Tag verronnen, Nacht begonnen, AUFGEWACHT

Tag verronnen, Nacht begonnen, AUFGEWACHT

Gedankenmalereien/Die Entführung von M. F.

Alexandra Borok


EUR 18,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 78
ISBN: 978-3-99146-274-3
Erscheinungsdatum: 05.10.2023
In einer effizient durchorganisierten, hochtechnologischen Welt im Jahr 2077 erwacht kein Mensch in der Nacht. Bis Pandra eines Nachts plötzlich aus dem Schlaf aufschreckt und nichts mehr so ist wie zuvor.
Mein Dank
gilt den
Welten und Menschen,
die mich all das
erleben lassen.
In guten wie in schlechten Zeiten.




Aufgewacht


Wir waren live dabei.
Exakt auf der Linie des Umbruches tänzelten wir von Tag zu Tag in die neue Zukunft.

Ich bin Pandra.

2020.
Die Tage verrinnen, rinnen wie Wasser in den Abfluss, werden geklärt und fließen gesäubert wieder als neuer Tag in mein Leben.
Guten Morgen.
Claudia hat sich vor acht Monaten tot gemacht. Erhängt.
„Die verpasst voll die Coronazeit“, denke ich, so als hätte sich mit Corona ein großes Abenteuer aufgetan.
Andrea ist vor drei Jahren tot gemacht worden. Lungenkrebs.
„Die hat’s gut, die erspart sich Corona“, denke ich mitleidig mit mir selbst.
Raus aus dem Bett. Die Sonne scheint. Ich öffne das Fenster in die Welt und mache drei tiefe Atemzüge. In der Nacht hat es geregnet, die Luft riecht nach Erde und Gras. Das könnte ein schöner Tag werden.

Tag verronnen, Nacht begonnen, Nacht vorbei.
Guten Morgen.

Ich sehe nichts. Alles ist schwarz. Wie sehen Blinde in ihrer Vorstellung die Farben, wenn sie von Geburt an blind waren, sodass keine Erinnerung daran möglich ist?
„Hast du überhaupt deine Augen offen?“, werde ich gefragt.
„Natürlich“, denke ich.
„Was denkst du denn?“, sage ich.
„Ich dachte nur …“, sagt der Mensch, „… weil du es manchmal vergisst.“
„Was vergesse ich?“, bohre ich nach.
„Naja, manchmal vergisst du, die Augen zu öffnen, und dann glaubst du …“
„Was glaube ich?“, frage ich genervt.
„Lassen wir das. Sonst streiten wir wieder. Komm, lass uns aufstehen“, entgegnet der Mensch.
Wir hüpfen aus dem Bett. Ich sehe noch immer nichts und hüpfe gegen den Kasten. „AUA“, schreie ich lauthals.
Der Mensch räuspert sich und begibt sich wortlos quer durch die Wohnung in die Küche.
Kaffeeeeeeee.
Ich hüpfe wieder dorthin, woher ich gekommen bin. Ins Bett.
Vielleicht probiere ich es morgen noch einmal.

Tag verronnen, Nacht begonnen, Nacht vorbei.
Guten Morgen.

2077
oder
57 Jahre n. C. (nach Corona, nicht: nach Christus)

