Wir küssen uns auch im Winter

Wir küssen uns auch im Winter

Hans Jörg Raaflaub


EUR 26,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 310
ISBN: 978-3-99146-629-1
Erscheinungsdatum: 20.03.2024
Erzählung eines homosexuellen Marionettenspielers, der seine Leidenschaften zwischen Fantasie und Realität lebt. Zentral sind dessen Selbstreflexion, die Geister, die ihn umgeben, sowie zahlreiche Liebschaften.
Merlins Prolog

Ich erzähle verschiedene Liebesgeschichten, die aus einer – scheinbar – unwirklich außerweltlichen Eigentümlichkeit zusammengebaut sind. So ist daraus eine gemeinsame Liebesgeschichte über außergewöhnliche Menschen entstanden. Es zeigt, wie vielfältig die Wesensart dieser Persönlichkeiten ist und dass es keine klaren Abgrenzungen gibt. Jede Farbe kann zum Zuge kommen. Die Liebe wirkt sich da aus, wo sie zu Hause sein kann.
Ich habe die Liebe aufgesaugt, wollte zeitweise andere damit überschütten. Auf der anderen Seite konnte ich wiederum die Zuneigung eines Menschen nicht annehmen. Ich bin ein Mensch, der sehr auf Gefühle ausgerichtet ist. Unstimmigkeiten ertrage ich sehr schlecht. Beim Schreiben meiner Geschichten kommen die Bilder meiner Vergangenheit hoch. Ich erlebe sie noch einmal. War sie gut oder war sie schlecht? Ein Erinnerungswirrwarr breitet sich vor mir aus, es muss neu geordnet werden. Bild für Bild liegt plötzlich klar da. Es gibt Bilder, die man gerne anschaut, und dann gibt es Bilder, die man am liebsten löschen möchte, geht aber nicht. Auch sie bestehen ewig. Der einzige Weg ist die Betrachtung. Von welcher Seite der Betrachtung ergibt sich eine Versöhnung? Vielleicht kann man mit dieser Sichtweise seine Vergangenheit besser annehmen? Fragen, auf die es manchmal keine Antworten gibt. Aber da sind zum Glück auch die schönen Bilder, die einem Zufriedenheit schenken.
Mir war häufig nicht wohl in meiner Haut, ich fühlte mich außerhalb von allem und allen. Ich war nicht nur gefühlsmäßig dünnhäutig, sondern auch körperlich nicht gerade stark ausgestattet. Ich war ein Strich in der Landschaft. Das hat mein feinsinniges Wesen noch mehr gefordert, aber auch gefördert. Ich bewunderte immer die breitschultrigen Männer mit ihren lässigen Bewegungen, die mit kräftigen, Testosteron durchwirkten Muskeln zupacken konnten und vor nichts Angst hatten. Ich dagegen war bloß ein schmalspuriges Feinstäubchen im Gezerre der Menschheit.
Wenn ich mit einer kräftigeren Körperform bestückt gewesen wäre, wäre mein Umfeld vielleicht anders an mich herangekommen, wer weiß …



Steißgeburt

Merlin, der siebenjährige Junge, schmächtig, dünn, mit langen Beinen, liebte das alte schiefe Haus mit Plumpsklo, namens „Länghütte“, in dem er mit seinen Eltern einige Jahre wohnte. Das schmale, in die Länge gezogene Gebäude, es bestand eigentlich aus zwei aneinandergebauten Häusern aus den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts, wurde von der damaligen Herrschaft im bernischen Bremgarten verpönt und auch noch in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts von flinken Mäusen bewohnt. Ländlich war dieses Gebiet im wahrsten Sinne des Wortes, es wird auch heute noch so genannt: Ländli. Wie eine Sonnenterrasse gedieh es mit all seinen Wiesengründen, Fluren und Gärten und umschlungen von der ewig grünen Aare.
