Zyklonia

Zyklonia

Wissen isst Macht

Nathalie Hoffmann


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 240
ISBN: 978-3-99131-895-8
Erscheinungsdatum: 26.01.2023
Freitags werden Klimasünder hingerichtet. Egal, wie klein das Verbrechen war, in Bezug auf die Umwelt kennt der Rat kein Erbarmen. Was verständlich ist, wie würden wir uns sonst je an die Regeln halten, würde uns keine Bestrafung erwarten bei einem Regelbruch?
Prolog

Seine Schritte hallen laut durch die leeren Gassen. Er huscht gehetzt über die Straßen, als würde er etwas Verbotenes tun. Die Durchsage lässt ihn kurz aufhorchen, obwohl er sie eigentlich hätte erwarten müssen: „22.00 Uhr.
Sperrstunde. Jegliche Bewohner außerhalb ihrer zugeteilten Wohneinheit werden ab sofort unverzüglich festgenommen.“
Ohne weiter zuzuhören geht der Mann mit schnellen Schritten an dem zentralen Platz vorbei, passiert das pompöse Monument des Gründers der GreenSC, welches sich in der Mitte des Forums befindet, und biegt schließlich am Ende des Platzes links in eine weitere Seitengasse ein.
Der trotz später Uhrzeit warme Wind lässt die Schweißtropfen auf seiner Stirn trocknen. Dennoch streicht er sich mit dem Ärmel seines Arbeitsoveralls darüber, um den schon getrockneten Schweiß abzuwischen. Eine Geste der Nervosität. Er scheint sich unwohl in seiner Haut zu fühlen; laut der Durchsage befindet er sich zu spät unerlaubt außerhalb seiner Wohneinheit, da er die letzte Magnetbahn nach der Arbeit verpasst hat.
Plötzlich lauter werdende Stimmen von weiter vorne lassen ihn aufhorchen, ohne langes Zögern drückt er sich in den Schatten des nächstgelegenen Hauses. Sein Atem geht flach und schnell. Zwei Patrouillen der Climate Police schlendern in ihren schwarzen Uniformen an ihm vorbei. Der Mann weiß genau, was mit jenen passiert, die die Regelungen missachten, und als Arbeiter ist er zusätzlich gefährdet. Wird er erwischt und kann sich nicht ausweisen und keine Bewilligung vorweisen, wird er in Verwahrung genommen, was kein wünschenswertes Schicksal ist. Er presst seinen Rücken so fest wie möglich an die raue Wand, die Hände am Körper und die Augen geschlossen. Ein kurzer Blick zurück von einer der Patrouillen würde genügen, um ihn zu entdecken. Unter seinen robusten Schuhen knirschen einzelne Steinchen und der Wind um ihn herum lässt alles erzittern. Der Geruch nach Dreck und Müll steigt dem Mann in die Nase, als er tief Luft holt und sich so wenig wie möglich bewegt. Die Patrouillen haben ihn nicht bemerkt, doch wäre er normalerweise erleichtert weitergegangen, so hat der Mann plötzlich einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt und geht einige Schritte in ihre Richtung, um mehr zu hören.
„Da müssen wir noch so spät abends wieder in diese Hitze, als wäre es hier draußen nicht schon genug heiß. Und von dem ganzen Lärm dieser Maschine kriege ich nur Kopfschmerzen“, sagt einer der beiden.
„Was soll’s?“, entgegnet sein Kollege und fährt sich durch seine auffallend roten Haare, „solange ich mein Stück Fleisch bekomme, mache ich sogar die Drecksarbeit des Rates und entsorge ihren Müll. Diese nostalgischen Gefühle, die immer aufkommen, und allein der Gedanke daran, dass die anderen es nicht dürfen, würde mir schon reichen, es zu essen.“ Er stößt ein kurzes hohes Lachen aus.
„Ach, fühlst du dich nostalgisch.“ Der andere lacht spöttisch auf. „Weil du früher ja immer Fleisch gegessen hast, genau. Hör auf mit deinem Nostalgie-Gesäusel und halt den Mund. Wenn jemand hört, wie du über Fleisch sprichst, kannst du deines sowieso gleich vergessen.“ Der Rothaarige öffnet den Mund, als möchte er seinem Kollegen etwas entgegnen, schließt ihn kurz darauf jedoch wieder, als hätte er es sich anders überlegt und konzentriert sich auf den Weg vor sich.
