Winterreise

Winterreise

Eine musikalische Erzählung

Almut Philipp


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 134
ISBN: 978-3-95840-844-9
Erscheinungsdatum: 09.05.2019
Imke Lindenthal, eine junge, erfolgreiche Musikerin, trifft auf den um vieles älteren Dirigenten Magnus Meyberg, in den sie sich auf Anhieb verliebt. Dennoch heiratet sie ihren Verlobten und eine Verkettung unglücklicher Ereignisse nimmt ihren Lauf …
1. Teil

MAGNUS

Magnus schreckte aus dem Schlaf, schweißnass und mit heftig pulsierendem Herzschlag. Erst als er die ruhigen Atemzüge der friedlich an seiner Seite schlummernden Gefährtin wahrnahm, verlangsamte sich das Pochen seines Herzens allmählich, doch es brauchte Zeit, viel Zeit, bis es sein normales Maß wieder gefunden hatte. „Was war das?“, dachte der so unsanft in die Wirklichkeit Geworfene aufgewühlt. „Ein Traum?“ Die Erinnerung an das Erlebte drohte zu schwinden, da blitzte schemenhaft ein junges Frauengesicht vor seinem inneren Auge auf. Erneut begann das Herz schneller zu schlagen. „Wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen …“, assoziierte Magnus nun, fast erleichtert über seine bruchstückhafte Annäherung, und schmunzelte ein wenig. Der Versuch, seinem Traum auf die Spur zu kommen, hatte ihn sehr müde gemacht, was dazu führte, dass das sich in Aufruhr befindliche Herz wieder in etwas ruhigeres Fahrwasser gelangte. An Schlaf jedoch war vorerst nicht mehr zu denken. „Alter Narr!“, sinnierte der in Unruhe versetzte Geist. „Dass ein seltsam vertrautes Mädchengesicht dich so quält!“ Der Traum entzog sich Magnus, so sehr er ihn auch einzufangen versuchte, das Bild des Mädchens blieb nebulös, und doch wurde er es nicht mehr los. Dafür schämte er sich ein wenig angesichts der neben ihm Schlafenden, die er sodann eine Weile liebevoll im Aufdämmern des ersten Morgenlichtes betrachtete, welches sich, am Saum der Vorhänge vorbei, durch das Fenster in das Zimmer schob. „Alter Narr!“, dachte er noch einmal, denn seine langen, zärtlich auf die Schlummernde gerichteten Blicke beruhigten ihn weniger als sonst und vermochten das verschwommene, ihn verfolgende Mädchenbild seiner Traumreise weder zu verwischen noch halfen sie, es zu schärfen. Immer wieder überfiel ihn intervallartig ein heftiges Herzrasen. Als Magnus schließlich den Blick zum Fenster wandte, phantasierte er lautlos, während seine Erinnerung immer deutlichere Formen annahm: „Imke! Was für ein schöner Name für ein so süßes Singvögelchen!“ Endlich kamen seine immer noch rasch aufeinander folgenden Atemzüge wieder zur Ruhe und der Schlaf senkte sich noch einmal mit bleierner Schwere auf seine Augenlider, bis helles Tageslicht das Zimmer ganz erfüllte und die klangvolle Stimme seiner Frau, Dora, ihn weckte: „Magnus, guten Morgen! Was für ein schöner, sonniger Wintertag!“ Dora hatte die Vorhänge zur Seite geschoben. Magnus blinzelte verstört: Da war es wieder, dieses beunruhigend beglückende Engelsgesicht vor seinem inneren Auge, das inzwischen einen Namen hatte! Fast wollte Ärger in ihm hochsteigen, doch das Gefühl, das Imkes Anblick im nächtlichen Traum, und auch jetzt noch, nachhaltig in ihm auslöste, war kein Anlass zum Zorn, sondern es flutete ihn mit wohliger Wärme, wie es die morgendliche Wintersonne mit dem nachtkalten Zimmer tat. „Imke …“, dachte Magnus noch einmal verwirrt. Eine Empfindung, die sich nur mit dem schönen, altmodischen Wort „Sehnsucht“ treffend beschreiben ließ, nahm ihn plötzlich gefangen, und das mit so beschämender Wucht, dass es ihn tief erschütterte. „Imke!“, flüsterte er fast unhörbar. Dora, seine Frau, bemerkte die Bewegung seiner Lippen und fragte arglos: „Was sagtest du, mein Lieber?