Merlin war ein Tagträumer, lebte in seinen Kunstgebilden. Seine Lehrerin war darüber nicht sehr amüsiert und zitierte seine Mutter prompt in die Schule! Merlin bildete sich darauf etwas ein, aber es artete beinahe zu einem Streitgespräch zwischen den beiden Frauen aus. Die Lehrerin wollte den verträumten Merlin ein Jahr zurückstellen, worauf seine Mutter empört widersprach. Der Unterricht dauerte ja schon ein halbes Jahr! Merlin beeindruckte das überhaupt nicht, er zeigte währenddessen stolz seiner Mutter seine Zeichnungen an der Wand. Was soll’s, das Fräulein Grimmig und Merlin hatten das Heu eh nicht auf der selben Ebene. Und die Schule war auch nicht sein Lieblingsort. Es gab Tage, da kehrte Merlin nach halbem Schulweg wieder um und stand plötzlich vor der verdutzten Mutter! Sie war ihm aber nie böse und schimpfte nie mit ihm, sie wusste wohl, dass ihr kleiner Junge oft neben den Schuhen stand. Für Merlin war das Fräulein Grimmig eine böse Hexe, sie mochte ihn überhaupt nicht. Zum Glück gab’s da noch Line, die gütige Fee, natürlich nicht in Wirklichkeit. Wenn er mit ihr zusammen war, war er glücklich. Line akzeptierte Merlin so, wie er war, bewertete und belehrte ihn nicht, von wegen Auslachen, davon war gar keine Rede! Das Wort „Muttersöhnchen“ musste er sich oft gefallen lassen. Sogar sein Vater bemängelte, dass er zu wenig Lausbub wäre!
Später, Mitte der 1960er-Jahre, als in der Schule ein Turnabend mit Publikum stattfand, die Eltern gönnten sich zum ersten Mal einen Fernseher, schwänzte Merlin diesen Anlass, weil Fernsehen zu dieser Zeit für ihn sehr verlockend war und weil an besagtem Abend gerade eine Musiksendung lief, die Merlin keinesfalls verpassen wollte; jegliche Aufnahmemöglichkeiten gab es damals noch nicht. Schon die Proben für diese Turnvorstellung waren Merlin mehr als zuwider, da er Turnen ohnehin hasste, und obendrein mussten die Buben seiner Klasse eine Art Pyramide bewerkstelligen und der Knabe über ihm roch penetrant nach Pisse. Da war für Merlin das Maß voll. Er schwänzte. Seine Mutter hatte nichts dagegen. Als dann am Abend die berühmte Schweizer Schauspielerin Margrit Rainer aus voller Kehle „En rächte Bueb, de muess en Lusbueb sy!“ (Ein rechter Bub, der muss ein Lausbub sein!) sang, kommentierte der Vater: „Hörst du das!“ Merlin war daraufhin sehr gekränkt und es tat ihm im Herzen weh, es verdarb ihm die ganze Sendung, wo er sich doch so darauf gefreut hatte. Er hatte doch die Schule geschwänzt, war das denn kein Lausbubenstreich? Oder wusste es sein Vater gar nicht?
Mutter bemängelte nie etwas, war sie vielleicht die Fee Line? Ja, irgendwie, aber irgendwie auch nicht ganz. Seine Fantasiereisen konnte er mit ihr nicht machen, da musste schon Line herhalten. Seine Mutter war sehr bodenständig und praktisch veranlagt. Der Vater arbeitete als Schlachter, war zwar nie zornig auf ihn, aber für Merlin hatte er nicht das Feingefühl. Merlin hasste dieses Tiereschlachten, auch zu Hause wurden die Kaninchen vor seinen Augen geschlachtet und ausgebeint. Das war dann der deftige Sonntagsbraten an Rotweinsoße. Merlin hatte sich irgendwie daran gewöhnt.

So fing alles an. Sommer 1953. Im Februar dieses Jahres hatten Myrthe und Robert, Merlins Eltern, sich in der kleinen reformierten Kirche in Gstaad das Jawort gegeben, während Merlin schon in Myrthes Bauch munter gedieh. Die Frucht ihres Leibes kündigte sich allmählich an. Myrthe war noch vor ihrem Umzug von Gstaad im Berner Oberland nach Pfäffikon im Zürcher Oberland beim Arzt zur Kontrolle gewesen und alles schien in Ordnung zu sein. Aber irgendwie stimmte doch etwas nicht. Nachdem seine Frau das Fruchtwasser verlor, benachrichtige Vater Robert sofort die Hebamme.