Fleisch. An diesem Wort haftet etwas Verdächtiges, etwas Verbotenes. Es wurde schon lange aus dem Grundwortschatz verbannt und ersetzt durch Quorn, Soja und Lupinen. Trotz schwüler Luft stellen sich die langen dunklen Haare auf dem Arm des Mannes auf und sein Körper überzieht sich mit Gänsehaut. Wirre Gedanken kreisen in seinem Kopf umher, absurde Ideen und Verschwörungstheorien. Er mahnt sich selbst, als er merkt, wie stark er plötzlich aufgewühlt ist. Es wird ein Scherz gewesen sein, nichts Weiteres, nichts Bedeutendes. Doch was, wenn doch mehr dahinter ist? Als die beiden Patrouillen beinahe schon bei der Statue angekommen sind, fasst er seinen Entschluss. Mit einer kurzen Handbewegung fährt er sich hektisch durch seine dunklen kurzgeschorenen Haare und macht kehrt. Langsam schleicht er hinter den beiden her. Sein Puls geht schnell und kleine Schweißperlen sammeln sich erneut auf seiner in Falten gezogenen Stirn. Sein Blick ist wachsam und sein Körper bereit, jeden Moment zu reagieren, wie ein gehetztes Tier auf offenem Feld.
Er scheint Glück zu haben. Überraschenderweise begegnet er nur noch zwei anderen CPs, denen er ohne weitere Komplikationen früh genug aus dem Weg gehen kann. Es ist ihm bewusst, dass es ein gefährliches Unterfangen ist, doch ein kleiner Hoffnungsschimmer tief im Innern treibt ihn an. Die Möglichkeit, dass diese winzige Information, die er aufgeschnappt hat, sein Leben verändern könnte, scheint dem Mann Grund genug, die offiziellen Vorschriften zu missachten. Das Adrenalin, das durch seinen Körper schießt, vertreibt die vorherige präsente Nervosität, nimmt ihm die Angst und gibt ihm Kraft.
Er folgt den Patrouillen bis ins Viertel, in welchem sich die Arbeitsplätze der Privilegierten befinden. Unerwartet bleiben sie vor einer der vielen hohen Kuppeln stehen, welche von den anderen ein wenig abgelegener liegt. Der Mann zieht verwundert die Augenbrauen zusammen. Was suchen die CPs hier? Alle Lichter im Gebäude sind ausgeschaltet, um Energieverschwendung zu vermeiden. Der Wind trägt erneut die Stimmen der Uniformierten nach hinten und lässt die Blätter der vereinzelten Bäume, die regelmäßig am Straßenrand verteilt sind, rascheln. Der Mann kneift seine Augen zusammen, fixiert die Eingangstür, durch welche die beiden soeben verschwunden sind, und überlegt angestrengt. Die erdrückende Stille, die gelegentlich nur durch gepresste Atemstöße des Mannes unterbrochen wird, macht ihn erneut nervös und die schwüle Temperatur drückt ihm die Luft ab. Er öffnet den Reißverschluss seines Overalls, schließt ihn jedoch kurz darauf wieder, holt tief Luft und geht zielstrebig auf die Tür zu.
„22.19 Uhr.“ Die künstlich erzeugte Frauenstimme lässt den Mann aufschrecken. „Willkommen in Kuppel 284. Schließen Sie nach Betreten des Gebäudes die Tür und löschen Sie nicht benötigte Lichter.“ Jetzt ist es zu spät, umzudrehen, der Mann drückt die Tür hinter sich zu und bleibt einen Moment stehen. Er fragt sich, ob sein Eintreten soeben in der Zentrale registriert wurde und ob weitere CPs nun auf dem Weg hierher seien. Er zieht sich die Ärmel seines Overalls hinunter, da die gekühlte Luft des Gebäudes ihn frieren lässt. Mitten in der Bewegung fällt ihm jedoch auf, dass normalerweise keine Gebäude gekühlt werden und wenn, dann nur für spezielle Anlässe. Nicht jedoch an einem normalen Arbeitstag und noch dazu abends und in einem verlassenen Gebäude. Was hat dies zu bedeuten?