“ Sie setzte sich zu ihm auf sein Bett. Hilfe suchend griff der Bedrängte nach ihrer Hand, er wollte sie nicht belügen. „Ich träumte unruhig heute Nacht“, entgegnete er. „Ich träumte von …“ Er geriet ins Stocken. Die Stirn runzelnd schaute Dora ihren Mann an. „Magnus, fehlt dir etwas?“, erkundigte sie sich besorgt, als er weiter schwieg und sich mit einer blasseren Gesichtsfarbe, als er sonst hatte, im Bett aufrichtete. „Nein, nein“, antwortete er und fühlte sich schuldig. Magnus dachte unablässig an das „verlorene Vögelchen“, dessen rührender Anblick und wundervolles Harfenspiel ihm zum ersten Mal in seine Träume gefolgt waren, und etwas zögernd, wie abwesend, sagte er dann: „Ich habe von Anna geträumt. Von Anna …?“, fragte er sich selbst heimlich. „Was rede ich da? Anna? Anna! Imke hat ihre Gesichtszüge!“, schoss es ihm wie vom Blitz getroffen heiß durch den Kopf, als eine Erkenntnis, die soeben aus tiefster Tiefe des Unterbewussten zu ihm ins Licht gedrungen war, und er sah seine vor langer Zeit und viel zu jung verstorbene frühere Frau vor sich. Imke, Anna, bunt wirbelten ihre Bilder in seinem Schädel umher, unzählige Bilder! Es streiften ihn alte, sehr alte Erinnerungen. Er sah seine zerbrechliche Ehefrau mit dem kleinen Töchterchen Bettina auf dem Schoß, sie und sich selbst, Anna am Flügel sitzend, sich als Dirigenten vor seinem Orchester, und er schaute auf die begnadete Musikerin, wie sie einfühlsam Lieder begleitete, dazu erhob sich eine Melodie in seinen Ohren, die bald seinen gesamten Körper mit einem wärmenden Wohlklang erfüllte: Er hörte den „Frühlingstraum“ aus dem romantischen Liederzyklus „Winterreise“ des großen Komponisten Franz Schubert, dazwischen schoben sich Bilder von Imke, wie sie ihm, ihrer Harfe himmlische Töne entlockend, weit mehr als nur freundlich in die Augen sah. Er spürte ihre tiefen, traurigen Blicke und wie sie ihn zerrissen, er empfing immer neue Bilder und Klänge, die allesamt eine nun fast unerträgliche, schmerzhafte Sehnsucht in ihm auslösten. Der nächtliche Traum hatte alles in sein Bewusstsein geholt. Ab sofort konnte er Imke nicht mehr vergessen, und er war sich gleichzeitig sicher, dass das bedauernswerte, junge Geschöpf ihn mit aller Kraft ihrer Seele liebte, mit einer urgewaltigen Kraft, die beglückend war, und doch auch Zerstörerisches in sich zu bergen drohte, zumindest befürchtete der Dirigent das für einen Moment, und es machte ihm Angst. „Warum?“, flüsterte er erregt und grübelte über den Sinn dieser Begegnung nach. „Warum? Was meinst du?“, mischte sich Dora teilnahmsvoll ein und riss ihn jäh aus seinen wirren Gedanken, die sich nur langsam aus dem Nebel zu heben schienen. Magnus schwieg lange und fragte dann unvermittelt und seufzend: „Warum musste sie so früh sterben?“ Wieder streichelte Dora liebevoll die Hand ihres Gefährten und meinte, Anna werde immer in seinem Herzen bleiben, das sei ganz natürlich, da er sie sehr geliebt habe. In diesem Augenblick fand der so zärtlich Berührte seine Frau eine Spur zu großherzig und äußerte bedrückt, beschämt, nicht wissend, ob er nun ganz ehrlich oder auch unehrlich sei: „Dora, du bist der wunderbarste Mensch, den ich finden konnte, nach all dem Kummer!“ Dora verließ das Schlafzimmer, um Kaffee zu kochen. Sie lächelte und antwortete mit den rätselhaften Worten: „Magnus, unser Glück ist ja doch nur geliehen.“ Der Musiker wischte sich Tränen aus den Augen und erhob sich, gänzlich erfüllt von Gedanken an Imke, langsamer als gewöhnlich aus dem Bett. „Kehrst du jetzt zu mir zurück, Anna?“, fragte er halblaut, wie in Trance, und er erschrak über die eigene Frage. Er lauschte und lauerte ängstlich, ob man ihn gehört haben konnte.


