Warum erst so spät

Warum erst so spät

Wellengang einer späten Liebe

Helen Henckel


EUR 23,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 118
ISBN: 978-3-99130-443-2
Erscheinungsdatum: 04.04.2024
Eine Frau Ende 60, in Naturell und Aussehen weit jünger, und ein alleinerziehender Mann Ende 50 mit Kind – plötzlich zusammengeworfen in einer WG. Die pandemische Nähe und die enge Vater-Tochter-Beziehung stellen die Kraft einer späten Liebe auf die Probe.
Etwa nicht?

Fit und feminin, weiblich und single, seit fünf Jahren. Seit zwei Jahren im neuen Lebenskontext am See, weit weg vom erschöpften Lebenssubstrat im Westen, mit neuem Job und neuem sozialen Netzwerk. Und neuen Aufgaben.
Zufrieden – etwa nicht? Doch. Eine hohe Lebensqualität.
Glücklich – nein.
Auf Partnersuche – nein. Weder virtuell noch real.
Und dann doch gefunden – ja!
Einen Junior mit zehn Jahren weniger auf dem Lebenskonto – geht das?
Etwa nicht?!
Genderklischees liegen hinter mir. Und ihm.



1 Kurz, ja – und auch gut?

„Es ist so, als hätten wir uns aufeinander zubewegt, beide in unseren Lebensspuren, bis sie sich kreuzten, berührten und seitdem parallel nach Unendlich streben.“

Ein Küchenzettel mit dieser Notiz vom Mai unseres ersten Jahres taucht wieder auf. Und dies ist unsere Geschichte in Kürze:

Endlich!

Auf einer Baustelle kreuzen sich unsere Wege, an einem gräulichen späten Wintertag Anfang Februar. Absichtsvoll. Besichtigungstermin. Er, der Immobilienfachmann, der meine fast fertiggestellte Eigentumswohnung vermarkten soll, und ich, die mit dem Verkauf eine Fehlentscheidung korrigieren will. Ich will nichts mehr besitzen! Will flexibel sein! Mobil – räumlich und auch sonst. Als Dr. Lokalexperte in der fremden Großstadt ist er mir als Dr. Klientin von einem gemeinsamen Geschäftsfreund vermittelt worden. Die Lebensdaten sind gegenseitig bekannt, meine aus dem Kaufvertrag, seine von Google. Ich zähle 68 und er 58 Jahre. Lebensgeschichtliche Differenz, ja. Optische, energetische, nein. Es geht um ein Geschäft. Nur das. Wirklich? Er lädt ein. Zu Fortsetzungsgesprächen. Zu Tassen Kaffee, für beide schwarz, mit Schokobeiwerk, unser beider Lieblingssnack – stellen wir fest. Wir essen nie zu Mittag. Beide nicht. Gesprächsthemen ufern aus. Er kommt ernüchtert aus dem Westen: „Frau weg, Haus weg, Kind weg und wiedergewonnen. Jetzt alleinerziehend.“ Ich ähnlich westlich entwurzelt: „Mann verloren, Top-Job zu Ende, Haus verkauft, neugestartet im Osten.“ Gespräche gehen tiefer. Forschung, Familie und Freizeit, Arbeit, Alter und Absichten. Gespräche verlocken. Zum Wiedersehen, zum Anknüpfen, zur Nähe, zum Bleiben. „Mann, der wirbt ja um dich!“ Ich fasse es nicht! Kann er keine Jahreszahlen lesen?! Schnelle Wortwechsel und Gedankensprünge per E-Mail und WhatsApp, mit dem Du kommen neue Taufnamen, von ihm: Bella und Bero. Bei der Matinee mit Beethoven und Brahms Ende März im Konzertsaal öffnet er sich, lässt mich tief blicken: in Takt und Gefühl eines Mannes im freien Fall. Da gewinnt er mich. Für sich.