Langsam nimmt der Gang, der dahinter liegt, Konturen an, als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Ein breiter Gang erstreckt sich vor ihm und er erkennt Abzweigungen weiter vorne.
Zu viel Zeit ist vergangen, seit die anderen hinein gegangen sind. Er muss sich beeilen. Er bewegt sich vorsichtig den Gang hinunter und seine Schritte hallen verräterisch laut durch das leere Gebäude. Die Wände sind gräulich und fühlen sich rau an unter seinen verschwitzten, klammen Fingern, als er sich daran abtastet, um den Weg zu finden.
„22.23 Uhr. Willkommen in Kuppel 284. Schließen Sie nach Betreten des Gebäudes die Tür und löschen Sie nicht benötigte Lichter.“ Ein schwacher Lichtstrahl dringt zu ihm und feste Schritte folgen. Es bleibt keine Zeit. Der Mann imitiert die bestimmte Gangart des Unbekannten hinter ihm, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und folgt den immer leiser werdenden Stimmen der beiden verdächtigen CPs vor ihm. Sein Atem geht laut, zu laut. Der Unbekannte hinter ihm kommt mit jeder vergehenden Sekunde näher. Der Mann biegt um die nächste Ecke und vor ihm liegt ein weiterer langer Gang. Hinter ihm geht das nächste Licht an. Die Strecke ist zu lange, um früh genug das Ende zu erreichen, und seine Arbeitsuniform ist zu hell, als dass er als Patrouille durchgehen könnte. Plötzlich empfindet er die Luft als stickig und Panik steigt in ihm auf. Seine Arbeitskleidung scheint ihm mit einem Mal zu eng. Mit zittrigen Händen fährt er über die Wände, die nun nicht mehr rau sind, sondern kühl und glatt und aus glänzendem Metall. Er presst seine Stirn dagegen und wartet darauf, dass das Licht auch in diesem Gang angeht. Durch das Metall dringt ein ihm unbekanntes Geräusch. Wie von einer Maschine, die nach und nach etwas zermalmt, langsam und stetig. Aus Neugier drückt der Mann sein Ohr dagegen und da sticht ihm weiter vorne rechts an der Wand eine Tür ins Auge. Ohne große Überlegung und Gedanken an die Schritte hinter ihm läuft er darauf zu, zieht sie auf und schlüpft im selben Moment hinein, als sich der Gang hinter ihm erhellt.
Für einen kurzen Moment nimmt die Erleichterung von ihm Besitz, so dass ihm nicht direkt auffällt, wo er sich befindet. Seine Augen sind geschlossen und er lehnt mit dem Kopf nach hinten an der Wand, als er plötzlich wieder aufschreckt. Die Hitze, der Lärm und der verbrannte Geruch. Erst jetzt nimmt er all dies wahr. Langsam geht er nach vorne und erkennt, dass er auf einem Gerüst steht. Er bewegt sich vorsichtig vorwärts und stützt sich mit beiden Händen auf das Geländer. Die glühende Hitze des Metalls scheint er komplett zu vergessen, als er mit weit geöffneten Augen nach unten schaut. Seine Pupillen verkleinern sich und das Dunkelbraun seiner Augen sticht hervor. Er steht da, ohne sich zu rühren, ohne irgendeine Reaktion von sich zu geben, obwohl er gerade vor dem größten Beweisstück des Verrates steht. Nur eine einzelne Träne rinnt ihm über die geröteten Wangen, ob wegen der beißenden Luft oder dem, was er vor sich sieht, weiß man nicht.



