Tales Tenebris

Tales Tenebris

Düstere und skurrile Kurzgeschichten

Kevin Neubert


EUR 14,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 226
ISBN: 978-3-99131-855-2
Erscheinungsdatum: 15.05.2023
Von Gesellschaftskritik über Science-Fiction, Horror und vieles mehr – alles vereint in Form von Kurzgeschichten, die nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern den Leser auch mitfiebern lassen. Mal skurril, mal gruselig, mal mit einer boshaften Heiterkeit.
Vorwort

Ich habe mir die Rohform dieser Geschichte vor über 20 Jahren überlegt. Damals hatte ich noch kein Auto und war viel zu geizig, Geld für öffentliche Verkehrsmittel auszugeben. Außerdem hatte ich zwei gesunde Füße, einen Walkman mit Akku-Batterien, die ich zu Hause wieder aufladen konnte, und diverse gute Mixtapes mit spitzen Musik für unterwegs. Das reichte vollkommen aus, selbst wenn einem der Heimweg betrunken durch einen dunklen Park führt. Gegebenenfalls singt man einfach lauthals (und schief) mit.
Durch Zufall habe ich die erste, handschriftlich niedergeschriebene Seite dieser Story wiedergefunden, kurz nachdem ich mit der Geschichte in 2020 wieder angefangen habe, und ich war schon recht stolz auf mich, dass ich wohl in 20 Jahren einiges in puncto Stilistik und Dramaturgie dazugelernt habe. Das Ende jedoch war mir wirklich erst klar, als es so weit war. Sprich, wäre meine Verfassung an dem Tag, als ich die Geschichte zu Ende geschrieben habe, etwas anders gewesen, wer weiß, wie die ganze Sache dann für den Protagonisten ausgegangen wäre. Aber ist es irgendwie nicht immer so? Das Ende von unserem Lebensabschnittsweg hängt von unserer Verfassung an dem jeweiligen Zeitpunkt ab.



