Wildenkogel

Wildenkogel

Annegret Waldner


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 440
ISBN: 978-3-99107-210-2
Erscheinungsdatum: 03.12.2020

Leseprobe:


Im ersten fahlen Dämmern des Morgenlichts erhebt sich die Frau langsam auf die Knie und rückt von dem am Boden liegenden Körper ab. Sie kann ihm keine Wärme mehr geben. Sie weiß nicht, wie viele Stunden, auch Tage und Nächte sie hier neben ihm gelegen ist, ihn wärmend, streichelnd, anfangs noch die Lieder summend, die sie früher gemeinsam gesungen haben. Von der Blauen Blume und den Zwei Sternen, die am hohen Himmel stehen, später auch die vertrauten Kinderwiegenlieder, bis die Kraft sie verlassen hat, sie vergeblich auf seine Atemzüge lauschte und sich nur noch von der Kälte mitziehen lassen wollte, dahin, wo er nun war. Zuerst – und es scheint ihr vor langer Zeit gewesen zu sein – war an den Berghängen ein dichter Nebel aufgezogen und es war ihr so vorgekommen, als ob sich das Wollgras zu einer ganz eigenen Melodie im Wind bewegte. Dabei war es totenstill gewesen, als sei kein Leben mehr auf der Erde. Der Wetterumsturz mit Schneetreiben und Steinschlag war dann so rasch gekommen, sie hatten sich in dem Steinernen Meer nicht mehr orientieren können. Alles um sie herum und auch sie selbst verloren sich in einem dichten Grau. Sie hatten den großen Rucksack mit der Ersatzwäsche, der Aluminiumflasche und dem geschnittenen Brot verloren. Den Mann hatte ein Stein am Kopf getroffen und sie hatte ihn in eine geschützte Spalte unter einen großen Felsüberhang gezogen, ihm ihre Kleidung übergelegt und gewartet. Dann hatte sie Steine vor den schmalen Spalt getürmt, um den Wind und den Schnee abzuhalten. Ihr Leben hatte sich zurückgezogen auf den geschützten Fleck abseits des grauschwarzen Unwetters, des Stöhnens des Windes und des Donnerns der herabfallenden Felsbrocken. Die Frau spürt nicht, dass die Windstöße nun weniger eisig sind und die Wolken weniger dunkel. Sie hört nicht, dass die Sturmwinde weniger wild heulen und toben. Sie weiß nichts von dem aufkommenden neuen Tag, dessen mattes Licht durch den schmalen Felsspalt dringt, hört nur ein fernes Singen und Summen. Sie umklammert die Brosche an ihrem Hals, wie um Halt in der untergehenden Welt zu suchen, beugt sich über den Mann und bedeckt ihn mit ihrem Leib, schmiegt ihren Kopf in seine Halsbeuge. Tränen laufen ihr über die Wangen, ein unendlicher Schlaf umhüllt sie und geleitet sie in ungeahnte Himmelsfernen.

