Zeitkapseln - Botschaften in die Welt von morgen

Zeitkapseln - Botschaften in die Welt von morgen

17 Briefe an den Enkelsohn

Bertwin Minks


EUR 17,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 538
ISBN: 978-3-99131-003-7
Erscheinungsdatum: 07.12.2021

Leseprobe:

Vorbemerkungen

Mein Enkelsohn heißt Matti. Er wurde am 12. Juli 2016 geboren. Der Junge war ein Frühchen, denn er kam sechs Wochen vor dem bestimmten Zeitpunkt auf die Welt. Durch diesen temporalen Ungehorsam konnte der neue Erdenbürger sein irdisches Dasein um eine Lebensspanne von 42 Tagen verlängern. Freilich dürfte der kleine Kerl von diesem Streich nicht allzu viel gehabt haben. Doch das wird die Zeit nicht interessieren, denn sie scheint es zu hassen, wenn man sie überlistet. Die rätselhafte Dimension steht zwar im Ruf, alle Wunden heilen und schmerzliche Erinnerungen auslöschen zu können. Doch wer weiß, ob sie mit ihren Segnungen für die Menschen barmherzig daherkommen mag und ihnen wirklich Erlösung spenden kann? Jedenfalls scheint die 4. raumzeitliche Dimension immer nur unerbittlich und gnadenlos zu verrinnen und niemals innehalten zu wollen.
Obwohl die Leute ständig von der Zeit umgeben sind und von ihr täglich begleitet werden, haftet ihr seit Menschengedenken etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes und Unergründliches an. Seit ihrer Geburt im Standarduniversum vor knapp 14 Milliarden Jahren scheint die Zeit von Anbeginn ein Mysterium zu hüten. Es ist diese unheimliche temporale Aura, die uns mitunter erschauern lässt. Dazu kommt, dass Lebenszeit durch das Schicksal und von jedermann jederzeit verkürzt werden kann. Eine Verlängerung des Daseins irdischer Geschöpfe scheint dagegen allein in der Macht der Zeit zu stehen. Diese Wundergabe der 4. raumzeitlichen Dimension muss von uns Menschen wohl als eine Art „göttliches“ Privileg verstanden werden!
Als Großvater bin ich besorgt, dass der Enkelsohn durch den temporalen Ungehorsam, den er bei seinem verfrühten Eintritt in unsere Welt gezeigt hat, sich mit der Zeit angelegt haben könnte. Anfänglich habe ich versucht, den kleinen Jungen durch allerhand lustigen „Zauberkram“ wie verwunschene Mützen, Schuhe oder verzauberte Socken oder T-Shirts vor der Hinterlist der Zeit zu beschützen. Bis heute scheint der faule Zauber einigermaßen funktioniert zu haben. Allerdings kann ich nicht ewig für ihn da sein, da meine Lebenszeit verrinnt und das Dasein eines Großvaters in dieser Welt ohnehin begrenzt ist.
Ich habe mich daher entschlossen, dem heranwachsenden Jungen in Zeitkapseln verschlossene Botschaften in seine Zukunft zu schicken. Aus meiner Sicht stellen die Briefe ein Kaleidoskop von Ansichten, Wünschen, Empfehlungen, Erwartungen und Überzeugungen dar, die ein Großvater seinem Enkel gern selbst erzählt, erklärt oder vermittelt hätte. Vielleicht können einige Briefe für ihn sogar eine Hilfestellung sein, um sich auf dem einen oder anderen gesellschaftlichen Areal der komplizierten Wirklichkeit seiner Zeit besser orientieren zu können. Das mag freilich ein ziemlich hoher Anspruch für einen Großvater sein. Aber nach meiner Überzeugung werden die meisten analogen Erkenntnisse und Wahrheiten auch in der digitalen Welt der Zukunft ihren Stellenwert behalten. Es wäre für mich eine wunderbare Erfahrung, wenn ich dazu beitragen könnte, dass mein Enkel zu diesem oder jenem Sachverhalt einen vernünftigen Standpunkt findet. Darüber hinaus möchte ich ihn auch mit ein paar nicht alltäglichen Geschichten unterhalten. Wenn es mir gelingen sollte, dass deren Lektüre ihm in der Welt von morgen ein Lächeln oder Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag, wäre das für mich wie ein nachträgliches Geschenk in meinem dann vermutlich bereits abgelaufenen irdischen Dasein.
Die Dinge, die ich ihm gern vermittelt hätte, betreffen das Verständnis von Naturgeschichte, Evolution, Religion, Politik und Kosmologie. Dazu kommt ein Versuch, ihm die Schönheit abstrakten mathematischen Denkens auf poetische Weise nahezubringen. Aber auch für Literatur, klassische Musik, Geschichte und bildende Kunst würde ich ihn gern begeistert haben. Mir ist bewusst, dass die in den Zeitkapseln verborgenen Botschaften unvollständig bleiben müssen. Sie stellen den Versuch dar, das visionäre Haus von morgen, in dem mein Enkel eines Tages leben wird, wenigstens in meinen Träumen zu besuchen. Irgendwann, vermutlich eines gar nicht mehr so fernen Tages, wird der Enkelsohn sowieso ohne den Großvater mit den Herausforderungen des Lebens klarkommen müssen. Dazu gehört auch, dass er die Tücken der 4. raumzeitlichen Dimension meistert und sich mit ihren scheinbar unabänderlichen Abläufen arrangiert und abfindet.
Möge allzeit eine weise Fee über sein Schicksal wachen und seine künftigen Lebenswege mit einem gütigen Zauber begleiten!