Der Beobachter

Für Vincent Vega und Jules Winnfield

Ich sehe Sie – und das nicht erst seit heute. Auch wenn Sie mich nicht sehen, so wandle ich doch mitten unter Ihnen. Und ich bin damit nicht allein. Wer von Ihnen hatte nicht auch schon mal dieses Gefühl, selbst wenn man, vermeintlich, mutterseelenallein war? Hier und jetzt kann ich Ihnen sagen: Sie haben vollkommen recht. Sie waren nicht allein und sind es auch niemals, selbst wenn niemand anderes da ist.
Dass Sie uns nicht sehen können, ist zwei Dingen geschuldet. Der UV-Strahlung Ihrer Sonne und der Beschränktheit Ihres menschlichen Körpers. Um genau zu sein, könnte man den letzten Punkt auch wieder in zwei Unterpunkte aufteilen, denn besagte Beschränktheit ist auch wieder der rückständigen anatomischen Entwicklung Ihres Auges geschuldet, auf das Sie ja nur wenig Einfluss hatten. Was das angeht, ist Ihre Spezies ja eher ein Opfer der Evolution geworden.
Was aber gänzlich auf Ihre Kappe geht, ist die Ignoranz, mit der Sie Ihren anderen Sinn geflissentlich ignorieren und damit nicht zuletzt der Engstirnigkeit des kümmerlichen kleinen Dings, das Ihre Spezies großspurig Verstand nennt. Denn Sie, die Menschheit, haben sich in den letzten fünftausend Jahren gegen alles abgeschottet, was Sie sich nicht erklären konnte, und dahin gehend weiterentwickelt, dass alles, was nicht im Lehrbuch steht bzw. seit Kurzem bei Wikipedia, schlicht weg unmöglich und somit nichtexistent ist. Und so ging Ihnen das Gespür für das Irrationale oder Magie, wie es früher genannt wurde, abhanden. Auch wenn es Ihnen täglich begegnet.
Ja ja … im Mauern sind Sie Menschen wirklich ganz weit vorne im ganzen Kosmos. Besonders wenn es sich um Mauern um eure Wahrnehmung handelt.
Da schaut man lieber in die andere Richtung, als sich mit dem auseinanderzusetzten, was einem am Anfang erst einmal unheimlich vorkommt und einen ängstigt. Aus den Augen, aus dem Sinn, wie Sie so schön sagen. Das ist einfach viel bequemer und Bequemlichkeit wird für einen Großteil von Ihnen recht großgeschrieben.
Aber bitte vergeben Sie mir, denn ich schweife ab. Ich könnte mich einfach Stunden darüber auslassen, was bei Ihrer Spezies alles bemerkenswert falsch gepolt ist, wobei ich mich absichtlich des umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „Stunden“ bediene. Dekaden oder Säkulum wäre wohl der richtige Terminus Tempus. Aber sehen Sie es mir nach. Solche wie ich existieren, um zu beobachten, weshalb man uns auch allgemein als Beobachter bezeichnet. Zugegeben nicht wirklich eine kreative Bezeichnung, aber sie bringt die Sache auf den Punkt. Selbstredend habe ich auch einen richtigen Namen, aber mit Ihrer sprachlichen Form der Kommunikation würde er sich lediglich wie eine Aneinanderreihung von atonalen Geräuschen anhören. Also fast so wie Dubstep oder wie das Geräusch eines laufenden Kernspintomographen, was ja fast dasselbe ist.
Bitte verfallen Sie jetzt nicht in Panik, rufen Sie nicht nach der Polizei, der Nationalgarde oder die Ghostbusters. Ich komme in Frieden und es gibt eh nichts, was Sie gegen uns tun könnten. Ich beobachte nun mal, gucke zu und da kommt es mehr als gelegen, dass Ihre Gattung mich nicht sehen kann. Aber wie gesagt, ich bin nicht allein und auch neben den anderen Beobachtern gibt es Dinge, die Sie nicht sehen können oder wollen. Und das ist vielleicht gar nicht mal so schlecht. Denn diese Dinge sind es, die Ihnen oftmals ohne Grund eine Gänsehaut verpassen, den Hund grundlos bellen oder die Katze wie von der Tarantel gestochen durch die Wohnung sausen lässt. Jedenfalls im besten Fall.
Diese Wesenheiten sind die Alpträume, die Sie plagen und der Schatten unter Ihrem Bett. Sie sind das Monster im Schrank und der Buhmann im Keller, der Kinder nachts nicht schlafen lässt. Sie sind die Furcht vor dunklen Orten, die unglückliche Schicksalsfügung und der plötzliche Herzinfarkt, der zu einem völlig unvorhersehbaren Tode führt. Sie sind die Monster, vor denen sich Ihre Vorfahren hilfesuchend an Schamanen, Druiden oder Zauberern gewandt haben, um sich dagegen zu erwehren. Sie sind die unsichtbare, vermeintlich unbegründete Angst Ihrer Spezies. Und diese Dinge zehren von Ihrer Furcht, laben sich an Ihrer Angst und hungern nach Ihrem Entsetzen.
Und genau so wenig, wie Sie was gegen mich und die Meinen machen können, können ich und die Meinen was gegen diese Dinge tun. Immerhin sind wir nur Beobachter, das ist unsere Natur, unser Sein.
Dafür existieren wir, ohne dabei grausam oder voreingenommen zu sein.
Das heißt aber nicht, dass Ihre Spezies völlig wehrlos gegen diese Dinge ist. Sie haben einfach nur vergessen, wie man es anstellt.