Kapitel 1

Das leise Vibrieren der Magnetbahn beruhigt mich. Das gleichmäßige Schwanken lässt mich für einen Moment alles vergessen und ich konzentriere mich auf die vielen Häuser, die am Fenster vorbeiziehen. Das meiste sind Glasbauten, jede so groß wie unser Haus mit den drei Wohneinheiten. Doch kein Wunder stehen hier solche Häuser, wir fahren gerade durch Pryzydora. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine Eltern besorgte Blicke miteinander wechseln. „Benita“, sagt meine Mutter, „ist alles in Ordnung?“ Ich wende mich ihr zu und möchte schon antworten, dass alles gut ist, doch das ist es ja nicht. Aber ich habe es aufgegeben, mit ihnen über meine Gefühle zu sprechen, die sie ohnehin nicht verstehen. Außerdem komme ich selbst klar mit meinen Problemen, sie brauchen sich nicht immer einzumischen. Dennoch bedrückt mich der Tag, der vor uns liegt. Heute ist Freitag, unser freier Tag, obwohl wir an diesem Tag trotzdem nicht tun und lassen können, wonach uns ist …
„Du weißt schon, Freitag“, murmele ich und schaue wieder aus dem Fenster hinaus. Doch meine Mutter weiß, dass dies nicht der wahre Grund ist für mein deprimiertes Gesicht.
„Natürlich, aber sieh mich mal an, ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Kannst du uns denn nicht vertrauen?“, hakt sie nach.
„Mama, nicht hier“, antworte ich und gebe ihr mit einem Kopfnicken zu den Leuten um uns herum zu verstehen, dass wir in einem vollen Zug sitzen.
„Lass es gut sein, Ramona, wir können auch später nochmals zusammensitzen“, mischt sich mein Vater ein und legt beschwichtigend eine Hand auf Mutters Unterarm. Ich schenke meinem Vater ein kleines Lächeln, richte meinen Blick wieder aus dem Fenster und schließe meine Augen.
Die kühle Stimme der Lautsprecheransage für unsere Haltestelle lässt mich aufschrecken, obwohl ich sie schon unzählige Male gehört habe. Kurz darauf steht die Bahn und ich erhebe mich vom kühlen Metallstuhl. Der Lärmpegel steigt an, als alle Passagiere aufstehen, denn es müssen alle hier aussteigen. Nicht, weil es die Endstation ist oder wir hier wohnen, sondern weil wir heute verpflichtet sind, uns auf dem Nortarusplatz in Glowenzia zu versammeln. Glowenzia ist die Region, in welcher sich der Ratssitz befindet, sowie die Zentrale und unser Versammlungsplatz. Wir hingegen wohnen in Zielony, weiter nördlich.
Als ich hinter meinen Eltern aus der automatischen Tür trete, weht mir eine kühle Luft entgegen, es riecht nach Blättern und Bäumen. Ich sauge die Luft tief ein, versuche mir den Geruch einzuprägen und folge dann dem Menschenstrom. In den Slums riecht es nie so, denn dort befinden sich die Industrien, die trotz neuen Technologien die Luft verunreinigen, und auch wegen der vielen Leute, die dort wohnen, kann der Umweltstandard nicht erhalten werden. Der Platz befindet sich gleich vor der Station und besteht aus Stein in unterschiedlichen Grautönen. Wir stellen uns zu den bereits erschienenen Leuten. Es ist schon reichlich voll, ich schätze, es sind um die zehntausend Bewohner, doch hinter uns werden nochmals so viele dazu stoßen; die Arbeiter. Der Großteil der Anwesenden unterhält sich über Alltägliches, wie die Arbeit. Hie und da höre ich einige über den bevorstehenden Anlass sprechen, doch kaum jemand scheint aufgeregt, ungeduldig, geschweige denn unwohl, wie ich mich fühle. Man könnte meinen, wenn man uns betrachtet, dass wir uns hier treffen, um miteinander zu feiern, zu lachen und zu essen, denn die Stimmung ist locker und entspannt, beinahe feierlich. Nichts weist darauf hin, was später passieren wird.