Das raumzeitliche Dilemma der Generationen (n) und (n+2)

Das temporale Spannungsfeld zwischen Großeltern und Enkelkindern resultiert aus der Verschiedenheit der vierten raumzeitlichen Koordinate bei deren jeweiligen Eintritt in das Kontinuum der Zeit. In der Regel trennt die beiden Generationen eine zeitliche Barriere von mindestens einem halben Jahrhundert. Dazu kommt, dass sie – wie alle Menschen – in einem identischen Inertialsystem gefangen sind, in dem man ohne Zeitmaschinen dem gleichförmigen Verrinnen der Zeit nicht entkommen kann. In so einer deterministisch bestimmten Welt lassen sich temporale Differenzen nicht nivellieren, verkürzen oder durch Zeitdehnung beeinflussen – auch nicht vorübergehend.
Das Szenario muss man als naturgegeben begreifen, denn ohne das Dasein von Eltern und deren Kindern können in der Ereignisabfolge, die von der Richtung des thermodynamischen Zeitpfeils vorgegeben wird, auch keine Kindeskinder das Licht der Welt erblicken. Daher scheinen Großeltern aus der Sicht von Enkelkindern stets als ziemlich alte Leute in deren Leben zu treten und es viel zu früh, oft in einem gebrechlichen Zustand, verlassen zu müssen. Das temporale Dilemma der Generationen (n) und (n+2) mag man beklagen, doch es sollte nicht als ein Fluch verstanden werden. Es speist sich aus dem Wesen des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit und scheint damit in der raumzeitlichen Welt des Standarduniversums unabänderlich zu sein.
Die in den 17 Briefen an den Enkelsohn geäußerten Gedanken und Gefühle möchten dazu beitragen, dass der Generation von übermorgen die Bewahrung eines liebevollen und lebendigen Andenkens an die Großeltern zu einem seelischen Bedürfnis werden mag. Vielleicht könnte durch die Magie der Erinnerung auch die gedankliche und emotionale Welt der Enkel in einer noch ungewissen Zukunft einen zauberhaften Moment lang erhellt werden – und sei es auch nur für die Dauer einer Septilliarde (1045) Plancksekunden lang. Die vielfach bedrohte Welt von morgen würde dadurch keinen Schaden nehmen. Im Gegenteil: Wer vermag schon zu sagen, ob die Enkelkinder
der Enkelkinder heutiger Großeltern (sozusagen die Generation (n + 4)) eines fernen Tages eine freudvolle und lichte Zukunft auf unserem Planeten erleben werden?



Enkelkinder, Enkelzeit

Enkelkinder gehören allein dem Leben
und dessen Sehnsucht nach sich selbst.
Du kannst auf Dauer ihnen keine Heimstatt geben,
auch wenn du dich für ihren Mentor hältst.