Ich befinde mich gerade in der Parkanlage „Hippergrund“ in Steinheim, es ist in Deutschland 03:38 Uhr am 05.04.1996 und der junge Tom Talmann befindet sich gerade auf seinem Heimweg. Tom kommt nicht etwa von der Arbeit oder von einem Date. Zwar hat er schon seit drei Jahren eine feste Freundin, Janina mit Namen, mit der er auch schon sein erstes Mal hatte und es seitdem öfters und in jeder erdenklichen Art (zumindest für einen Siebzehnjährigen) mit ihr getrieben hat, als dass er sich tatsächlich erinnern kann, aber darüber wollen wir uns nicht unterhalten. Hier und jetzt kommt er woanders her.
Er biegt von dem Baumannweg nach links, lässt den von Laternen beleuchteten und von Wohnhäusern des Spar- und Bauvereins umrahmten Weg hinter sich und betritt nun den dunklen Park des „Hippergrunds“. Er hat leichte Schlagseite, wie fast jeden Freitagabend, den er bei seinem besten Freund, Björn Gärtner, verbracht hat.
Tom arbeitet neben der Schule, wo er gerade versucht, seine allgemeine Hochschulreife zu erlangen, an einer Total-Tankstelle, nicht weit von der Wohnung, in der Björn mit seiner Mutter lebt. Die beiden kennen sich nun auch schon seit über drei Jahren aus der Pfadfindergruppe. Ihre Mütter hatten sie mit vierzehn dort hingesteckt in der Hoffnung, dass die Jungs dort etwas von den alten Werten beigebracht bekommen und ihnen ein Gespür für die Umwelt und das Miteinander vermittelt wird. Der Erfolg war mäßig, denn dank dem Austausch und den Erfahrungen dort haben sie nicht nur Bier und Zigaretten, sondern auch Dope und hin und wieder etwas Pepp für sich entdeckt. Und genau mit diesen Begleitern bestreiten beide seit geraumer Zeit ihre Freitagabende und hin und wieder schaue ich auch vorbei.
Tom macht die Tankstelle um 23:00 Uhr dicht, wobei er die Uhr in dem Laden immer um fünf Minuten vorstellt, um schneller raus zu sein. Während die Abrechnung der Kasse selbstständig durchläuft, putzt er den Verkaufsraum und räumt die Tankstelle auf. Zwischen 23:20 Uhr und 23:30 Uhr wartet Björn draußen, um ihn abzuholen. Dabei ist die Ressourcenbesorgung klar verteilt. Björn besorgt die Videos für den Abend. Immer ein „cooler“ Streifen und ein Porno, sowie etwas Piece, während Tom für die anderen Genussmittel zuständig ist, was bedeutet, dass er aus der Tankstelle Bier und Kippen für sie beide klaut. Zwei Schachteln Camel für Björn und zwei Schachteln Lucky Strike für sich, wobei sein Wochenvorrat am Sonntag, wenn er wieder dort arbeiten muss, erneut aufgestockt wird. Hin und wieder lässt er auch noch ein paar Chipstüten, Snacks aus dem Hause Jack Link’s oder eine kleine Flasche Schnaps mitgehen. Immerhin will er seinen Feierabend nach diesem langen Arbeitstag und der anstrengenden Schulwoche ja auch entsprechend genießen.
Zwar existiert eine Kamera an der Wand hinter der Ladentheke in dem kleinen Geschäftsraum, doch hatte Tom direkt am Anfang seines Minijobs von einem anderen Kollegen erfahren, dass es sich dabei nur um eine Attrappe handelt. Ein Dummy, um potenzielle Räuber und Ganoven abzuschrecken, was bisher wohl auch gut gegangen ist, denn obwohl der Dienst alleine erfolgt, kam es noch nie zu einem räuberischen Zwischenfall von jemanden, der hier nicht arbeitet. Tatsächlich waren der Besitzer, ein kleiner, aufgeplusterter Kerl namens Erik Hartmann, und seine aufgetakelte Frau Birgit viel zu geizig, um eine richtige zu installieren.
Und so hatten die beiden Jungs es sich nach der nervenaufreibenden Arbeit (die für Björn tatsächlich lediglich in dem Besorgen des Dopes bestanden hatte) mit Dosenbier und einem Ensemble aus Carazza und Funny Paprikachips gemütlich gemacht. Dabei rauchten sie Dope und guckten sich heute Abend an, wie Jackie Chan für „Rumble in the Bronx“ sorgte.