„Ich bin der Anfang!“, so schreibt er auf die Konzertkarte, am Ende eines lustvoll ziellosen Kiezbummels unter den ersten sonnigen Frühlingsstrahlen im März. „Komm gut heim, meine Bella, der Anfang ist gemacht“, so entlässt mich seine Kurznachricht auf WhatsApp auf den Heimweg. Kino löst Kultur ab. Die Toten Hosen toben über die Leinwand. Wir teilen die 80er-Jahre und die Wärme unserer Arme auf der plüschigen Sessellehne im Halbdunkel der obersten Reihe in einem Kiez-Kino. Teenie-Kuschelzeit déjà-vu! Dann sind wir die letzten Mitternachtsgäste auf Hochstühlen am Fenster in einer Weinbar, mit Blick in die Nacht und in unsere Augen, staunend, tastend, dabei sich fallenzulassen. Straßenkino. Falling in love – kein deutscher Satz hat diese Tiefe. Ich kutschiere ihn zurück.
(Er) „Rechts geht’s zu mir. Da schläft das Kind. Links geht’s zu dir. Und dann müsstest du mich mitnehmen!“

(Ich) „Also, wir sind hier ja in der wilden Großstadt, da kann ich auch mal quer über drei Fahrbahnen nach links schwenken.“

„Ja, genau so: frech und wild.“

Ich habe noch eine Zahnbürste in Reserve, quartiere ihn im Gästezimmer ein, eine Übersprungshandlung wie im Tierreich, kopfloser Rückzug mitten in der erhitzten Phase der Annäherung. Er begnügt sich:

„Ich bin ein Braver.“

Will aber wohl von mir gelockt werden. Doch ich bin eine Zaudernde, blocke ab, schleiche bis zum frühen Morgen an seiner geschlossenen Tür vorbei, die Hand bleibt zögernd auf der Klinke. Streichelnd. Eine Ersatzhandlung. Schwelgen im Werbezustand. Das kommt nie wieder. Diese Leichtigkeit seiner Umgarnung über Wochen – noch ein paar letzte Stunden weiter genießen oder den nächsten Schritt in seine Umarmung wagen? Die hellen Morgenstunden schaffen Klarheit. Und bescheren uns „Sekundenglück“, wie von Grönemeyers rauer Stimme besungen: „die einzigartigen Tausendstel-Momente …“

Schweifende Hände, suchende Lippen, kosende Blicke für den Funken, der endlich überspringt.

„Du hast viel vor heute. Wie viel Zeit bleibt uns?“

„Genug.“

„Dann komm. Mit. Mir.“

Textil fällt. Körper treffen. Aufeinander. Untereinander. Ineinander. Miteinander. Verlangend. Verlockend. Verzögernd. Vergeblich (sie). Vorzeitig (er). Verzeihend.

„Stell einen Ferrari mal jahrelang ungenutzt in die Garage. Der braucht auch fine tuning. Wir haben eine Welt voller Zeit.“

„Ja. Digging deep. In Herz und Körper. Ist ein Prozess, eine Paar-Bewegung, kein instant success.“

Schon im fünften Jahr sind wir beide jetzt auf Parallelkurs, auf Erkundungsgang, in pulsierender Nähe und auf glättender Distanz, in zwei Domizilen und zwei Aktionskreisen in zwei nahen Städten.

„Warum erst so spät?!“

Das ist Beros frühe kryptische Version von „Liebe kennt kein Alter“.

Unsere Geschicke also – die parallel nach Unendlich streben? Parallel, ja. Noch. Im fünften Jahr. Nur das zählt. Das Hier und Jetzt. Mit Distanz und Nähe. Hin und weg. Mehr zusammen als auseinander? Wer weiß das schon so genau. Im Rhythmus der unterschiedlichen Herzschläge jedenfalls. Im Gang der Wellen. Das ist Leben. Mein Leben. Seins auch?

Dies ist der Flickenteppich unserer Geschichte. Ich möchte Leerstellen darin füllen. Nicht alle, nur die Dreh- und Angelpunkte. Die richtungsweisenden. Nicht alles ist erzählenswert.

Und dies ist das Motto meines Lebens mit BellaBero – und meines WhatsApp-Accounts, sehr bald schon nach unseren federleichten Anfängen:

Wieviel Steine
geschluckt werden müssen
als Strafe
für Glück
und wie tief
man graben muss
bis der Acker
Milch gibt und Honig
Erich Fried, „Notwendige Fragen“



2 Anfang und Ende

Zwei, drei Monate hineingewachsen in unsere frische Beziehung. Ich möchte ihn dazu verführen zu fühlen. Lieben zu können. Tut er wohl. Auf seine Weise. Aber dies auch sagen zu können. Nicht nur stumm im Chatverlauf zu bekennen. Wie? Über sein Kind. Seine Tochter von fünfzehneinhalb Jahren. Nicht als Mittel zum Zwecke Machiavellis. Nein, ihretwegen. Aus Menschenliebe. Weil sie in ihrem jungen Leben schon so viele Brüche erlebt hat, familiär, schulisch, wohnlich, gruppendynamisch, körperlich. Weil sie es verdient. Und wert ist. Das werde ich ihm und ihr später einmal sagen.

