu Beginn meines Lebens zuteilwerden.

Erst als Erwachsene erfuhr ich, dass sich mein Name aus der Verszeile „Jene, die mit Gott im Herzen alt wird“ herleitete, welche aus dem „Buch der Lieder“ stammte: „Ihre klaren Augen strahlen voller Liebe und wohlgeformt ist ihre hohe Stirn. Wahrhaft, sie ist eine Person von großer Schönheit! Sie ist die Prinzessin unseres Landes.“ Wie großzügig er war, dass er mir solch einen Segen gab. Den Namen einer Frau, die etliche Jahrhunderte zuvor gelebt hatte und für ihre Tugendhaftigkeit bekannt blieb. Er erwies mir damit eine Ehre, die ebenso groß wie furchteinflößend war. Ich, die ihr halbes Leben in dieser modernen Welt darum gekämpft hat, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, denke oft an jenen Arzt im Bergdorf meiner Heimat. Ich hoffe, dass er weiß, wie hart ich gearbeitet habe, um mich der Ehre seiner Segnungen würdig zu erweisen. Jener Segnungen, die er mir in einer Zeit zuteilwerden lassen hatte, wo das Leben eines Mädchens keinen Pfifferling wert war.



2 Familie Chi aus Tieling

Während meiner Kindheit erlebte ich die Welt als einen Ort ohne Vater. Als ich zwei Jahre alt war, sah ich ihn zum ersten Mal, doch das war nur eine flüchtige Begegnung. Mein Vater befand sich damals auf der Flucht, und eines Nachts, während draußen ein eisiger Schneesturm tobte, schlich er sich ins Haus und war im Morgengrauen bereits wieder verschwunden. Zwei Tage später brachten Großmutter und Mutter meinen älteren Bruder und mich zu einem nahegelegenen Dorf, welches noch kleiner war als das unsrige. Dort mussten wir uns eine Zeitlang bei Verwandten verstecken, weil die Truppen von Marschall Zhang Zuolin den Auftrag hatten, meinen Vater Chi Shiying festzusetzen. Als Verbündeter des abtrünnigen Generals Guo Sungling, der einen Putschversuch gegen den Marshall unternommen hatte, war er der Verschwörung mitschuldig und sollte daher, gemeinsam mit seiner gesamten Familie, hingerichtet werden. Während wir uns dort versteckt hielten, schrie ich jeden Abend, wenn es dunkel wurde: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause!“ Für Großmutter und Mutter war es eine unerträgliche Situation, da mein Verhalten alles noch schwieriger machte und sie befürchten mussten, unsere Verwandten in Gefahr zu bringen. Um dies zu vermeiden, beschlossen alle gemeinsam, dass wir wieder nach Hause zurückkehren sollten, und so legten wir unser Schicksal in Gottes Hände.

Der erste Vorfahre der Chi-Familie, von dem ich Kenntnis habe, war als Beamter des Landkreises Xugou in der Provinz Shanxi Anfang des 18. Jahrhunderts nach Fengtien versetzt worden, wo er sich nach einigen Jahren dauerhaft niederließ. Innerhalb dieser Ahnenreihe gehörte mein Vater zur inzwischen achten Generation. Unser Gut befand sich in Xiao Xishan, was Klein-Westberg bedeutet, weil es westlich der Stadt Fanjiatun lag und etwa 2,5 km von der Luanshi-Berg-Bahnstation entfernt war. Unser Grundbesitz hatte eine Fläche von etwa 400 Tian, also ungefähr 4000 Mu, was umgerechnet etwa 267 Hektar Ackerland sind. Nach damaligen Verhältnissen zählten wir zu den durchschnittlichen Großgrundbesitzern.

Mein Großvater Chi Pengda hatte vier Brüder. Als Jugendlicher wollte er nicht zu Hause bleiben und Bauer werden. Also ging er nach Baoding in der Provinz Hebei und besuchte dort die Offiziersschule. Er diente mehr als 20 Jahre lang in der Fengtian-Armee unter Marschall Zhang Zuolin, wo er zuerst vom Bataillons- zum Regimentskommandeur aufstieg und schließlich Brigadekommandeur wurde. Während dieser Jahre blieb er Zhang Zuolin stets treu ergeben. Mein Vater hingegen, Großvaters einziger Sohn, hatte Unmengen neuer Ideen im Kopf, als er von seinem Auslandsstudium in Deutschland zurückkehrte, und vor allem solche, wie man das eigene Land nach westlichen Prinzipien retten könnte. Deshalb schloss er sich Guo Sunglings revolutionären Bestrebungen gegen Marschall Zhang an. Der Putsch hat von seinem Anfang in Tianjin bis zum tragischen Fehlschlag gerade einmal einen Monat gedauert. Großvater war zu dieser Zeit gerade in Baoding, in der Provinz Hebei stationiert und hatte von Vaters Aktivitäten keine Ahnung. Jeder in der Mandschu-Armee erwartete, dass Marschall Zhang meinen Großvater exekutieren lassen würde, doch dieser erklärte zur Überraschung aller: „Der Vater ist des Vaters Generation, der Sohn entspringt einer anderen. Ich habe kein Interesse daran, die Zeche des einen mit dem anderen abzurechnen. Der alte Chi ist mir in all den Jahren immer treu ergeben gewesen. Sein Sohn, dieser Mistkerl, ist durch sein Auslandsstudium ein Wirrkopf geworden, doch das kann nicht bedeuten, dass ich deshalb den Vater töten lasse.“ Später wurde mein Großvater in einem Gefecht leicht verwundet. Er starb jedoch nicht an seiner Verletzung, sondern an einer darauffolgenden Erkältung. Sein Leben endete mit nur 50 Jahren.