Als kleine Gelegenheitskiffer, die sie waren, wurde das Dope gut eingeteilt. Die Beute war für gewöhnlich lediglich ein Bröckchen Roter Libanese, was gerade mal für vier Köpfe reichte, die auf eine selbstgebaute PET-Flaschen-Bong geschraubt und tief inhaliert wurden. Ein Kopf für jeden pro Film.
Doch an diesem Abend hatte Björn ein gutes Geschäft gemacht und für zarte zehn deutsche Mark einen großen Klumpen Schwarzer Afghane ergattert.
„Mindestens zwei fette Köpfe für jeden von uns“, hatte Björn voller Selbstgefälligkeit getönt, während Chipsstückchen aus seinem Mund krümelten und sich über seinem Nirvana-T-Shirt verteilten.
Wenn man Tom besser kannte, so wusste man jedoch – und gerade ich als Beobachter des Abends –, dass er eher dazu tendieren würde, drei kleine Köpfe draus zu machen. So hätte er noch einen vor dem Heimweg und währenddessen einen herrlichen Rauschzustand.
Als Tom nun den sicheren Lichtradius der Straßenlaternen verlässt, zündet er sich eine Zigarette an. Dem Mond ist heute hell und voll genug, dass man den Weg problemlos ohne zusätzliches Licht erkennen kann. Davon abgesehen ist er schon hunderte Male zu jeder Tages- und Nachtzeit durch diesen Park gelatscht und kennt ihn daher in- und auswendig. Mehrere Pfade führen in die verschiedenste Richtungen des Parks und egal, wo lang, es geht fast immer bergauf. Andererseits, was erwartet man auch anderes von der Topografie eines Parks, wenn man in einem Landstrich namens „Bergisches Land“ wohnt?
Ich sehe ihn am Eingang stehen mit einer brennenden Lucky zwischen den Zähnen stecken. Er atmet den Rauch tief ein und freut sich innerlich über die aufglimmenden Lichterquellen bei der Prozedur. Es scheint ihm so, als wären die Temperaturen seit seinem Feierabend um mindestens zehn Grad gesunken, doch das hat einen anderen Grund. Ich weiß es, er nicht, daher zieht er sich tiefer in seine viel zu große, braun-olivfarbene Fliegerjacke zurück, in der er ein bisschen wie eine paramilitärische Variante von Marty McFlys Sohn aus „Zurück in die Zukunft II“ aussieht. Im Zuge seiner jugendlichen Geschmacksverirrung hat er noch eine Jeans-Weste von Diesel über die Fliegerjacke gezogen, die er seinem älteren Bruder irgendwann mal abgeluchst hat.
Der Park liegt ruhig und dunkel vor ihm. Zu ruhig und zu dunkel, denkt sein benebeltes Großhirn, doch aus seinem Frontallappen wird ihm die logische Alternative, nämlich der Rückweg zu Björn und dann ein Umweg von gut und gerne fünfzehn Minuten aufgezeigt. Absolut inakzeptabel für Tom. Er ist müde, dicht, geil und will eigentlich nur noch ins Bett. Sie können sich bestimmt vorstellen, was er dann dort noch machen wird. Ich für meinen Teil weiß es.
Also geht er durch den Park und ich bin direkt hinter ihm. Der Weg schlängelt sich durch eine Rasenlandschaft, die rechts von einem Teich inklusive Randbepflanzung verziert wird. Links kann man durch knorrige Bäume noch die Rückseiten der Häusersiedlung sehen. Dichtes Buschwerk umsäumt ihre Stämme wie ungepflegter Haarwuchs. Ein großer Hügel, auf dem die Kinder im Winter immer Schlittenfahren, erhebt sich weiter geradeaus wie eine saftige Beule auf einem geschundenen Körper. Auf dem Plateau an der Spitze des Hügels ist ein Rondell, von dem man tagsüber schön auf den ganzen Park blicken kann. Einzelne rundgetrimmte Büsche bedecken hier und da die bergauf führende Rasenfläche, wie überdimensionale, dunkle Pilze und einzelne schmale Baumgruppen stehen wie verirrte Touristen auf der Parkfläche.