Du träumst dich in ihre ferne Zukunft-Welt
und möchtest sie verstehen – um ihretwillen!
Doch da die Zeit den Wunsch gefangen hält,
wird sich dein Traum niemals erfüllen.

Wenn deine Jahre nach und nach vergehen
und Enkel wie kleine Wunder wachsen und erblühen,
dann wirst du das Wort Abschied erst verstehen
begrenzt doch Lebenszeit all dein Bemühen

Enkel bringen Erinnerungen und Träume dir zurück,
sie geben dem Lebensabend die Vollkommenheit.
Sie sind wie Liebe, Schönheit, Jugend oder Glück
Geschenke des Lebens! Ja – aber nur auf Zeit.

Lebenszeit kann man nicht kaufen oder borgen
und auch die gnadenlose Zeit hält niemals an.
Die Enkel wohnen in der Welt von morgen,
die man als Oma und Opa nicht besuchen kann.

Ach, Enkelkinder und du wunderbare Enkelzeit,
nicht jedem Menschen sind sie wohl gegeben,
doch ohne sie bedeutet Alter Einsamkeit
und unerfüllte Sehnsucht nach dem Leben.



1. Brief vom 26. Juli 2019

Anlage

Leben – eine privilegierte Architektur der Natur, Mythos, Zauber, Wege und Wirken der irdischen Evolution