Die junge Frau tritt aus der hellen Empfangshalle des Diakonissenmutterhauses heraus. Es ist ein eisiger kalter Tag kurz nach Jahresbeginn, ein früher dunkler Morgen. Tief atmet sie die kalte Luft ein und hebt fröstelnd die Schultern. In dieser Nacht, kurz vor Tagesanbruch, ist ihre Mutter verstorben. Annalena Weiss empfindet die frostige Kälte und die funkelnde Stille in der schneebedeckten Parkanlage wie eine Versicherung eines neuen, eines guten Lebens. Sie weiß, dass ihr kaum Zeit bleibt, hier stehen zu bleiben. Sie schaut nach oben, in den schneeverhangenen Himmel, und spürt, dass sie nun noch einmal Abschied nimmt, aber es ist ein anderer als dort im Haus in dem Zimmer mit dem Paravent vor dem Bett, der sanften Musik, dem Kerzenlicht. Es ist ein versöhnlicher Abschied, der es ihr ermöglicht, die letzte Bitte der Mutter aufzugreifen. Ich verspreche es, sagt Annalena mit fester Stimme gegen den Schneewind. Dann kehrt sie um und tut mit ruhiger Selbstverständlichkeit das, was von Angehörigen im Falle des Todes erwartet wird.
Annalena wurde 1975 in der kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt Marburg an der Lahn geboren. Einzige Tochter ihrer alleinstehenden Mutter, Lena Maria Weiss, wuchs sie bei ihr und ihrer seit Kriegsende verwitweten Großmutter auf. Ihren Vater hat Annalena nicht kennengelernt. Er war in ihrem Leben nie wichtig gewesen, war weder tot, noch wurde er vermisst, noch sehnlichst herbeigewünscht. Schon in ihrer Kindergartenzeit war es ihr aufgefallen, dass ihr Leben ohne Vater etwas Besonderes war. Andere Kinder hatten Väter oder doch solche, die gestorben waren oder weggegangen, aber sie konnte gar nichts von einem Vater, noch nicht einmal einen Namen, verlauten lassen. Im Grunde jedoch kam es ihr selbstverständlich vor, ohne Vater zu sein, auch ihre Mutter hatte keinen Vater gehabt und die Großmutter hatte kaum von ihren Eltern gesprochen, die früh verstorben waren. Von ihrem Großvater mütterlicherseits und seiner Schwester kam der Besitz des Hauses, aber erbaut worden war es bereits von den Urgroßeltern in den 1920er-Jahren, sehr einfach, aber auf lange Zeit angelegt. Die Großmutter und die Mutter hatten, soweit sie zurückdenken kann, ständig etwas daran erneuert oder erweitert, aber den Charakter des Hauses nur unwesentlich verändert. Betritt ein Besucher heute das Haus, meint er sich unweigerlich Jahrzehnte zurückversetzt, diese Empfindung hatten ihr Freunde und Bekannte wiederholt vermittelt.
Annalena vermag sich kaum an Gespräche erinnern, die sich um die Vergangenheit ihrer Mutter, der Großmutter oder um Familiengeschichten drehten. Die Großmutter, Anna Weiss, hatte viele Reime, Sagen und Märchen zu erzählen gewusst, hatte ihr Volkslieder und Wanderlieder vorgesungen, deren Texte und Melodien sie noch heute erinnert, aber von früherer Zeit hatte sie kaum etwas erzählt. Ihre Großmutter hatte den Beruf der Krankenschwester gelernt, im Krieg, wie sie zu bemerken pflegte, und zunächst in einem Behelfslazarett, später dann in der Universitätsklinik in der Stadt gearbeitet. Als Annalena klein war, hatte sich die Großmutter viel um sie gekümmert, da ihre Mutter im Lehrerberuf tätig war und sie sich ihren Dienst im Krankenhaus nach den Unterrichtsstunden der Mutter einrichten konnte. Von ihrem Großvater hatte es geheißen, er sei ein sehr begabter Goldschmied und Uhrmachermeister gewesen, mit einem eigenen Betrieb in der Stadt, den sie ja gut kannte, er sei im Krieg vermisst und ihre Hochzeit sei eine Kriegstrauung gewesen. Annalena hatte diese Worte lange wie ein Geheimnis mit sich getragen. War eine Kriegstrauung gültig und ging das denn zusammen: Krieg und Trauung. Was musste passieren, damit ein Mensch vermisst wurde. Aber darüber wurde bei ihr zu Hause nicht gesprochen und ihre Schulfreundinnen kannten diese Worte gar nicht. Als die Großmutter 1990 im Alter von 65 Jahren starb, hatte sie gerade das Pensionsalter erreicht. Ihr Tod kam rasch und ohne großes Aufsehen, so als hätte die Großmutter darauf oder auf etwas anderes, auf etwas für Annalena Unvorstellbares gewartet. Annalena war damals gerade in der fünften Klasse des Gymnasiums. Sie war dem Alter der Reime, der Kinderlieder und Märchen entwachsen, aber sie wusste, dass sie gerade das und die Freude der Großmutter an der Natur am meisten vermissen würde. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und das ihrer Großmutter und dem Großvater, von dem sie so wenig wusste, gehört hatte, bot weiträumigen Platz für die Mutter und sie selbst. Sie beendete das Gymnasium und lernte dann in dem Familienunternehmen, in dem bereits der Urgroßvater gelernt und gearbeitet hatte, das Uhrmacher- und Goldschmiedehandwerk. Nach Abschluss der Lehre und mit dem Erhalt des Gesellenbriefs blieb sie in dem angestammten Familienbetrieb in ihrer Heimatstadt. Dort ist sie hauptsächlich für Reparatur- und Restaurationsarbeiten zuständig, arbeitet aber auch im Verkauf.