Links und rechts entlang des Platzes stehen, geometrisch angeordnet, grüne Bäume, die wie einzelne Soldaten aufgereiht in der Reihe stehen, zum größtmöglichen Profit trainiert. Was bei den Bäumen bedeutet, möglichst wenig Wasser zu benötigen, mehr Kohlenstoffdioxid umzuwandeln und eine längere Lebensdauer. Hinter ihnen erstrecken sich große Wiesen mit vereinzelten Wegen und Straßen. Ich liebe das viele Grün, denn wenn ich die Bilder von der Vergangenheit anschaue, sehe ich graue Städte und braune vertrocknete Landschaften. So möchte ich ganz sicher nicht leben. Doch nichts ist genau so, wie man es gerne hätte. Bei uns sind der Preis dafür die vielen CPs, die sich entlang der Bäume militärisch aufgereiht haben. Aber auf was sonst verzichten wir noch, um so leben zu können?
Mein Blick schweift von den Bäumen weiter nach rechts zu unserem Fluss, der sich überall durchzieht, außer durch die Slums. Diese befinden sich in der anderen Richtung, im Westen, und sind die größte der fünf Regionen. Unser Fluss heißt Zekar, doch weshalb, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich haben irgendwelche einflussreichen Leute willkürlich unserer Welt Namen, die ihnen gerade gefallen haben, verteilt. Wenn ich das fließende Wasser betrachte, fühlt es sich so an, als kämen jeden Moment vergangene Erinnerungen hoch. Doch trotzdem kann ich mich an nichts erinnern. Was könnte mir überhaupt fehlen, denn ich habe das Gefühl, ich hätte noch gar nichts wirklich erlebt in meinem Leben. Aber es ist, als wäre da etwas, knapp unter der Oberfläche, aber ich kann es nicht erfassen, geschweige denn einordnen. Am Schwierigsten finde ich, anderen Menschen die eigenen Gefühle zu erklären. Doch in diesem Fall kann ich nicht mal mir selbst helfen, mich zu verstehen. Vielleicht ist es eine Sehnsucht. Nein, doch nicht, es ist mehr als das, ein tiefes Verlangen nach … Ja, nach was?
Ganz in meinen Gedanken verloren habe ich, wie ich nun bemerke, den Palazisko angestarrt. Denn ganz vorne, teilweise durch bereits anwesende Bewohner verdeckt, steht er. Der pompöse Ratssitz. Keines der anderen Gebäude hier bei uns kann mit der unglaublichen Architektur dieses Palastes mithalten. Hauptsächlich besteht er aus Glas, das aber von außen das Licht reflektiert und wir deshalb nur eine Spiegelung unserer Welt sehen. Der Grundriss unten ist rund, dann läuft es kegelartig nach oben zusammen und gegen Ende erstreckt sich die Glaswand erneut nach außen. So sitzt auf dem Gebäude eine Art ovalförmige Kugel, die von uns als Thron bezeichnet wird. Dieser ist aber dennoch durch den Kegel mit den unteren Geschossen verbunden ist. Ich habe mich schon immer gefragt, wie man das wohl gebaut hat, dass es nicht in sich zusammenstürzt, weil das Gebäude oben breiter ist als unten. Irgendwie erinnert es mich an einen Pilz, denn am Glaskegel entlang, bis kurz unter den Thron erstrecken sich graue gekrümmte Titansäulen, die am Ende in einer Spitze enden und an die Lamellen eines Pilzes erinnern. Es scheint, als würden sie den Thron tragen, da sie so stark gebogen sind, dass sie unter diesem verlaufen. Ich löse meinen Blick vom Palast und betrachte das Monument in der Mitte des Platzes, welches aus Marmor ist. Tristan Nortarus – Gründer der GreenSC, steht unten auf der Metallplakette, die gerade verdeckt wird. Obwohl es nur eine Statue ist, strahlt sie Kraft aus und unwillkürlich zieht man den Kopf vor dem Mann ein. Auch wenn er hier nur aus weißem Stein besteht, weiß ich, wie er aussah und welchen Einfluss er hatte. Ich habe schon unzählige Aufnahmen von seinen Reden gesehen und Bilder von ihm sind überall zu finden. Ich weiß schon seit immer, wer Nortarus ist, weshalb ich nicht weiß, wie mein erster Eindruck von ihm aussähe. Doch müsste ich mich eigentlich nicht erinnern können, an den Moment, als ich zum ersten Mal unseren Gründer sah? Merkwürdig, es scheint mir eigentlich nicht, als hätte ich ein schlechtes Erinnerungsgedächtnis, dennoch habe ich immer wieder das Gefühl, dass einige Erinnerungen da sein müssten, es aber nicht sind. Als ich Nortarus betrachte, kommt es mir wieder vor, als treibe ein bestimmter Erinnerungsfetzen um mich herum, nach dem ich nur meine Hand ausstrecken muss, um ihn zu fassen zu kriegen.