Meine Synapsen kriegen nur langsam eine Verbindung zum Erinnerungsbereich in meinem Gehirn.
„Welchen Tag haben wir? Was war gestern?“ Ich finde das jedes Mal höchst eigenartig. In dieser Sekunde ist dieser Gedanke auch schon wieder weg und ich bin im Jetzt.
Sehenden Auges begebe ich mich zum Fenster, öffne es und rutsche mit meinem Pyjama an einem dicken Seil zum Gehsteig hinunter, in der Hoffnung, dass es unentdeckt bleibt. Es ist 5:45. Ein Mann mit Aktentasche auf einem E-Scooter, ebenfalls sehenden Auges, knallt in eine alte Litfaßsäule. Wahrscheinlich hat er eine Sondergenehmigung, sonst dürfte er gar nicht im Freien sein. Vielleicht hätte er mehr gesehen, wären seine Augen nicht auf seinem Handy hängen geblieben. Ein Oldie, einer von der Handygeneration. Ich rufe auf meinem in die Handinnenfläche implantierten Touchscreen die Rettung, um den Mann versorgt zu wissen.
Es hat geregnet. Die Luft riecht nicht nach Erde und Gras, weil es keine Erde und auch kein Gras mehr gibt. Nur noch Betonwüsten, so weit das Auge reicht. Weißer Beton. Wegen der Hitze. Weiß hat mir schon immer gefallen, wenn auch nicht in diesem Zusammenhang.
Die Rettung biegt lautlos um die Ecke. Ich laufe die fast menschenleere Straße entlang, als plötzlich in naher Ferne ein Tumult in mein Auge sticht. Sirenen heulen. Blaulicht. Mindestens zehn Feuerwehrautos, genauso viele Rettungswägen, doppelt so viele Polizeiautos. Alle wild durcheinander stehend und drum herum eine Menschenmasse, die wilde, hysterische Schreckensschreie von sich gibt. „Was ist denn daaaaa bitte los?“, sage ich erschüttert zu mir selbst. Ich komme dem Geschehen langsam näher. Mein Herz schlägt spürbar schneller, als wüsste es schon vor mir, welches Bild sich mir gleich bieten wird. Als Erstes erblicke ich eine Rettungsbahre, die von zwei Rettungsmännern getragen wird. Darauf liegt ein Mann, festgebunden. Er schreit wie am Spieß. Nicht vor Schmerzen. Er schlägt wild um sich. Seine Schreie sind das blanke Entsetzen, als wäre er soeben durchgedreht, als hätte ihn seine Psyche verlassen. Es wirkt grausam. Mein Blick schwenkt nach seitlich rechts oben und dann sehe ich sie. Mindestens ein Dutzend. Die Menschenkörper stürzen sich wie ferngesteuert fast zeitgleich vom Dach des Hauses in den Tod. Einer nach dem anderen. Ich sehe sie fallen, wie Puppen. Männer und Frauen. Ich höre ihre Körper auf den weißen Asphalt knallen. Massenselbstmord. Wie so oft in letzter Zeit. Bisher kannte ich Derartiges nur aus dem Livestream, nun war ich live dabei.
Meinen ersten Ausflug nach so langer Zeit habe ich mir anders vorgestellt.
Verstört suche ich eine Seitengasse, biege hinein und versuche, mich zu beruhigen. Hier ist alles ganz still, als wäre nichts gewesen. Bei meinem Wohnhaus angekommen, klettere ich auf dem Seil wieder in meine Wohnung. Fenster zu. Gerettet.

Nacht verronnen, Tag begonnen. Tag vorbei.
Gute Nacht.
Der Mond hängt blutblau am Viceversumrand,
als plötzlich nichts mehr so ist wie zuvor.

Ich schrecke aus dem Schlaf und bin schweißgebadet. Eigenartig. Ich bin noch nie mitten in der Nacht aus dem Nachtschlaf erwacht. Es ist überhaupt noch nie ein Mensch mitten in der Nacht erwacht. Dafür sorgt die automatisierte Schlafdosis, die sich in jedem Menschen um Punkt 22:00 vom implantierten Chip in die Blutbahn kämpft. Ob man will oder nicht. Der Chip wird bei Neugeborenen sofort nach der Geburt tief unter der Haut angebracht. Erwachsene, die ihn sich entfernen ließen, waren von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche verschwunden. Erzählt man sich. Seltsam. Ich kenne niemanden ohne diesen Chip, der auch noch andere Steuerungen zu bieten hat. Um selbst zu steuern. Aber auch, um fremdgesteuert zu werden. Bei mir hat diese Fremdkontrolle anscheinend soeben versagt. Ich sehe mich um. Ganz ungewohnt diese dunkle Dunkelheit, diese Stille. Mein Mensch neben mir schläft wie erwartet tief und fest. So wie alle anderen auf der Welt auch. Mir ist mulmig zumute. Ich knipse meine Ratte an – also meine Nachttischlampe. Eine kleine, weiße Ratte aus einem leichten, robusten Material, die eine Miniglühbirne in Händen hält. Noch ein Relikt aus der Vergangenheit. Vorsichtig rolle ich mich rücklings aus dem Bett. Da fällt mir auf, dass auf dem Boden ein Zettel liegt, der noch nicht da lag, als ich zu Bett ging. Neugierig heften sich meine Augen auf die Buchstaben:

Der neue Mensch (Herbst 2020)

Ich beobachte die Menschen.
Immer wieder.
Erst letztens entdeckte ich etwas Neues an ihnen…
Für blinde Menschen gibt es Blindenleitlinien am Boden. Zum Beispiel in U-Bahn-Stationen. Eine ca. 50 Zentimeter breite, rillenartige Erhöhung. Farbabgestuft. Warum, weiß ich nicht, denn Blinde können es ohnehin nicht sehen.
Selten sehe ich Blinde im Stadtbild.
Was ich allerdings sehe, sind: Umfeldblinde.
Das sind Menschen, die ständig, auch während des Gehens, auf ihr Handy starren, ohne rundherum auch nur irgendwas mitzubekommen. Die Blindenleitlinien sorgen dafür, dass sie nicht in andere hineintorkeln, dass sie auf Linie bleiben, dass sie wissen, wann der Weg zu Ende ist und Treppen kommen, dass sie geleitet werden, ohne aufblicken zu müssen. Meine Fantasie ist angeregt und ich erdenke mir eine Welt, in der es von Haus aus so geplant war. Nämlich dass die Blindenleitlinien ursprünglich nicht nur für blinde Menschen gemacht wurden, sondern auch schon für die zukünftigen, in Entstehung befindlichen Handymenschen. Damit dann alles bereit ist, wenn die ferngesteuerten Umfeldblinden das Stadtbild prägen.

Ich falte den Zettel zusammen und bin etwas irritiert.
Ganz dunkel kommen mir diese Zeilen bekannt vor, aber ich kann es nirgends festmachen. Vor allem: Herbst 2020 – da war ich noch gar nicht geboren! Meine linke Gehirnhälfte beginnt zu kribbeln, so als würden Hormone ausgeschüttet werden.
In der Sekunde überfällt mich eine ungeheure Müdigkeit und ich kippe um wie ein Stück Holz.
Gute Nacht.

Nacht verronnen. Tag begonnen.
Guten Morgen.

„Hallo Mensch, gut geschlafen?“, säusle ich ganz benommen.
„Ja, wie immer. Traumlos“, säuselt der Mensch zurück.
„Kaaaffffeeeeeee.“
Ich muss grinsen.
Sirenen heulen. Zum ersten Mal seit elendslanger Zeit.
„Heee, Mensch, du weißt, was das zu bedeuten hat?“
„Gruuummel, ich bin doch noch nicht munter. Frag mich nach meinem zweiten Kaffee nochmal, gut?“
Meine Aufregung lässt mich nicht ruhig sitzen.
„WIR DÜRFEN WIEDER OFFIZIELL RAUS“, schreie ich lauthals und springe wie ein Känguru durch die Wohnung.
„Naja, will ich das? Jetzt so ad hoc plötzlich wieder raus. Ich weiß nicht“, entgegnet mir der Mensch.
Die Worte „Ich bleibe lieber noch drinnen“ höre ich kaum noch, so schnell ziehe ich meine Schuhe an und ziehe die Tür hinter mir zu. In Windeseile laufe ich das Stiegenhaus hinunter. Endlich einmal nicht geheim im Freien sein. Frei sein?
Aus allen Türen quellen Menschenkörper. Manche lachend, manche zögerlich. Allesamt weiß im Gesicht wie kleine Vampire. Blutarmut, was mittlerweile Standard ist, aber nicht mehr lebensgefährlich.
Oberhalb der Gehsteige, als zweite Ebene, gibt es die Fahrsteige. Praktisch und sehr beliebt bei Fahrradfahrern, Skateboardern, Scooter-Fahrern und Hoveristen. Seitdem die m8 die Hauptaderstraßen damit vollgebaut hat, verzeichnet die Statistik weniger Unfälle. Man braucht weder auf Autos noch auf Fußgänger zu achten. Ich benutze die Fahrsteige sehr gerne.
Heute nehme ich aber lieber meine Füße.
Ich laufe vorbei an den endlos weißen Fassaden, an die unaufhörlich A4-Zettel getackert sind, auf denen steht:

Macht (Herbst 2020)

Machen macht Macht.
Aber Obacht:
Achtvoll machtvoll.
Wer etwas macht, hat die Macht.
Wenn andere mitmachen, ist man mit Macht.
Bei Ohnmacht ist man ohne Macht.
Machtlos.
Achtlos.
Machtacht.
Die Acht hat Macht.
mAcht. m8

Immer wieder lese ich dieselben Worte, bis sie sich in meine Gehirnwindungen eingraviert haben.
Wer zur Hölle traut sich, diese Worte denken? Niemals würde die m8 Derartiges dulden.
In dieser Sekunde tönt es lautstark aus den auf der Fahrbahn angebrachten Lautsprechern:
„BEGEBEN SIE SICH UMGEHEND IN DIE HÄUSER ZURÜCK. IN WENIGEN MINUTEN WIRD EINE SONDERREINIGUNG VORGENOMMEN. DIE DÄMPFE SIND LEBENSGEFÄHRLICH. WIR SCHÜTZEN SIE. BEGEBEN SIE SICH UMGEHEND IN DIE HÄUSER ZURÜCK.“
Und plötzlich sind sie alle verschwunden, die Menschen. Auch ich.
Dankend ziehen wir uns in die Häuser zurück. „Die m8 beschützt uns“, kreist es in Dauerschleife in jedem einzelnen Gehirn.

Tag verronnen, Nacht begonnen.
Aufgewacht.

Schweißgebadet schrecke ich aus dem Schlaf.
Ich rüttle meinen Menschen neben mir. „Auuuufwaaaachen.“
Keine Regung. Wie erwartet.
Meine kleine Lichtratte bleibt dunkel.
Ich blicke zum Fenster.
Ein blaues Etwas blickt zurück.
Blickt auf mich.
Es erschrickt.
Auch ich.
Die Ratte soll Licht in die Sache bringen.
Falsch gedacht.
Das blaue Etwas ist weg.
Das blaue Etwas war ein Mensch. Nur halt blau. Komplett blau. Hautblau.
In mir regt sich etwas. Aufregung.
Ich liege wach bis 7:00 früh.
Und sehe zum ersten Mal, wie mein Mensch – wie durch das Anknipsen eines Lichtschalters – aus dem Nachschlaf erwacht.
So wie alle anderen Menschen auf der Welt auch. Außer mir.

„Kaaaaaffeeeeeee.“
Ich grinse. Es ist schon so vertraut.
„Du, Mensch, falls diese Sonderreinigung heute schon fertig ist von der m8, werde ich spontan Elsa abholen und mit ihr essen gehen.“
„Ja, ist gut. Ich werde mich über meine Musik hermachen und versumpern.“
Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet.

Notgedrungen muss ich daran denken, dass sich meine langjährige Freundin Elsa am liebsten über das Wetter unterhält und sie Regen gar nicht ausstehen kann.
Manchmal glaube ich sogar, SIE IST das Wetter.
Wie einmal, als es den ganzen Tag schon regnete und ich sie am Abend anrief, um mich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen:
Ich: „Und? Wie war dein Tag heute?“
Sie: „REGNERISCH.“

Über die Lautsprecher wird verkündet, dass die Sonderreinigung in der Nacht abgeschlossen werden konnte und das Freie wieder frei zugänglich ist.
Als ich die weißen Fassaden entlanglaufe, sind die A4-Zettel vom Vortag weggereinigt.
Weggereinigt von den Fassaden, aber nicht weggereinigt aus meinem Kopf!
Jedes Mal, wenn eine Sonderreinigung stattgefunden hat, regnet es danach. Zufällig.
Die giftigen Dämpfe werden mit dem Regen schadlos gemacht, was sehr effizient zu sein scheint. Das kommt mir irgendwie verdächtig vor.
Es fällt mir der Gedanke zu, dass der Regen absichtlich, vorsätzlich gesteuert werden könnte.
Bei Elsas Wohnhaus angekommen, läute ich an ihrem Türnummernschild.
Ein lautes „JAAA?“ tönt aus der Gegensprechanlage in mein Gehör.

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