Marschall Zhang Zuolin stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Bandit begonnen. Doch er besaß eben jenen Edelmut und ausgeprägten Sinn für Rechtschaffenheit, welche den raubeinigen Volkshelden dieser Epoche zu eigen war. Wegen seiner Unnachgiebigkeit den Japanern gegenüber wurde er bei einem von diesen inszenierten Bombenattentat während einer Zugfahrt in der Nähe des Ortes Huanggutun getötet. Auf solche Weise endete die legendäre Ära dieses Kriegsherren, der eine unermessliche Erbschaft hinterließ: die von allen Seiten bedrohte Mandschurei. Sein Sohn Zhang Xueliang (genannt „Jungmarschall“, 1901–2001) erbte seinen Titel, seine Macht und sein Vermögen. Doch es fehlten ihm die Führungsqualität, Weisheit und Würde, um ein derart großes Gebiet zu regieren. Der Traum von einer autonomen, in Wohlstand gedeihenden Mandschurei sollte niemals Wirklichkeit werden.

Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!

Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige, wohlwollende Frau. Sie mochte ihre Schwiegertochter sehr und hatte großes Mitgefühl mit ihr – der Frau ihres einzigen Sohnes, meiner Mutter. Doch auch sie selbst war von einer Schwiegertochter zur Hausherrin geworden, und deshalb wusste sie nur zu gut um die zwingende Notwendigkeit einer strengstens eingehaltenen Hausordnung. Auch wenn sie meine Mutter stets mit Güte behandelte und ihr niemals Steine in den Weg legte, so waren und blieben Regeln eben Regeln! Jedoch an diese erinnerte meine Großmutter stets mit sanfter Stimme. Obwohl wir eine große Dienerschaft besaßen, war es die Aufgabe der Schwiegertochter, der Mutter ihres Gatten das Essen stehend zu servieren und in respektvollem Abstand bei Tisch zu warten, bis diese ihre Mahlzeit beendet hatte. „So gehört es sich für eine Familie gehobenen Standes“, meinte Großmutter. Für mich hegte sie eine besonders herzliche Zuneigung, war sie es doch gewesen, die mir das Leben gerettet hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass sie, als ich etliche Jahre später ins Xishan-Sanatorium in Peking eingeliefert werden musste, so bitterlich um mich weinte.

Die Heimkehr des Großvaters war immer ein riesiges Ereignis. In jenen Tagen war er bereits ein mächtiger Offizier, daher standen vor unserem Haustor immer vier Soldaten mit Mauser Pistolen auf Wachposten.In Bezug auf Garderobe und Tischmanieren stellte Großvater hohe Ansprüche. Wenn es ihm nicht passte, explodierte er gleich. Die ganze Familie hielt so lange den Atem an, bis er wieder fort war. Mein Vater behauptete, Großvater sei durchaus offen für modernes Gedankengut gewesen, aber da er eine Person von solch großer Autorität war, habe es einfach niemand gewagt, mit ihm zu diskutieren.

Eines Tages, kurz nach meiner Geburt, kam Großvater nach Hause. Er blickte nur flüchtig auf den in Decken gehüllten Säugling, der auf den warmen Kang gebettet lag. Dann nahm er mit bedeutungsschwangerem Gebaren im Hauptsaal Platz und verlangte: „Bringt mir mal dieses Kätzchenmädel, damit ich es auch richtig sehen kann!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erweckte dieser Winzling, der kaum 2500 Gramm wog und es nicht einmal wert war, getragen zu werden, seinen Beschützerinstinkt. Er befahl daraufhin kurz und bündig: „Niemand darf meiner Enkelin etwas zu Leide tun! Das ist mein letztes Wort!“ Dieser Befehl galt insbesondere meinem älteren Bruder, seinem erstgeborenen und recht stämmigen Enkelsohn. Obwohl wir in einem Zeitalter lebten, da Jungen mehr zählten als Mädchen, so waren die Chis doch eine recht kleine Familie, und deshalb wurde jedes Kind als Schatz betrachtet. Durch Großvaters „militärischen Befehl“ war mein Stellenwert in der Familie deutlich gestiegen.