Der Weg, dem Tom folgt, ist asphaltiert und führt in hinreichendem Abstand an den ganzen dunklen Orten des nächtlichen Parks vorbei.
Ich bin bei ihm, direkt hinter ihm und gleichzeitig bin ich in seinem Kopf und genieße diese Art von Entertainment. Doch das Gefühl, das sich seiner bemächtigt, das mit jedem Schritt stärker wird, kommt nicht von mir. Es kommt von dem, was in dem Busch, keine zwanzig Schritte von ihm entfernt, sitzt und ihn jetzt ebenfalls bemerkt hat und beobachtet. Ich kenne den Namen der Kreatur, doch ich bezweifle, dass Sie damit was anfangen können und Tom schon gar nicht. Doch es sitzt da und lauert auf seine Chance, während es seine Aura erweitert, welche in konzentrischen Kreisen wie Schallwellen durch den Park wabert. Seine, in Ihrer Sprache ausgedrückt, Chitzöene zucken vor Hunger und seine unteren Vlamyne (sehen Sie, was ich meine?) pulsieren erregt, was so viel bedeutet wie, dass es sich über den nächtlichen Imbiss zu später Stunde freut.
Wie kalte Finger, die mit leichter Berührung den Rücken hochkrabbeln, macht sich ein Gefühl in Tom breit. Es ist noch keine Angst, eher eine Vorstufe. Ein mulmiges, ungutes Gefühl. Etwas, das unerklärlich und unbenannt, aber da ist. Er bleibt kurz stehen und zieht an seiner Zigarette. Ein kleines Glimmen erhellt die Nacht im Park und sorgt kurz für Hoffnung und Sicherheit. Dann meldet sich der rationale Teil seines Verstands und bestätigt ihm, dass da nichts ist, immerhin würde er es ja ansonsten sehen. Obwohl … Und dann geht es los.
Sein angetrunkenes und bekifftes Hirn beschwört Szenarien aus diversesten Legenden, Fantasy- und Horrorfilmen herauf, aber noch hält der rationale Teil seines Verstands dagegen. Er trinkt einen Schluck Bier aus der Dose, die seine Finger der linken Hand langsam in Eiszapfen verwandelt hat. Ein weiterer Zug an der Lucky, ein weiteres Aufleuchten, dann geht er weiter, aber das Kribbeln in seinem Hinterkopf bleibt. Die Geräusche der Nacht sind da, und doch weit weg für ihn. Dann ein Kratzen, noch nicht mal von dem Buschmonster, sondern nur von seiner Fantasie, aber das langt, um sich umzudrehen. Könnte er mich sehen, würde er keine drei Zentimeter vor mir stehen, mir direkt in mein Angesicht blicken, aber so blickt er durch mich durch und sieht natürlich nichts außer dem dunklen Weg, den er gekommen war. Ein langer Schluck aus der Dose, um sie endlich loszuwerden und um seine arschkalte Hand dann endlich in die Jackentasche stecken zu können, ein letzter Zug an der Zigarette, dann dreht er sich um, schnipst die Kippe in Richtung See und macht einen Schritt.
Ich spüre sein Bedürfnis, schneller zu gehen, seine Schritte zu beschleunigen. Er will raus aus diesem Park. Dem schummrigen Zwielicht voller langer Schatten und grauenhaften Fantasievorstellungen entkommen. Doch seine Lungen kratzen schmerzhaft von dem letzten Kopf Dope. Seine Kondition ist in einem Meer aus Cola und Bier in Seenot geraten und hält sich nur gerade so über Wasser. Er durchsucht seine Jackentasche nach einem Feuerzeug. Rechts findet er nichts. Jetzt kramt er mit seiner Rechten in der linken Jackentasche. Er stellt sich dabei so ungeschickt an, dass er sich um seine eigene Achse dreht. Wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt. Auch dort ist nichts. Hab’ ich es bei Björn liegen lassen, stolperte ein Gedanke durch seinen Kopf gefolgt von dem nächsten, der ihn anrät, sich zu bewegen und nicht noch länger hier stehen zu bleiben. Seine Linke, kalt wie eine Leiche, umklammert weiter die Bierdose, während in einem kurzen Anflug aus Sucht, Panik und Verzweiflung seine Rechte seine Hosentaschen abklopft. Treffer!