Leipzig, 26. Juli 2019,
zu öffnen am 26. Juli 2038



Mein lieber Enkelsohn,


heute, das heißt, wenn du diesen Brief aus meiner zeitlichen Perspektive in der Zukunft öffnest, werden Oma Steffi und deine ältere Cousine Elisa Geburtstag feiern. Deine Großmutter könnte an diesem Tag, falls sie noch auf der Welt weilen sollte, stolze 86 Jahre alt werden. Die Enkeltochter Elisa dürfte dann mit ihren 34 Jahren längst zu einer attraktiven selbstbewussten jungen Frau erblüht sein. Als ihr Großvater bin ich zuversichtlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihr Leben in den Griff bekommen haben wird. Doch diese familiären Dinge möchte ich nur am Rande erwähnen. Das Anliegen meines Briefes betrifft ein Thema, das ich mit dir gern persönlich besprochen hätte.
Junge, ich weiß nicht, wie du in 19 Jahren mental ticken könntest und ob du dir dann noch ein paar lebendige Erinnerungen an deinen Opa bewahrt haben wirst. Welche Dinge mögen dich im Alter von 22 Jahren bewegen, wofür wird dein Herz brennen oder schlagen und was magst du für ein Mensch geworden sein? Trotz mancher Unwägbarkeiten wage ich es, diese Zeilen an dich zu schreiben, denn ich möchte dir als ein kleines intellektuelles Vermächtnis eine Betrachtung zum Werden und Vergehen unserer Welt zukommen lassen. Freilich könnte es sein, dass du auf solche Gedanken keinen Wert legst. Möglicherweise favorisierst du sportliche, naturorientierte, musikalisch bestimmte oder sonstige ubiquitäre Lebensinhalte? Vielleicht aber lebst du gedanklich auch vorzugsweise in den oft bildungsferneren Welten sozialer Medien?
Mir ist bewusst, dass ich der Spezies eines analogen Bildungsbürgers zuzuordnen bin. Diese menschliche Unterart ist im digitalen Zeitalter massiv vom Aussterben bedroht. Je nachdem, wie man geistig und intellektuell aufgestellt ist, mag man das nun für überfällig halten, lediglich mit den Schultern zucken oder eventuell auch ein bisschen bedauern. Es kann sein, dass die soziokulturelle Evolution für diese bedrohte archaische Unterart des zivilisierten Menschen ein paar gesellschaftliche Nischen findet. Dort könnten diese Geschöpfe dem als unerbittlich geltenden digitalen Zeitgeist vielleicht noch eine Weile die Stirn bieten. Aussterben an sich muss aber nicht als Schande empfunden werden. So ein Pech kann schließlich jede Spezies ereilen. Meistens wirft man den Vertretern ausgestorbener Arten vor, unflexibel und reformunwillig zu sein sowie wenig innovativ auf Veränderungen zu reagieren. Nun ja, das mag stimmen oder auch nicht richtig sein, denn die Beurteilung eines derart komplexen Sachverhaltes resultiert aus der Perspektive oder dem Blickwinkel im Auge des Betrachters.
Bei dem Gedanken an den vom Aussterben bedrohten analogen Bildungsbürger fallen mir die Dinosaurier ein. Diese faszinierende Tiergruppe ist ja am Ende des Mesozoikums bedauerlicherweise ausgestorben. Ob das nun verschuldet oder unverschuldet passiert ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Doch ungeachtet ihres tragischen evolutionären Schicksals leben die Dinosaurier und die untergegangene biologische Wunderwelt des Erdmittelalters in den Köpfen und Herzen der Menschen fort. Ich finde, dass diese Tatsache für ausgestorbene Individuen schon eine bemerkenswerte Leistung darstellt. Warum also sollte dein Großvater mit seinen antiquierten intellektuellen Überzeugungen und als überholt geltenden analogen Ansichten nicht auch so einen Status in deinen Erinnerungen erlangen können? Ich hoffe, dass eines Tages die Zeit dafür kommen wird und dich zu entsprechenden Einsichten und Erkenntnissen bringen könnte.
Mein Junge, dieser Brief hat einen Hintergedanken oder nennen wir die Angelegenheit, besser gesagt, Botschaft. Er soll dich für Ereignisse auf unserem Planeten sensibilisieren, die vor langer Zeit stattgefunden haben, also längst zur Geschichte geworden sind. Wissen um geschichtliche Vorgänge und ein Nachdenken darüber sind erforderlich, um Vorstellungen zu entwickeln, wie die Entwicklung fortschreiten könnte. Ich hoffe, dass du in 19 Jahren zu einem weitläufig gebildeten jungen Mann herangewachsen sein wirst und dich auf dem besten Weg zu einem qualifizierten Verständnis von der Welt und den Menschen befindest. Das mag freilich eine Wunschvorstellung von mir sein. Doch warum sollten manchmal nicht auch Wünsche von analogen menschlichen „Dinosauriern“ in der Zukunft in Erfüllung gehen?
Der Mythos und der Zauber der irdischen Evolution haben mich seit jeher fasziniert und begeistert. Es ist doch aufregend zu erfahren, woher man gekommen ist und wohin man gehen könnte. Ich glaube, oder besser gesagt, ich hoffe, dass du mein Interesse an dem Thema teilen wirst. In dem Traktat „Leben – eine privilegierte Architektur der Natur“ habe ich mir zur Naturgeschichte unserer Welt und deren Zukunft ein paar Gedanken gemacht. Du wirst sie so komprimiert in keiner Rubrik eine Suchmaschine im Internet finden. Man kann zu diesem oder jenem Aspekt sicherlich ein paar andere Ansichten haben. Ich halte es aber für wichtig, dass ein junger Mann wie du überhaupt über das Woher, Wohin und Warum evolutionärer Prozesse nachdenkt. Leuten, die sich darüber überhaupt keine Gedanken machen, dürfte ein Stück geistiger Standortbestimmung im Leben fehlen!
Zum Schluss des Traktates habe ich meine Gedanken ein bisschen poetisch verklärt. Es kann sein, dass du diese Passagen wegen einer gewissen Melodramatik als unzeitgemäß empfinden wirst. Sieh es mir nach oder halte es meiner fehlenden digitalen Nüchternheit oder unangemessenen analogen Euphorie zugute. Es mag sein, dass in mir etwas von einem Dichter gesteckt hat. Das habe ich aber niemandem verraten und davon hat auch niemals ein Mensch Notiz genommen.
Falls du mit meinen Gedanken nichts anfangen kannst, dann musst du sie eben in den Papierkorb befördern. Das täte mir zwar ein bisschen leid für mich, aber auch für dich. In diesem Fall habe ich als Großvater in der Angelegenheit halt Pech gehabt. Das Leben ist nun mal äußerst facettenreich und die Menschen mit ihren Interessen, Neigungen und Vorlieben sind es auch. Daher mag es immer wieder Überraschungen und Enttäuschungen sowie unerwartete Entwicklungen und nicht zuletzt auch bittere Erfahrungen geben. Ein Großvater muss das akzeptieren und auch aushalten können, selbst wenn ihm das nicht gefallen und manchmal sogar schwerfallen sollte!
Herzliche Grüße in die Zukunft!