„Das Fruchtwasser verloren? Das macht nichts! Ich komme gleich!“ Die Hebamme ließ sich aber Zeit, während Robert verzweifelte. Endlich, so gegen vier Uhr, trudelte die Dame ein. Da setzten plötzlich bei Myrthe die Presswehen ein. Robert war in heller Aufregung: „Sollen wir nicht den Arzt holen?“ Das wäre nicht nötig, erklärte die Hebamme, sie wollte die Geburt auf ihre Kappe nehmen. Mittlerweile war es schon später Abend geworden und das Kind kam immer noch nicht! Als dann zum Schreck aller Beteiligten aus Myrthes Schoß schwarzes Blut rann, riss Robert der Geduldsfaden, er schwang sich aufs Fahrrad und fuhr ins örtliche kleine Spital. Dort wies man aber den verzweifelten Mann ab, weil kein Arzt zur Stelle war, nannte ihm aber dessen Privatadresse. Dort wurde der Doktor von dem hilflosen werdenden Vater aus dem Bett geklingelt! Der Arzt, der sich eiligst noch eine Hose über seinen Pyjama gezogen hatte, stellte später im Spital fest, dass sich das Kind im Mutterleib gedreht und die Steißlage eingenommen hatte. Um 0.30 Uhr in der Johannisnacht besah sich also Merlin die Welt zuerst mit seinem kleinen weißen Hintern. Myrthe, zarte achtzehn Jahre jung, schlotterte am ganzen Leib nach der mehrere Stunden andauernden Geburt. Am nächsten Tag wurde sie von heftigem Fieber geschüttelt, ihr Körper war völlig erschöpft. Ein Jahr später zog Merlin mit seinen Eltern wieder ins Berner Oberland zurück, weil sein Vater mit seiner Arbeitsstelle überhaupt nicht zufrieden war – im Gegensatz zu seiner Mutter, die die liebliche Gegend und die frische Brise des dortigen Sees sehr mochte.
Myrthe hatte nie ein leichtes Leben. Bei ihrer Geburt starb ihre Mutter und sie kam zu Pflegeeltern. Obwohl sie’s dort gut hatte, fühlte sie sich doch nirgends richtig angenommen. Roberts Vater starb auch jung, so wie er später auch. Merlin besitzt noch heute ein hübsches Foto von seinem leiblichen Großvater Emmanuel, den er nie kennengelernt hatte. Jemand hatte früher mal gesagt, dass Merlin ihm ähnlich sehe. Diese feinen Gesichtszüge seines Großvaters hatte er über all die Jahre, ohne dass es ihm bewusst war, auf eine stille Art in sich aufgenommen.
Robert musste schon als Knabe hart arbeiten, als „Statterbub“ verdingte man ihn bei den umliegenden Bauern. Auch im Wallis musste er auf den Höfen hart anpacken. Sein Aufenthalt dort im Oberwallis prägte ihn sehr. Auch der unverkennbare Dialekt hinterließ seine Spuren. Einen unvergleichlichen Satz, den er immer wieder gerne seinem kleinen Sohn verschmitzt kundtat, war folgender: „Mit ere Tschiffärätä Bäggletä emberief epperia glotza!“ Was so viel heißt wie: „Mit einer Hutte (Rückentragkorb) Abfallholz hinaufgehen zum Runterschauen!“
Sein Beruf als Schlachter war im Grunde genommen nicht seine wahre Berufung, die Arbeit als Schreiner hätte seiner nicht ganz starken körperlichen und seelischen Verfassung besser getan. Das Werken am Material Holz wäre für ihn gesünder gewesen, als Kühe aufzuschlitzen. Deshalb hatte er sich in den Alkohol geflüchtet, kam abends erst spät und angetrunken nach Hause. Es gab Streit und Myrthe weinte viel. Sie wiederum schlug sich als Kellnerin und Schuhverkäuferin durch. Ihre Vision war, einen Gastwirtschaftsbetrieb zu leiten, was sich später auch realisierte. Sie arbeitete ihr Leben lang sehr hart, gönnte sich nicht viel und weil sie sich, vielleicht unbewusst, schuldig fühlte, dass bei ihrer Geburt ihre Mutter starb, weil sie sich nie richtig eingebunden fühlte in ihrer Pflegefamilie, hielt sie später ihre eigene Familie mit straffen Zügeln zusammen. Sie wirkte damit zu streng, gegenüber sich und anderen. Sie trug das Herz auf der Zunge und war aufmerksam gegenüber anderen Menschen, aber baute trotzdem irgendeine Art Schutzmauer um sich herum, damit ihr Familienleben nicht durchbrochen wurde. Sie litt wahrscheinlich an einer diffusen Angst, dass jemand