Kaya verlocken, ein Interesse zu entwickeln, in die Gesellschaft hinauszugehen, bei anderen anzudocken. Bindungsfähig zu werden. Über die symbiotische Daddy-Kiddie-Achse hinaus. Schritt für Schritt. Sie trat im grauen Februar zeitgleich mit mir in den engeren Lebenskreis ihres Vaters – zurückgeholt vom anderen Ende der Republik nach einer Odyssee über fünf Jahre bei Gastfamilien und in Internaten. Seit der Scheidung ihrer Eltern. Nun isoliert in der Großstadt, an einer fremden Schule ohne Freundschaften, mit eineinhalb Stunden Schulweg und in der engen Wohnung eines Junggesellen-Vaters mit einem zeitraubenden Berufseinsatz.

Hoffentlich gelingt mir das mit ihr, nach und nach. Ich möchte Kaya nicht verschrecken, schon gar nicht belehren. Sie soll selbst Gefallen am Umgang mit anderen Menschen finden, möglichst mit Gleichaltrigen, an anderen Lebensräumen, am See bei mir, an Freizeitaktionen: Fahrradfahren, Laufen, Schwimmen, Boottrips, Partys, Einkaufen, Kochen, Essen. An Schule und deren Angebot, Wissen und Fertigkeiten zu erwerben und dies für ihr wachsendes Verständnis von Mensch, Gesellschaft und Welt zu nutzen.

Lass ihm Zeit. Let it grow. Let him grow. And her. Er soll seine Tochter aufblühen sehen. Keine Couch Potato mehr, keine Langeweile, keine Unlust am Leben draußen, keine Endlosschleifen in Social-Media-Kanälen.

Dreieinhalb Jahre später nach unserer ersten Begegnung. Kaya lebt seit zweieinhalb Jahren bei mir in der Mini-WG am See, hat eine neue Schule in meiner Kleinstadt gefunden, in der komfortablen Reichweite von 20 Minuten Fahrrad- und Busfahrt.

Kaya ist 18, aufgeblüht. Hat Gewicht zugelegt, mehr als ich es habe, und ist jetzt im vitalen Bereich ihrer jungerwachsenen Kräfte. Isst mit dem Appetit einer kalorienverbrennenden Jugendlichen. Kauft selbst Lebensmittel für sich ein, auf unseren motorisierten Einkaufstrips, bereitet sich kleine Mahlzeiten zu für Schule und Zuhause. Fährt bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad bis zur Bushaltestelle. Schwimmt und paddelt im See. Schwächelt nicht mehr vor herausfordernden Situationen und bei menstrualen Turbulenzen. Macht Sport, freiwillig und mit Vergnügen, Workouts bis zur selbstgewollten Erschöpfung. Scheut keine Nachbarn mehr, pflegt lockeren und vertrauten Gesprächsumgang mit ihnen. Adoptiert Nachbarins Katze, ein Haustier, das sie als angebliche Bakterienschleuder im Regiment ihrer biologischen Mutter nie haben durfte, und kehrt ihre fürsorgliche Seite heraus. Geht aus, geschönt, gestylt, und trudelt verlässlich nachts wieder ein, nüchtern, ohne Drogen, manchmal mit meinem Taxi-Service. Reibt sich pubertär an der einzigen Person, mit der das konsequenzlos möglich und für ihre Selbstfindung nötig ist: an mir. Legt einen guten Abi-Durchschnitt hin, knapp, aber sicher an der letzten Dezimalstelle zur nächsttieferen Notenstufe, mit dem Coaching-Antrieb ihrer WG-Hostess um eine Notenstufe erhöht. Was sie nicht wahrhaben will. Lädt auf massiven väterlichen Druck ihre Hostess zur Feier der Zeugnisübergabe ein. Lädt jedoch nicht zum Abiball ein, grenzt weiterhin die Frau an Papas Seite aus, vergibt keinen Familienstatus an Dritte.

Jetzt, als ich beginne unsere Geschichte zu schreiben, ist Kaya gerade 19 geworden, jungerwachsen und nach dem Abitur am See wieder zurück in Papas Wohnung in der Großstadt und von dort auf der Schulabschlussfahrt ans Mittelmeer. Selbstorganisiert. Selbstbewusst. Selbstverliebt. Im Hochgefühl des Abis eben, Torweg ins Leben. Bereit zu eigenen Wegen. Und ein halbes Jahr später wird sie weiter durchstarten: auf Selbstfindungskurs in Skandinavien.