Opa

Anlage
Leben – eine privilegierte Architektur der Natur, Mythos, Zauber, Wege und Wirken der irdischen Evolution

Vorbemerkungen

Mein Enkelsohn heißt Matti. Er wurde am 12. Juli 2016 geboren. Der Junge war ein Frühchen, denn er kam sechs Wochen vor dem bestimmten Zeitpunkt auf die Welt. Durch diesen temporalen Ungehorsam konnte der neue Erdenbürger sein irdisches Dasein um eine Lebensspanne von 42 Tagen verlängern. Freilich dürfte der kleine Kerl von diesem Streich nicht allzu viel gehabt haben. Doch das wird die Zeit nicht interessieren, denn sie scheint es zu hassen, wenn man sie überlistet. Die rätselhafte Dimension steht zwar im Ruf, alle Wunden heilen und schmerzliche Erinnerungen auslöschen zu können. Doch wer weiß, ob sie mit ihren Segnungen für die Menschen barmherzig daherkommen mag und ihnen wirklich Erlösung spenden kann? Jedenfalls scheint die 4. raumzeitliche Dimension immer nur unerbittlich und gnadenlos zu verrinnen und niemals innehalten zu wollen.
Obwohl die Leute ständig von der Zeit umgeben sind und von ihr täglich begleitet werden, haftet ihr seit Menschengedenken etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes und Unergründliches an. Seit ihrer Geburt im Standarduniversum vor knapp 14 Milliarden Jahren scheint die Zeit von Anbeginn ein Mysterium zu hüten. Es ist diese unheimliche temporale Aura, die uns mitunter erschauern lässt. Dazu kommt, dass Lebenszeit durch das Schicksal und von jedermann jederzeit verkürzt werden kann. Eine Verlängerung des Daseins irdischer Geschöpfe scheint dagegen allein in der Macht der Zeit zu stehen. Diese Wundergabe der 4. raumzeitlichen Dimension muss von uns Menschen wohl als eine Art „göttliches“ Privileg verstanden werden!
Als Großvater bin ich besorgt, dass der Enkelsohn durch den temporalen Ungehorsam, den er bei seinem verfrühten Eintritt in unsere Welt gezeigt hat, sich mit der Zeit angelegt haben könnte. Anfänglich habe ich versucht, den kleinen Jungen durch allerhand lustigen „Zauberkram“ wie verwunschene Mützen, Schuhe oder verzauberte Socken oder T-Shirts vor der Hinterlist der Zeit zu beschützen. Bis heute scheint der faule Zauber einigermaßen funktioniert zu haben. Allerdings kann ich nicht ewig für ihn da sein, da meine Lebenszeit verrinnt und das Dasein eines Großvaters in dieser Welt ohnehin begrenzt ist.
Ich habe mich daher entschlossen, dem heranwachsenden Jungen in Zeitkapseln verschlossene Botschaften in seine Zukunft zu schicken. Aus meiner Sicht stellen die Briefe ein Kaleidoskop von Ansichten, Wünschen, Empfehlungen, Erwartungen und Überzeugungen dar, die ein Großvater seinem Enkel gern selbst erzählt, erklärt oder vermittelt hätte. Vielleicht können einige Briefe für ihn sogar eine Hilfestellung sein, um sich auf dem einen oder anderen gesellschaftlichen Areal der komplizierten Wirklichkeit seiner Zeit besser orientieren zu können. Das mag freilich ein ziemlich hoher Anspruch für einen Großvater sein. Aber nach meiner Überzeugung werden die meisten analogen Erkenntnisse und Wahrheiten auch in der digitalen Welt der Zukunft ihren Stellenwert behalten. Es wäre für mich eine wunderbare Erfahrung, wenn ich dazu beitragen könnte, dass mein Enkel zu diesem oder jenem Sachverhalt einen vernünftigen Standpunkt findet. Darüber hinaus möchte ich ihn auch mit ein paar nicht alltäglichen Geschichten unterhalten. Wenn es mir gelingen sollte, dass deren Lektüre ihm in der Welt von morgen ein Lächeln oder Schmunzeln ins Gesicht zu zaubern vermag, wäre das für mich wie ein nachträgliches Geschenk in meinem dann vermutlich bereits abgelaufenen irdischen Dasein.
Die Dinge, die ich ihm gern vermittelt hätte, betreffen das Verständnis von Naturgeschichte, Evolution, Religion, Politik und Kosmologie. Dazu kommt ein Versuch, ihm die Schönheit abstrakten mathematischen Denkens auf poetische Weise nahezubringen. Aber auch für Literatur, klassische Musik, Geschichte und bildende Kunst würde ich ihn gern begeistert haben. Mir ist bewusst, dass die in den Zeitkapseln verborgenen Botschaften unvollständig bleiben müssen. Sie stellen den Versuch dar, das visionäre Haus von morgen, in dem mein Enkel eines Tages leben wird, wenigstens in meinen Träumen zu besuchen. Irgendwann, vermutlich eines gar nicht mehr so fernen Tages, wird der Enkelsohn sowieso ohne den Großvater mit den Herausforderungen des Lebens klarkommen müssen. Dazu gehört auch, dass er die Tücken der 4. raumzeitlichen Dimension meistert und sich mit ihren scheinbar unabänderlichen Abläufen arrangiert und abfindet.
Möge allzeit eine weise Fee über sein Schicksal wachen und seine künftigen Lebenswege mit einem gütigen Zauber begleiten!