Frühlingstraum ?(Lied Nr. 11)

Ich träumte von bunten Blumen,
so wie sie wohl blühen im Mai,
ich träumte von grünen Wiesen,
von lustigem Vogelgeschrei.

Und als die Hähne krähten,
da ward mein Auge wach;
da war es kalt und finster,
es schrien die Raben vom Dach.


Doch an den Fensterscheiben,
wer malte die Blätter da?
Ihr lacht wohl über den Träumer,
der Blumen im Winter sah?


Ich träumte von Lieb um Liebe,
von einer schönen Maid,
von Herzen und von Küssen,
von Wonne und Seligkeit.

Und als die Hähne krähten,
da ward mein Herze wach,
nun sitz ich hier alleine
und denke dem Traume nach.

Die Augen schließ ich wieder,
noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster,
wann halt ich mein Liebchen im Arm?


„Magnus, das Frühstück ist fertig!“, rief die unbeirrbar fröhliche Dora. „Du alter Narr!“, dachte Magnus nun schon zum dritten Mal, als er sich, einen müden, alten Mann, im Spiegel betrachtete. Wieder und wieder sah er die junge, blühende Imke vor sich, wie sie ihn eindringlich, sehnsüchtig ansah, mit Annas Augen, wie sie ihn anlächelte, mit Annas bezauberndem Lächeln. Wer war dieses außergewöhnliche Geschöpf? Sehnsucht, das unausrottbare, vehemente und vitale Gefühl über Klüfte und Zeitläufe hinweg, ja über den Tod hinaus, nahm auf eine Weise Besitz von ihm, wie er sie zuvor noch nie erlebt hatte, denn sie galt einer Toten wie einer Lebenden, und sie durchströmte ihn wellenartig, wie eine Frau die Wehen bei der Geburt eines Kindes.
Am Frühstückstisch reichte Dora ihrem Mann eine Zeitung. „Sieh“, sagte sie freundlich, „hier gibt es einen schönen Artikel über dein erstes Konzert mit der jungen, hochbegabten Harfenistin, Imke …, wie ist noch gleich ihr Name?“ Magnus zitterte sichtlich, als er den Artikel rasch überflog und das dazugehörige Bild der Musikerin an ihrem Instrument betrachtete. Lange blieb er seiner Frau die Antwort auf ihre harmlose, kleine Frage schuldig, dennoch sah sie ihn offen und geduldig an. Schließlich hörte er sich langsam, wie aus weiter Ferne, sagen: „Lindenthal, sie heißt Imke Lindenthal.“ Dora stellte die Kaffeetasse, die sie in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch, hielt einen Augenblick inne und unterzog die ausdrucksvolle Abbildung der jungen Imke nun ihrerseits einer eingehenden Betrachtung. Sie wurde nachdenklich. „Imke erinnert sehr an Anna, findest du nicht auch, Magnus?“, fragte Dora plötzlich. Der so Angesprochene blieb lange stumm, senkte den Blick, hob ihn wieder, und irgendwann äußerte er leise, dass er Dora liebe. „Ich weiß, Magnus.“ Dora strich sich durch ihr Haar, lächelte vielsagend und erhob sich von ihrem Stuhl. „Das Mädchen hat hinreißend gespielt“, setzte sie hinzu, als sie das Zimmer verließ.
„Anna ist zu mir zurückgekehrt und weiß es nicht einmal“, dachte Magnus wie betäubt. Dann erfassten ihn unbändiger Schmerz und unbändige Freude über das, was ihm und Imke geschehen war. Beide Empfindungen, in belebendem Wettstreit, trugen ihn durch den Tag, und er schämte sich nicht mehr.