Während seiner Zeit beim Militär erhielt Großvater zum 40. Geburtstag ein hübsches Geschenk: eine zierliche und anmutige Konkubine im Alter von 20 Jahren. Jedes Mal, wenn seine Truppe versetzt wurde oder er in den Krieg zog, schickte er sie zu uns nach Hause, wo sie von Großmutter mit Freundlichkeit und Fürsorge aufgenommen wurde. Nur wenige Jahre später verstarb die junge Frau an den Folgen einer Tuberkulose und hinterließ einen Sohn, Chi Shihao. Kleiner Onkel Shihao war in meinem Alter, und so spielten wir als Kinder recht häufig miteinander. Mein großer Bruder und meine Vettern liebten es, ihn an der Nase herumzuführen. Und auch mir spielten sie gern Streiche, das machte ihnen einfach einen Heidenspaß. Kleiner Onkel hatte trotzdem das Glück, unter der schützenden Hand meiner Großmutter aufzuwachsen, denn sie erzog ihn stets mit viel Liebe. Nachdem die Japaner Nordchina besetzt hatten, wurde er als Absolvent der Mittelschule umgehend zum Wehrdienst in einer der Hilfstruppen für die japanische Armee eingezogen. Eines Tages, während er in seiner japanischen Uniform eine schmale Dorfstraße entlanglief, schoss ihm jemand in den Rücken. Vermutlich war dieser Jemand ein antijapanischer Widerstandskämpfer. Kleiner Onkel starb alleingelassen auf dieser abgelegenen Dorfstraße, was unserer Großmutter eine kaum zu verkraftende Trauer zufügte.

Großmutters Leben war überwiegend von Kummer und Einsamkeit geprägt. Es waren ihr nur wenige echte Glücksmomente vergönnt. Ihr einziger Sohn verließ bereits im Alter von 13 Jahren sein Zuhause, um in der Großstadt Shenyang die Schule zu besuchen, worauf er später zum Studium nach Tianjin, Japan und zuletzt nach Deutschland ging. Lediglich während der Sommerferien kam er sie besuchen, und auch das mit den Jahren immer seltener, da ihn seine Studien weiter von der Heimat weggeführt hatten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland schloss er sich der Revolution an und führte ab da ein Leben in ständiger Verfolgung, stets auf der Flucht, und rastete nur noch im Verborgenen. Nach dem Mukden-Zwischenfall im Jahre 1931 zog meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern und dem Kleinen Onkel nach Peking, welches damals noch den Namen Beiping hatte. Später dann, als sie langsam in die Jahre kam und Vater mit uns im Krieg auf der Flucht war, wurde sie häufig krank und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Sie hat ihren einzigen Sohn bis zu ihrem Tode nie mehr wiedergesehen.
5 Sterne
Sehr informativ und bewegend  - 24.03.2021
L. Eriksson

Die Lebensgeschichte dieser Frau ist wirklich sehr bewegend und faszinierend. Vor allem habe ich aber richtig viel über die Geschichte Chinas und die politischen Umbrüche dort gelernt. Und was es bedeutet, wenn man alles verliert und sich ein neues Leben aufbauen muss. Gerade in unsere gegenwärtigen Situation hat mir das auch viel Kraft und Zuversicht gegeben.„Der Mächtige Strom“ ist sprachlich sehr schön übersetzt und liest sich wirklich toll - ein echtes Vergnügen, dass einem einen sehr guten Eindruck gibt, was für ein sprachliches Meisterwerk die Originalversion sein muss. Den Übersetzern ist es, meiner Meinung nach, erstaunlich gut gelungen, nicht einfach nur von einer Sprache in die andere zu übersetzen, sondern auch die Atmosphäre der Erzählung und die Poesie zu vermitteln.Frau Chi, führt einem in ihrer Biographie sehr deutlich vor Augen, was im Leben wirklich zählt, nämlich vor allem das Geschenk des Lebens als solches, natürlich auch unsere Familie und liebe Freunde, sowie die Zeit zu nutzen, die uns zur Verfügung steht. Trotz Krieg, Tod und Vertreibung und dem ganzen Horror, der sich in ihrem Leben und ihrem Land zugetragen hat, beschreibt sie vor allem das, was ihr in ihrem Leben gelungen ist – Stärke und Zuversicht zu bewahren. Und, dass man mit Jammern nicht weiterkommt, sondern einfach mal machen muss, damit die Situation besser wird! Eine durch und durch bewundernswerte Lady.

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