Das raumzeitliche Dilemma der Generationen (n) und (n+2)

Das temporale Spannungsfeld zwischen Großeltern und Enkelkindern resultiert aus der Verschiedenheit der vierten raumzeitlichen Koordinate bei deren jeweiligen Eintritt in das Kontinuum der Zeit. In der Regel trennt die beiden Generationen eine zeitliche Barriere von mindestens einem halben Jahrhundert. Dazu kommt, dass sie – wie alle Menschen – in einem identischen Inertialsystem gefangen sind, in dem man ohne Zeitmaschinen dem gleichförmigen Verrinnen der Zeit nicht entkommen kann. In so einer deterministisch bestimmten Welt lassen sich temporale Differenzen nicht nivellieren, verkürzen oder durch Zeitdehnung beeinflussen – auch nicht vorübergehend.
Das Szenario muss man als naturgegeben begreifen, denn ohne das Dasein von Eltern und deren Kindern können in der Ereignisabfolge, die von der Richtung des thermodynamischen Zeitpfeils vorgegeben wird, auch keine Kindeskinder das Licht der Welt erblicken. Daher scheinen Großeltern aus der Sicht von Enkelkindern stets als ziemlich alte Leute in deren Leben zu treten und es viel zu früh, oft in einem gebrechlichen Zustand, verlassen zu müssen. Das temporale Dilemma der Generationen (n) und (n+2) mag man beklagen, doch es sollte nicht als ein Fluch verstanden werden. Es speist sich aus dem Wesen des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit und scheint damit in der raumzeitlichen Welt des Standarduniversums unabänderlich zu sein.
Die in den 17 Briefen an den Enkelsohn geäußerten Gedanken und Gefühle möchten dazu beitragen, dass der Generation von übermorgen die Bewahrung eines liebevollen und lebendigen Andenkens an die Großeltern zu einem seelischen Bedürfnis werden mag. Vielleicht könnte durch die Magie der Erinnerung auch die gedankliche und emotionale Welt der Enkel in einer noch ungewissen Zukunft einen zauberhaften Moment lang erhellt werden – und sei es auch nur für die Dauer einer Septilliarde (1045) Plancksekunden lang. Die vielfach bedrohte Welt von morgen würde dadurch keinen Schaden nehmen. Im Gegenteil: Wer vermag schon zu sagen, ob die Enkelkinder
der Enkelkinder heutiger Großeltern (sozusagen die Generation (n + 4)) eines fernen Tages eine freudvolle und lichte Zukunft auf unserem Planeten erleben werden?



Enkelkinder, Enkelzeit

Enkelkinder gehören allein dem Leben
und dessen Sehnsucht nach sich selbst.
Du kannst auf Dauer ihnen keine Heimstatt geben,
auch wenn du dich für ihren Mentor hältst.

Du träumst dich in ihre ferne Zukunft-Welt
und möchtest sie verstehen – um ihretwillen!
Doch da die Zeit den Wunsch gefangen hält,
wird sich dein Traum niemals erfüllen.