ihr etwas wegnehmen könnte. So mochte sie es auch nicht, wenn Merlin Schulkameraden oder Schulfreundinnen nach Hause einlud. Sie selbst pflegte nie eine enge Freundschaft, es waren höchstens Bekannte, mit denen sie verkehrte. Auch in späteren Zeiten hatte sie immer nur Kontakt zur jeweiligen Kundschaft, aber nie eine Busenfreundin. Obwohl Myrthe stets ein offenes Ohr für den Kummer anderer Leute hatte, gut zuhören und die Menschen hilfreich aufbauen konnte, traute sie sich selbst, außer zu ihrer Familie, nie eine engere Bindung zu einem anderen Menschen zu. Nicht nachvollziehbar war, als sie ihrem Sohn, als er noch klein war, vorhielt, nachdem dieser bei seiner Geburtstagsfeier seiner kleinen Freundin Vivi ein Küsschen gegeben hatte, das Küsschen doch bitte lieber ihr hätte geben sollen und nicht der Vivi. Immer die Angst vor einem Liebesverlust. Viele Jahrzehnte später, als sie im Spital im Sterbebett lag und gerade schlecht geträumt hatte, ihr Traum hatte ihr vorgegaukelt, dass Merlin einen Freund hätte, war sie außer sich und fragte ihn: „Gell, du hast keinen Freund?“ – aus lauter Panik, sie würde allein gelassen. Ihr rationales Bewusstsein hatte ihr wahrscheinlich noch nicht vermittelt, dass sie dem Tod sehr nahe war und ein Freund für Merlin gut wäre. Ariel indes hatte sich schon seit einiger Zeit aus dem engen Kreis befreit und lebte sein eigenes Leben. Ihn klammerte sie besonders stark an sich, nach Roberts Tod war er sozusagen ihr Ersatzpartner. Sie konnte es fast nicht begreifen, dass Ariel sich aus ihrer Bemutterung losgelöst hatte. Sie erkannte nicht, dass Kinder ihr eigenes Leben gestalten möchten und Partner oder Partnerinnen der Söhne auch für sie eine Bereicherung bedeuten könnte. Im Falle von Ariel war es eben auch ein Mann. Merlin, der mit seinem Bruder dieselbe Veranlagung teilte, setzte seine Bedürfnisse zurück. Es fehlte ihm zwar nichts, er kümmerte sich gerne um seine Mutter, besuchte sie häufig und sie kochte für ihn, aber im Hinterkopf fing er doch allmählich an, Möglichkeiten zu ersinnen, wie denn ein eigenes Leben, auch mit einem Partner, wäre.
Als Merlin damals seiner Mutter gestand, dass er sich zu Männern hingezogen fühle, er war zu der Zeit schon über vierzig, war sie nicht so sehr überrascht. Sie habe es mit der Zeit gemerkt, obschon sie eine Zeit lang noch gedacht habe, er würde heiraten und eine Familie gründen. Hätte sie aber seine Frau akzeptiert? Sie eröffnete ihm, dass Robert in seinen jungen Jahren mal dasselbe „Problem“ gehabt habe. Er habe einen innigen Umgang zu einem schönen Mann gepflegt. Vielleicht war es auch nur eine tiefe Männerfreundschaft gewesen oder eben doch mehr? Vielleicht fühlte Merlins Vater, dass es bei seinem Sohn ähnlich werden könnte, dass er nicht Frauen lieben würde und darum gerne gehabt hätte, dass aus ihm ein tougher Bursche mit allem Drum und Dran geworden wäre. Eine tiefgründige Angst hatte ihn deswegen womöglich beschäftigt.
Myrthe hatte zwei Seiten: eine bestimmende und eine verletzliche. Sie hatte Merlins Innenleben nie so richtig verstanden und doch hat er heute noch das Bedürfnis, ihr vieles mitzuteilen, ihr zu zeigen, wie sein Leben heute aussieht. Auch jetzt noch besteht zu seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter immer noch eine geheime Verbindung. Wenn Merlin irgendwo unterwegs ist, spürt er manchmal sozusagen ihre Gegenwart. Er stand seiner Mutter immer sehr nahe. Obwohl sie seine Wünsche nicht immer so wahrnahm, so versorgte sie ihn doch, so gut sie konnte, mit ihrer Wärme und Liebe. Als Kind hatte Merlin einen schrecklichen Traum: Mutter ging von zu Hause weg, er sah, wie sie sich immer weiter entfernte, bis sie schließlich hinter einem Hügel verschwand. In diesem Traumerlebnis spürte er, dass er seine Mutter nie mehr sehen würde. Dieses große Verlustgefühl plagte ihn noch am nächsten Tag.