Eines von Birgitt Hartmanns scheußlich kitschigen Feuerzeugen mit irgendwelchen ätzenden Liebessprüchen drauf. Aber jetzt ist es für ihn die ganze Welt, was nur jemand nachvollziehen kann, der schon mal nach einer Zigarette geschmachtet hat.
Er zündet sich eine neue Kippe an und ich blicke zu dem Busch hinüber, während er leicht auf der Stelle schwankt. Das Ding, das dort verborgen lauert, hat sich bewegt und ist zum Teil auf dem Weg. Wie eine Ölspur auf der Autobahn zieht sich sein Körper. Es ist aufgedunsen, wohl genährt und doch noch immer hungrig. Es nimmt noch einem Happen von Toms zweifelnder Emotion und investiert sie gut. Ich kann sehen, wie es sich zusammenzieht, wie ein Muskel, der sich kontrahiert, kanalisiert das Ding seine Kraft, fokussiert sie und sorgt unter einer immensen Anstrengung dafür, dass just, als Tom sein Feuerzeug aufflammen lässt, zwei gelbe Lichtpunkte wie die grimmigen Augen von etwas Unaussprechlichem aus einem Stephen-King-Roman im Busch aufleuchten.
Tom sieht es nur kurz und nur aus dem Augenwinkel, aber er hat es gesehen. Ich weiß es, ich rieche und schmecke es an seiner Aura. Und das Buschmonster tut dasselbe. Tom ist jetzt ein Fisch an der Fangleine der Kreatur und wird langsam eingeholt.
Ich kann Toms Wahrnehmung sogar hören. Sie klingt wie die Alarmsirenen seines rationalen Denkens, welche in seinem Kopf losgehen und anfangen zu kreischen wie ein Rudel Banshees. Es ist der Konflikt des empirischen Wissens, dass das gerade Bemerkte nicht sein kann, und des rationalen Teils, der darauf besteht, dass er das gerade wahrgenommen hat.
Vielleicht hat der Flammenkegel oder der Feuerstein deinem Geist einen Streich gespielt, versucht die Logik einen Konsens zu finden und den Körper zu beruhigen, doch die Schatten im Park fangen für Tom an zu wabern und sich zu verschieben, als würden sie zu einem nicht hörbaren Rhythmus tanzen. Tom muss kurz an das Cover des Die drei ???-Hörspiels „Der tanzende Teufel“ denken, welches er in seiner Kindheit oft gehört hat. Ein mit Fell überzogener Dämon mit langen Hörner, die seitlich aus seinem Kopf ragen, und roten Glubschaugen auf einer Düne, der einen langen, tanzenden Schatten wirft. Keine Konturen, kein Mund, keine Nase, nur diese liedlosen, kreisrunden Augen, welche sich einem in die Seele bohren. Das Hörspiel war nicht unheimlich, aber heute Abend langt ihm schon die Erinnerung an den Titel und an das Bild auf dem Cover. Nur heute Nacht hat der Teufel leuchtende gelbe Augen.
Ein Prickeln durchzieht sein Hirn, als hätte man eine Ameisenfarm darüber ausgeschüttet und seine Augen huschen hin und her, ohne etwas Spezielles fixieren zu können. Er schwankt von einem Bein auf das andere. Das Ding kennt, wie ich, die Bilder, die von Angst und Furcht mit einen gehörigen Klecks Panik in Toms Geist gemalt werden und ist erregt. Es ist jetzt ganz aus dem Busch herausgeglitten und tastet sich vorsichtig näher an seine Beute ran. Sein amorpher Körper verformt sich auf seiner Ebene und macht sich zum Sprung bereit. Schwarze Haare sprießen überall und es zieht sich zusammen wie eine Schnecke, die man mit Salz bestreut. Zwei Hörner wachsen aus dem Klumpen, der sich zu einem Kopf ausbildet und zwei glubschende gelbe Punkte erscheinen da, wo bei einem Menschen die Augen sitzen. Ich sehe zu, wie es zum „tanzenden Teufel“ wird.
5 Sterne
Spannend und nicht das, was ich erwartet hätte - 11.06.2023
Julia Gouder

"Düster und skurril" heißt es auf dem Cover. Eigentlich nicht das was ich normalerweise lese. Aber dieses Buch ist komplett anders: Erfrischend und Ehrlich.

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