Wenn deine Jahre nach und nach vergehen
und Enkel wie kleine Wunder wachsen und erblühen,
dann wirst du das Wort Abschied erst verstehen
begrenzt doch Lebenszeit all dein Bemühen

Enkel bringen Erinnerungen und Träume dir zurück,
sie geben dem Lebensabend die Vollkommenheit.
Sie sind wie Liebe, Schönheit, Jugend oder Glück
Geschenke des Lebens! Ja – aber nur auf Zeit.

Lebenszeit kann man nicht kaufen oder borgen
und auch die gnadenlose Zeit hält niemals an.
Die Enkel wohnen in der Welt von morgen,
die man als Oma und Opa nicht besuchen kann.

Ach, Enkelkinder und du wunderbare Enkelzeit,
nicht jedem Menschen sind sie wohl gegeben,
doch ohne sie bedeutet Alter Einsamkeit
und unerfüllte Sehnsucht nach dem Leben.



1. Brief vom 26. Juli 2019

Anlage

Leben – eine privilegierte Architektur der Natur, Mythos, Zauber, Wege und Wirken der irdischen Evolution

Leipzig, 26. Juli 2019,
zu öffnen am 26. Juli 2038



Mein lieber Enkelsohn,


heute, das heißt, wenn du diesen Brief aus meiner zeitlichen Perspektive in der Zukunft öffnest, werden Oma Steffi und deine ältere Cousine Elisa Geburtstag feiern. Deine Großmutter könnte an diesem Tag, falls sie noch auf der Welt weilen sollte, stolze 86 Jahre alt werden. Die Enkeltochter Elisa dürfte dann mit ihren 34 Jahren längst zu einer attraktiven selbstbewussten jungen Frau erblüht sein. Als ihr Großvater bin ich zuversichtlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihr Leben in den Griff bekommen haben wird. Doch diese familiären Dinge möchte ich nur am Rande erwähnen. Das Anliegen meines Briefes betrifft ein Thema, das ich mit dir gern persönlich besprochen hätte.
Junge, ich weiß nicht, wie du in 19 Jahren mental ticken könntest und ob du dir dann noch ein paar lebendige Erinnerungen an deinen Opa bewahrt haben wirst. Welche Dinge mögen dich im Alter von 22 Jahren bewegen, wofür wird dein Herz brennen oder schlagen und was magst du für ein Mensch geworden sein? Trotz mancher Unwägbarkeiten wage ich es, diese Zeilen an dich zu schreiben, denn ich möchte dir als ein kleines intellektuelles Vermächtnis eine Betrachtung zum Werden und Vergehen unserer Welt zukommen lassen. Freilich könnte es sein, dass du auf solche Gedanken keinen Wert legst. Möglicherweise favorisierst du sportliche, naturorientierte, musikalisch bestimmte oder sonstige ubiquitäre Lebensinhalte? Vielleicht aber lebst du gedanklich auch vorzugsweise in den oft bildungsferneren Welten sozialer Medien?
Mir ist bewusst, dass ich der Spezies eines analogen Bildungsbürgers zuzuordnen bin. Diese menschliche Unterart ist im digitalen Zeitalter massiv vom Aussterben bedroht. Je nachdem, wie man geistig und intellektuell aufgestellt ist, mag man das nun für überfällig halten, lediglich mit den Schultern zucken oder eventuell auch ein bisschen bedauern. Es kann sein, dass die soziokulturelle Evolution für diese bedrohte archaische Unterart des zivilisierten Menschen ein paar gesellschaftliche Nischen findet. Dort könnten diese Geschöpfe dem als unerbittlich geltenden digitalen Zeitgeist vielleicht noch eine Weile die Stirn bieten. Aussterben an sich muss aber nicht als Schande empfunden werden. So ein Pech kann schließlich jede Spezies ereilen. Meistens wirft man den Vertretern ausgestorbener Arten vor, unflexibel und reformunwillig zu sein sowie wenig innovativ auf Veränderungen zu reagieren. Nun ja, das mag stimmen oder auch nicht richtig sein, denn die Beurteilung eines derart komplexen Sachverhaltes resultiert aus der Perspektive oder dem Blickwinkel im Auge des Betrachters.