Wahrscheinlich wäre mir damals zuerst der kalte, gefühllose Ausdruck in seinen blauen Augen aufgefallen. Seine dunkelschwarzen Haare, hohen Wangenknochen und die blasse Haut verstärken das Bild des erbarmungslosen Anführers. Dennoch ist er unser Gründer, unsere Vorfahren sind ihm gefolgt und haben ihm vertraut, zu unserem Glück. Hätte er die Leute nicht auf seine Seite gebracht, hätte nicht durch die vereinten Kräfte aller Menschen ein solches System entstehen können, welches unser Überleben sichert. Zumindest wird es uns so beigebracht in der Schule. Aber wenn ich nach draußen sehe, hinter das Glas unserer Kuppel, das unsere Luft filtert, sehe ich kein Leben und kein Überleben. Die Klimakrise muss wahr sein und deshalb ist auch der heutige Tag so wichtig für den Rat. Außerdem ist heute nicht nur Freitag, sondern auch noch Gründungstag. Heute vor fünfzig Jahren wurde die GreenSC gegründet, unsere Partei. Unsere einzige Partei überhaupt. Deshalb wird diese Versammlung noch länger gehen als sonst, ich seufze bei diesem Gedanken innerlich auf. Unwillkürlich blicke ich über meine Schulter hinweg zu den Arbeitern, die hinter uns stehen. Viele von ihnen tragen ihre Arbeitsuniform, ich nehme an, die Farbe kennzeichnet ihren Arbeitsplatz. Doch seit wann wird freitags gearbeitet?
Ich merke, dass es beginnt, als Jubel durch die Reihen geht. Sehen tue ich nicht viel. Aber vorne vor dem Palazisko gibt es eine Art Erhöhung, auf welcher die Bokowskis stehen müssen, nehme ich an. Von dort führen breite Treppen hinunter auf den Platz, der sich etwas tiefer befindet. Wir sind etwa in der Mitte des Platzes, links von Nortarus, aber vor uns sind noch weitere aus unserem Viertel. Alle Privilegierten befinden sich in den vordersten Reihen. Sie kommen direkt von Pryzydora mit ihren Elektroautos, während wir die Bahn benutzen müssen. Hinter uns drängen sich noch mehr Arbeiter auf den Platz, die wahrscheinlich auch die Bahn genommen haben, um hierher zu gelangen. Jedoch wohnen wir weiter im Norden als sie, weshalb die Magnetbahn nicht dieselbe ist. Als ich mich umdrehe, um nachzuschauen, wie voll der Platz ist, fällt mir auf, dass nur vereinzelte Arbeiter dem Auftritt des Rates applaudieren. Ich schüttle leicht den Kopf und lasse meine Hände auch sinken. Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich die obere Hälfte des Ratssitzes. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Ratsfamilie zu erhaschen. Dort stehen sie, auf der geräumigen Plattform, die Hand gehoben, um uns zu grüßen. Die Bokowskis regieren in Zyklonia, die Macht wird immer in ihrer Familie bleiben, sie wird weitervererbt. Doch ich zweifle daran, dass das die richtige Methode ist, vor allem wenn ich mir vorstelle, dass später einmal diese Zwillinge das Sagen haben werden. Ich lasse mich wieder hinunter sinken und mache mich bereit, der Rede zuzuhören. Die Luft ist nun stickig und der Geruch nach Schweiß steigt mir in die Nase. Es ist unbequem hier, inmitten dieser Menschenmasse, zu stehen. Es ist eng und lauter große Leute verdecken mir die Sicht. Schließlich starre ich auf meine Schuhe, obwohl ich lieber die Bokowskis beobachtet hätte, um mehr über sie zu erfahren, doch meine Größe ist nicht gerade das, was mich ausmacht, und deshalb belasse ich es dabei, nur den Worten zuzuhören.

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