Myrthe erkrankte mit Ende dreißig an Gebärmutterhalskrebs, wurde aber dank Radiumeinlagen geheilt. Nach etwa dreißig Jahren schlug der Krebs wieder zu. Sie war in den vorhergehenden Jahren nie mehr beim Frauenarzt gewesen, sonst hätte man es früher entdeckt und operieren können. Die Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten. Es folgten zwei sehr schwierige Jahre, bestimmt von Verzweiflung, Angst, Tränen, Operationen, aber auch Hoffnung. Am Anfang ging es Myrthe noch gut, doch dann ließen ihre Kräfte nach. Sie litt immer wieder unter Blutungen, was sie verzweifeln ließ. Ein übel riechender Ausfluss begleitete sie lange Zeit. Wieder durch eine Operation hatte das alles ein Ende. Sie konnte endlich nach Hause, es war Anfang des Jahres. Im Spital teilten die Ärzte Myrthes Söhnen mit, dass ihre Mutter noch alles klären sollte, denn in nächster Zeit werde sie sterben. Doch beide waren sich sicher, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen war und es noch eine Weile brauche. Sie behielten recht. Durch den Sommer hindurch erlebte sie noch ein Auf und sie war guten Mutes. Sie wurde gepflegt von ihren Söhnen und der Spitex, man hatte ein Spitalbett ins ebenerdige Wohnzimmer gestellt, damit die Pflege besser vonstattenging. Merlin und Ariel unternahmen mit ihr kleine Ausflüge, zum Beispiel in ein Gartenrestaurant. Hübsch angezogen und bester Laune genoss die zerbrechlich gewordene Frau diese schönen Momente. Doch als der Herbst sich näherte, verschlechterte sich ihr Zustand vehement und man verlegte sie wieder ins Spital, wo sie zwei Wochen später starb. Für Merlin eine sehr harte Zeit. Er war währenddessen zu ihr gezogen und hatte sich um sie gekümmert, auch sein Bruder Ariel war immer zur Stelle gewesen und hatte sich als perfekter Krankenpfleger entpuppt. Denn mit der Zeit war ein Darmstoma und später auch noch ein Nierenstoma ein Thema gewesen. Merlin hatte die psychologische Seite übernommen und hatte seine Mutter getröstet, wenn sie wieder mal in ein Tief gefallen war. Als Myrthe gestorben war, hinterließ sie eine große Leere. Merlins Trauer saß tief, zu tief, er stürzte sich in einen auffälligen Trauerkult. Er vergaß ganz, dass sein Leben auch noch wichtig war. Er hatte in den letzten Wochen bei ihr gelebt, damit er sich um sie kümmern konnte. Die Spitex hatte das Übrige getan und vor allem Ariel, der in der Nähe wohnte, war schnell zur Stelle gewesen. Als Myrthe dann gestorben war, entstand natürlich eine große Lücke, und die musste gefüllt werden, indem Merlin sich in dieses Trauervakuum begab. Es brauchte über ein Jahr, bis er sich schließlich losgelöst hatte und endlich eine befruchtende Lebensqualität zu genießen begann.
Der Vater war zu dieser Zeit schon lange tot, dieser hatte auch an dieser schlimmen Krankheit gelitten, sein ganzer Körper war von Krebs befallen gewesen. Merlin hatte zu ihm kein gutes Verhältnis, bei ihm fühlte er sich immer als Versager, vor allem in der Jugendzeit, aber als Merlin klein war, war Robert sehr fürsorglich und zärtlich zu ihm gewesen.
In der Vorweihnachtszeit fand in Bern im „Bürgerhaus“ in einem riesengroßen Saal eine sogenannte „Metzgerweihnacht“ statt. Da gab es eine Musikvorführung mit einem gewaltigen Akkordeonorchester, Jodelgesang und für alle ein Geschenk. Die Kinder holten sich ihre Weihnachtspäckli selbst. Doch musste jedes zuerst ein Gedicht kredenzen. Da standen schon einige Kinder vorne auf der Bühne und sagten die schönsten Weihnachtsgedichte auf! Da flüsterte Robert seinem damals siebenjährigen Sohn etwas ins Ohr, worauf dieser auf die Bühne sprang und lauthals am Mikrofon verkündete:
„I bin e chlyne Stumpe, rundum dick. I tschaupe i ne Glungge. Pfuiii, das sprützt!“
„Ich bin ein kleiner Stumpen, rundum dick. Ich tret in eine Pfütze. Pfuiii, das spritzt!“
Das Publikum grölte, der Saal tobte! You’ve never heard a Christmas poem like this before! Am meisten Spaß hatte natürlich Robert selbst, da war er doch ein bisschen stolz auf seinen kleinen Buben!
Merlin sah es kommen, dass es mit seinem Vater nicht gut ausgehen würde, denn er spürte, dass dieser unglücklich war. All diese drastischen Ereignisse, die wie ein Damoklesschwert herunterkrachten, prägten und formten stark Merlins Persönlichkeit. Für ihn war nicht nur das Leben, sondern auch der Tod immer gegenwärtig.

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