2. Teil

IMKE

Der Schlussakkord des Konzertes für Flöte und Harfe KV 299 von Wolfgang Amadeus Mozart war soeben verklungen. Imke löste langsam die Hände von den Saiten ihrer Harfe und spürte noch die Vibrationen des verstummten Klanges in den gut durchbluteten Fingerspitzen. Aus den Augenwinkeln sah sie ihre niederländische Konzertpartnerin, Els van Dijk, behutsam die Lippen von ihrer Flöte lösen. Nach Sekunden des Innehaltens, welche das zum Glück verständige Publikum den Ausführenden gönnte, brauste im Saal der Applaus auf. Es folgten lobende Blicke und dankende Gesten des Dirigenten, das übliche Händeschütteln im Scheinwerferlicht der Bühne, nicht enden wollende Verbeugungen und immer wieder Bravorufe, dann wurde einer jeden Protagonistin, wie stets, ein prächtiger, duftender Blumenstrauß überreicht. Die fröhliche, blonde Els strahlte über das ganze Gesicht und genoss sichtlich den beachtlichen Erfolg. Beide Solistinnen hielten sich an den Händen und verneigten sich nach Aufforderung des Maestros ein letztes Mal. Auch die dunkelhaarige Imke lächelte und wusste, dass der Auftritt gelungen war, dennoch schien sie ganz und gar nicht bei der Sache und noch ernster, als es ohnehin mitunter ihrem Temperament entsprach. Tief melancholische Gefühle, die sie in ihrer Wucht unterschätzt hatte, wenngleich sie vorhersehbar hätten sein müssen, überkamen sie. Das kannte sie sonst so gar nicht nach dem Hochgefühl einer großen künstlerischen Leistung. In der Garderobe, die Els und Imke sich teilten, fragte die Flötistin die Kollegin, als sie deren nachdenkliches und erschöpft wirkendes Gesicht sah, stirnrunzelnd, ob sie mit dem Ergebnis des Abends unzufrieden wäre, was Imke sofort verneinte. „Unser aller Zusammenspiel war wunderbar. Verzeih, Els! Ich bin einfach ein wenig übermüdet nach den vielen Reisen der letzten Zeit.“ „Kommst du also nicht mehr mit zum Feiern?“, erkundigte sich die Blonde, sichtlich enttäuscht. „Heute werde ich mich lieber ausruhen, sei mir nicht böse, Els! Grüße bitte Berthold“ – das war der Dirigent – „und entschuldige mich bei ihm und den anderen. Machst du das?“ Imke schaute Els so schuldbewusst an, dass diese Frohnatur lachen musste und sich mit herzlicher Umarmung, und den Worten „Du kannst dich auf mich verlassen, Imke“, von der Kollegin verabschiedete. Dabei verströmte ihr reizender holländischer Akzent eine beneidenswerte, fast schmerzhafte Leichtigkeit. Genussvoll versenkte die Flötistin noch einmal die Nase in ihrem üppigen Blumenstrauß und verließ mit ihm, ihrem Kleiderkoffer und dem Instrument die Garderobe. Imke ließ sich todmüde und doch aufgewühlt in einen der um ein Tischchen gruppierten Garderobensessel fallen, froh, endlich allein zu sein. Sie wusste, dass nicht nur jahrelange Überarbeitung und der Raubbau, den sie an sich betrieben hatte, jetzt ihren Tribut forderten und verantwortlich waren für ihre kolossale Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, tief im Innersten wusste sie es seit langem.


Nun merk ich erst, wie müd ich bin,
da ich zur Ruh mich lege:
Das Wandern hielt mich munter hin
auf unwirtbarem Wege.