Bei dem Gedanken an den vom Aussterben bedrohten analogen Bildungsbürger fallen mir die Dinosaurier ein. Diese faszinierende Tiergruppe ist ja am Ende des Mesozoikums bedauerlicherweise ausgestorben. Ob das nun verschuldet oder unverschuldet passiert ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Doch ungeachtet ihres tragischen evolutionären Schicksals leben die Dinosaurier und die untergegangene biologische Wunderwelt des Erdmittelalters in den Köpfen und Herzen der Menschen fort. Ich finde, dass diese Tatsache für ausgestorbene Individuen schon eine bemerkenswerte Leistung darstellt. Warum also sollte dein Großvater mit seinen antiquierten intellektuellen Überzeugungen und als überholt geltenden analogen Ansichten nicht auch so einen Status in deinen Erinnerungen erlangen können? Ich hoffe, dass eines Tages die Zeit dafür kommen wird und dich zu entsprechenden Einsichten und Erkenntnissen bringen könnte.
Mein Junge, dieser Brief hat einen Hintergedanken oder nennen wir die Angelegenheit, besser gesagt, Botschaft. Er soll dich für Ereignisse auf unserem Planeten sensibilisieren, die vor langer Zeit stattgefunden haben, also längst zur Geschichte geworden sind. Wissen um geschichtliche Vorgänge und ein Nachdenken darüber sind erforderlich, um Vorstellungen zu entwickeln, wie die Entwicklung fortschreiten könnte. Ich hoffe, dass du in 19 Jahren zu einem weitläufig gebildeten jungen Mann herangewachsen sein wirst und dich auf dem besten Weg zu einem qualifizierten Verständnis von der Welt und den Menschen befindest. Das mag freilich eine Wunschvorstellung von mir sein. Doch warum sollten manchmal nicht auch Wünsche von analogen menschlichen „Dinosauriern“ in der Zukunft in Erfüllung gehen?
Der Mythos und der Zauber der irdischen Evolution haben mich seit jeher fasziniert und begeistert. Es ist doch aufregend zu erfahren, woher man gekommen ist und wohin man gehen könnte. Ich glaube, oder besser gesagt, ich hoffe, dass du mein Interesse an dem Thema teilen wirst. In dem Traktat „Leben – eine privilegierte Architektur der Natur“ habe ich mir zur Naturgeschichte unserer Welt und deren Zukunft ein paar Gedanken gemacht. Du wirst sie so komprimiert in keiner Rubrik eine Suchmaschine im Internet finden. Man kann zu diesem oder jenem Aspekt sicherlich ein paar andere Ansichten haben. Ich halte es aber für wichtig, dass ein junger Mann wie du überhaupt über das Woher, Wohin und Warum evolutionärer Prozesse nachdenkt. Leuten, die sich darüber überhaupt keine Gedanken machen, dürfte ein Stück geistiger Standortbestimmung im Leben fehlen!
Zum Schluss des Traktates habe ich meine Gedanken ein bisschen poetisch verklärt. Es kann sein, dass du diese Passagen wegen einer gewissen Melodramatik als unzeitgemäß empfinden wirst. Sieh es mir nach oder halte es meiner fehlenden digitalen Nüchternheit oder unangemessenen analogen Euphorie zugute. Es mag sein, dass in mir etwas von einem Dichter gesteckt hat. Das habe ich aber niemandem verraten und davon hat auch niemals ein Mensch Notiz genommen.
Falls du mit meinen Gedanken nichts anfangen kannst, dann musst du sie eben in den Papierkorb befördern. Das täte mir zwar ein bisschen leid für mich, aber auch für dich. In diesem Fall habe ich als Großvater in der Angelegenheit halt Pech gehabt. Das Leben ist nun mal äußerst facettenreich und die Menschen mit ihren Interessen, Neigungen und Vorlieben sind es auch. Daher mag es immer wieder Überraschungen und Enttäuschungen sowie unerwartete Entwicklungen und nicht zuletzt auch bittere Erfahrungen geben. Ein Großvater muss das akzeptieren und auch aushalten können, selbst wenn ihm das nicht gefallen und manchmal sogar schwerfallen sollte!
Herzliche Grüße in die Zukunft!

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