Der Bogen bis zum gesetzten Ziel „Abitur“ ist ausgeschritten. Kind zufrieden. Papa stolz. Und entlastet.

„Ein Atlas-Gewicht ist von mir gefallen!“

So gesteht er mir. Und Kind auf Distanz. Zu Bella.

Ende gut – alles gut? Nein, nicht das Ende – zum Glück. Aber auch nicht alles gut. Habe ich ihn zur Liebe verführt? Der Gang unserer Beziehung entzieht sich jeder berechenbaren Erwartung – wie eine Welle.



3 Ein halber Erdkreis dazwischen

Ein paar Tage nach dem Abiball. Kaya im Juni in der Großstadt allein zu Haus. Für Bella und Bero ein Wochenende am See zu zweit. Kostbar. Sinnlich. Wie lange nicht mehr. Uns neu entdecken? Ohne zurück an den Anfang spulen zu wollen, den Zauber gibt es so nicht noch einmal. Und in asynchroner Rückschau mögen wir nicht leben. Das lässt den Blick für die Gegenwart verschwimmen. Nach dreieinhalb Jahren haben wir die Chance, uns auf einen neuen Wellengang einzulassen: Wie ist das, ohne Kaya unter bzw. zwischen uns?

Auf frischem, aber noch ungefestigtem Fundament sprechen sie am dritten und letzten Tag ihres langen Genusswochenendes über ihre Reisepläne.

„Ich habe Ferien in der Sprachenschule, vom 2. bis 20. Juli. Können wir mal über Reisen sprechen?“

„Ich habe für Juli drei Wochen Urlaub an der Uni eingereicht.“

„Super. Passt. Und was machen wir da?“

„Ich fahre nach Asien.“

„Du? Beruflich? Wie schon nach New York, Stockholm und Wien dieses Jahr?“

„Nein, touristisch.“

„Allein?“

„Ja.“

„Du willst nicht, dass ich mitkomme?“

„Nein.“

„Wann fährst du?“

„Vom 3. bis zum 24. Juli.“

„Du legst deinen Solo-Trip genau in meine freie Zeit?“

„Ja.“

„Warum?“

Er hat keine Antwort. Nur stumme Blicke aus leeren Augen. Dann ein vorsichtiger Versuch:

„Muss mal raus. Neu auftanken. Der Tod meiner Mutter im Frühjahr. Unsere Querelen. Der Wahnsinnsjob in Uni und Immobiliengeschäft … das Kind …“

Ihre Zurückhaltung schwindet. Ihre Reaktion ist impulsiver. Ihr summarischer Rückgriff:

„Nach zweieinhalb Jahren Marathon-Anstrengung für dein Kind, in meiner Nähe, in meinem Home, mit Verzicht auf meine räumlichen und zeitlichen Freiheiten, hab’ meinen Honorar-Job aufgegeben, mit extra Kraftanlauf zum Abi seit letztem November, mit wertvollen Notenpunkten auf ihrem Konto, nicht aus ihrer eigenen Anstrengung, du derweil die Woche über auf 40-km-Abstand in der Nachbarstadt mit totalem Freiraum für deine beruflichen Höhenflüge und deine soziale Kontaktpflege, mit Relaxstation hier am See am langen Wochenende, sie schleppt nach dem Abi von ihren Partygängen ein aggressives Virus ein, gegen das erst du und dann ich heftig anzukämpfen hatten, ich bis heute … Und das Erste, was dir am Ende dieser langen gemeinsamen Laufstrecke einfällt, ist: ICH brauche mal eine Auszeit!“

Er schweigt.

„Dann geh doch auch deinen weiteren Weg – allein, bello Bero! Lass uns splitten.“

Ihre Selbstkontrolle verlässt sie. Raus will sie, aus dem Zimmer, aus seiner Nähe, aus der Beziehung. Er kommt ihr nach. Hält sie.

„So schnell bist du raus, keine Woche nach ihrem Abschluss?! Und dem erreichten Ziel?!“


„Ich dachte nicht an ein Ende mit uns. Ich kann das trennen.“

„Wie? Solo und doch Partner bleiben? Und fragst mich nicht? Klammerst mich aus deinen Plänen aus? Ich bin nicht dabei, bei deinem Entscheidungsprozess? Nur in der Endabnahme?! Wie schon so oft.“

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