Die Füße frugen nicht nach Rast,
es war zu kalt zum Stehen;
der Rücken fühlte keine Last,
der Sturm half fort mich wehen.

In eines Köhlers engem Haus
hab Obdach ich gefunden;
doch meine Glieder ruhn nicht aus:
So brennen ihre Wunden.

Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm
so wild und so verwegen,
fühlst in der Still erst deinen Wurm
mit heißem Stich sich regen!


Franz Schuberts Lied „Rast“, das zehnte aus der „Winterreise“, das ihr unwillkürlich in den Sinn kam, passte so ganz zu ihrer Befindlichkeit, dann dachte sie an die Nummer 12 des Liederzyklus, „Einsamkeit“:


Wie eine trübe Wolke
durch heitre Lüfte geht,
wenn in der Tanne Wipfel
ein mattes Lüftchen weht:

So zieh ich meine Straße
dahin mit trägem Fuß,
durch helles, frohes Leben,
einsam und ohne Gruß.

Ach, dass die Luft so ruhig!
Ach, dass die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
war ich so elend nicht.


Imke sah den sehr kollegialen Dirigenten des Abends, Berthold, der gute Arbeit machte und auf den man sich stets verlassen konnte, vor sich. Warum hatte die Harfenistin es dieses Mal so schwer gehabt, sich zu konzentrieren, obwohl wie immer alles einwandfrei und reibungslos verlaufen war?
Imke wusste es längst, gab sich gedanklich noch einmal tief der soeben zelebrierten Musik hin, und mit einem Schlag stand ihre unbewältigte, traurige Vergangenheit, die sie durch unermüdliches Arbeiten von sich ferngehalten hatte, so gut sie eben konnte, wieder glasklar und messerscharf vor ihren Augen, nein, eigentlich vor ihren Ohren …

Es war fast auf den Tag genau sieben Jahre her, da hatte sie an ebendiesem Ort, aber in anderer Besetzung, schon einmal das Konzert für Flöte und Harfe gespielt. Sie war für eine erkrankte Kollegin eingesprungen und so in den Genuss von sechs Konzertabenden mit großartigen, sehr renommierten Musikern gekommen, die erstmalig an ihrer Seite musizierten. Nur das Eröffnungskonzert hatte in diesem ehrwürdigen Musiksaal stattgefunden, alle Folgeauftritte waren zu musikalischen Höhepunkten anderer großer Konzerthäuser des Landes geworden. Damals hatte Imke ein tiefes Gefühlserlebnis gehabt, das ihr Leben aus den Angeln gehoben hatte und sie mit allem, was darauf folgte, leicht gänzlich vernichtet hätte, wäre ihr nicht die Arbeit zu Hilfe gekommen, die Ablenkung und Abstand gewährleistete. Imke hatte dieses Erlebnis nie vergessen, wie hätte sie auch können, wohl aber verdrängen müssen, da es ihre innere und äußere Existenz bedrohte und ihr damals schwerwiegende Entscheidungen abverlangte; zudem wurde es zum Auftakt späterer tragischer Ereignisse.
Heute, vor weniger, als einer halben Stunde, war das Konzert in gehobener Routine vonstattengegangen, mit einem tadellosen Orchester und unter Leitung seines Chefdirigenten, Berthold Brehm, solide begabt und Imke schon einige Zeit künstlerisch verbunden, und nicht zuletzt mit der lebensfrohen, wunderbar unkomplizierten Els, die alles leicht nahm und Imke längst zur Freundin geworden war, trotz der Unterschiede im Temperament. Damals hatte es deutlich andere Akzente gegeben: Keine Routine! Ganz für sich die Musik nacherlebend, abseits der professionellen Pfade des hochkonzentrierten Leistenmüssens vor Publikum, erinnerte Imke sich nun sehr genau daran, was ihr vor all den Jahren widerfahren war:
Als der damalige Dirigent den Saal zur Probe betreten und ihn sogleich mit seiner charismatischen Persönlichkeit ganz ausgefüllt hatte, spätestens jedoch, als er den Taktstock hob und die ersten Töne erklangen, verblasste alles bisher Dagewesene vor ihr. Der Fremde agierte mit unbeirrbarem Ernst und Eifer, einem so hohen Maß an musikalischem Weitblick und Sensibilität, dass ihr förmlich der Atem stockte. Trotz seines unbeugsamen Führungswillens wirkte er äußerst bescheiden und freundlich. Er dirigierte mit Demut, nur dieser aus der Mode gekommene Begriff schien ihr passend zu sein, das auszudrücken, was sich vor ihren Augen und Ohren ereignete und sich unmittelbar auf das Spiel aller auswirkte. Dieser Mann entlockte der Musik ihre tiefsten und ursprünglichsten Geheimnisse, machte sie hör- und verstehbar. Bereits nach den ersten gespielten Takten ahnte Imke, dass sie sich vielleicht nie wieder einem Menschen seelisch so nah fühlen würde wie diesem Mann, der da vor ihr und den anderen Musikern stand und sie verzauberte. Nie zuvor hatte die hochbegabte, junge, doch durchaus bereits erfahrene und erfolgreiche Harfenistin das erschütternde Erlebnis gehabt, sich auf nahezu vollkommene Art und Weise als „Spiegel“ eines Menschen zu fühlen und sich von ihm „gespiegelt“ zu sehen. Der Fremde verschmolz mit ihr und allen Beteiligten zu einem musizierenden „Organismus“. Und genau hier lag das Geheimnis, der Unterschied zum Routinekonzert, mochte es handwerklich noch so makellos und perfekt daherkommen. Hier musizierte kein funktionierender Hochglanzapparat, sondern ein aus vielen eins gewordenes, beseeltes, menschliches Wesen.

5 Sterne
Fesselnd - 28.08.2019
SusannVF

Tiefgründig und feinsinnig. Hoffe auf viele Leser. Das Buch hat es verdient.

4 Sterne
Almut Philipp: "Winterreise" - 13.06.2019
Hedda Dirks

Da ich in der klassischen Musik überhaupt nicht zu Hause bin, habe ich mich mit einer gewissen Neugier, aber auch Skepsis auf das Buch eingelassen, da es mir empfohlen worden war.Glücklicherweise wurde ich durch die Geschichte von Imke und Magnus sowie die feine Sprache, in der sie erzählt wird, schnell gefangen genommen. Obwohl ich so eine Seelenverwandtschaft, wie die Protagonisten sie teilen selbst noch nie empfunden habe und mich auch mit dem Altersunterschied der beiden schwer tue, fühlte ich mich stark berührt ... wie es ja oft bei guter Literatur der Fall ist. Auch wenn Menschen oder Romanfiguren so ganz anders sind als man selbst, ergreift man beim Lesen automatisch für sie Partei. Deshalb bin ich auch sicher, dass Lesen einen zu einem weltoffeneren und toleranteren Menschen macht. Man lernt so viele unterschiedliche Charaktere kennen, dass man erkennt, wie vielfältig die Menschen und das Leben sind. Mit der Lyrik Wilhelm Müllers konnte ich nach dem Hinzuziehen von Sekundärliteratur einige Erkenntnisse gewinnen und empfand die Gedichte ein wenig nach.Aber mit der musikalischen Umsetzung durch Franz Schubert war ich als Laie überfordert. Dazu habe ich mir eine Vollversion von Fischer-Dieskau / Gerald Moore auf Youtube angehört. Doch muss ich gestehen, dass diese Art Musik mir überhaupt nichts sagt und sie keinerlei Wärme oder Gefallen in mir auslöst. Ich würde sie mir im Alltag niemals aus freien Stücken anhören. Das ist allerdings weder Schubert noch den Musikern anzulasten, sondern alleine mir. Es ist einfach nicht meine Welt.Dennoch: Auch für Leute, denen es hinsichtlich der Musik so geht wie mir, hat diese Erzählung einen Zauber, dem man sich nicht entziehen kann und sollte. Ich bin froh, dass ich über meinen Tellerrand geblickt und dieses ungewöhnliche Buch gelesen habe.

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