Annalena geht durch die Kälte nach Hause. Sie hat die ersten Formalitäten abgeschlossen und etliche Gespräche führen, die Todesanzeige, die bereits die Mutter vorbereitet hatte, bei der städtischen Zeitung hinterlegen, den Bestatter aufsuchen und einen Termin für ein Gespräch mit dem Pfarrer ihrer Gemeinde vereinbaren müssen. Noch immer fällt der Schnee in dichten Flocken und es ist eine seltsame Stille, die sich auf der schmalen bergwärts führenden Straße ausgebreitet hat, als würde diese aus Achtung vor der Mutter für eine kleine Weile ihre Geschäftigkeit ruhen lassen. Ihre Straße heißt Im Gefälle, ein schön klingender Name für eine abfallende Straße, an deren Seiten kleine Vorgärten liegen, mit geduckten Siedlungshäusern und sich anschließenden Obst- und Gemüsegärten. Hier hat sich seit Jahrzehnten kaum etwas verändert, auch die Bewohner der Straße scheinen stets dieselben geblieben zu sein. Sie schaut vom Gartentor auf den unberührten Schnee auf dem Weg zu ihrem Haus, selbst die Vögel haben sich heute noch nicht zu ihrem Futterplatz vorgewagt. Annalena öffnet das Tor und spurt sich einen Weg durch das Weiß, das sie an das Leintuch erinnert, das die gebückte alte Schwester mit dem weißen Diakonissenhäubchen über ihre Mutter breitete, als es vorbei war, als der Paravent auf die Seite geschoben, das Fenster geöffnet wurde und sie beinahe gierig die Frische des kalten Morgens einsog. Die Diakonisse hatte die Mutter während der letzten Tage umsorgt und war in der letzten Nacht ohne Pause in der Nähe geblieben. Das hatte ihr gutgetan. Es fällt Annalena schwer, die Haustür aufzusperren im Wissen, dass es nun an ihr liegen würde, dieses Haus weiter mit Leben und Sinn zu füllen. Sie hat keine Angst vor der Einsamkeit, denn sie kommt in ein ihr vertrautes Zuhause. Das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hat, erfüllt sie indes mit einer nicht gekannten Unruhe. Auf den Steinstufen vor der Haustüre fällt ihr Blick auf ein kleines Päckchen von Handtellergröße, das sie verwundert aufhebt.
Wie konnte hier etwas abgelegt worden sein, wenn doch da gar niemand gegangen war, und wer konnte denn schon davon wissen.
Annalena schließt die Haustüre auf, klopft sich den Schnee von den Schultern und den Beinen, schüttelt die Haare und legt das kleine weiche Päckchen auf den Garderobenschrank. Sie zieht ihre Stiefel aus und geht durch den Hausgang in die warme Küche, deren Einrichtung schon seit Jahrzehnten nicht wesentlich verändert wurde. Ohne darauf zu hören, vermerkt sie das gleichmäßige beruhigende Ticken der Wanduhr in der kleinen Diele. Niemand hat seit ihrem Weggang vor zwei Tagen das Haus betreten, es gäbe auch niemanden, der ohne ihr Wissen und Einverständnis dazu befugt wäre. Annalena drückt auf den Lichtschalter, stellt die Kaffeemaschine an, holt die Milch aus dem Kühlschrank, eine Tasse aus der alten Küchenkredenz und schenkt sich Kaffee ein. Sie fühlt sich plötzlich müde und leer. Sie holt das Päckchen aus der Garderobe und setzt sich an den Küchentisch, entfaltet das graue zerknitterte Seidenpapier und hält einen kleinen Bund Alpenblumen in der Hand. Sie sind fast zu Staub getrocknet, aber ihre Farben haben eine auffallende Leuchtkraft und Frische. Ob der Schnee das bewirkt hatte. Annalena erkennt die Pflanzen Wollgras, Speik und Schusternagelen, Alpenblumen, die die Frauen in ihrer Familie kannten und zu benennen wussten, die sie während der Ferientage in den bayerischen Bergen pflückten und in einem Herbarium pressten. Sie wickelt die Blumen behutsam wieder ein und legt sie auf den Tisch. Hier haben sie einen guten Platz. Sie legt den Kopf auf die Arme und versinkt augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, aus dem sie kurz später benommen aufschreckt.
Ein Geräusch ist in ihr Bewusstsein gedrungen, das sie nicht zuordnen kann. Von draußen fällt nur ein diffuses Licht herein, es scheint, als ob das Haus im Schnee versinken will. Sie steht auf, geht in das Badezimmer im oberen Stockwerk, duscht und kleidet sich frisch an. Warme Hosen und Socken, ein gestrickter Pullover. Der Wind rüttelt ein wenig an den Fensterläden, aber von der Welt ist sonst nichts zu hören und zu sehen, als ob sie weit entrückt wäre. Sie geht wieder hinunter in die Diele und nimmt ihr Mobiltelefon. Ein Anruf in Abwesenheit, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war Cornelia, eine ihrer früheren Mitschülerinnen, die zur Freundin wurde und in den letzten Wochen zu einer hilfsbereiten Stütze. Annalena will noch nicht sprechen. Sie sendet Cornelia eine Mitteilung. Mutter ist gestorben. Muss zum Pfarrer. Lege den Hausschlüssel in das Vogelhaus.
Cornelia kennt ihr Zuhause und wird kommen, wenn es ihr möglich ist.
Annalena blickt sich in der Küche um. Sie wird einige Veränderungen treffen müssen, aber sie hat mit der Mutter alles abgesprochen. Nun wartet der Pfarrer. Das Pfarrgemeindehaus liegt nur wenige Straßen entfernt. Sie trinkt noch einen Schluck von dem erkalteten Kaffee, zieht Mantel, Stiefel und Mütze über und macht sich auf den Weg. Ein Nachbar grüßt sie über die Straße hinweg, sie nickt hinüber. Nur nicht reden müssen. Noch einmal blickt sie auf ihr Haus im Schnee, sieht, dass die Meisen und Spatzen nun den Weg zum Vogelhaus gefunden haben, als sie dort den Hausschlüssel ablegt. Das Vogelhaus hat bereits die Großmutter besessen, vielleicht ist es noch älter, vielleicht ist es so alt wie das Haus. Ein Siedlungshaus, vor bald acht Jahrzehnten von den Urgroßeltern erbaut. Die Urgroßeltern, von denen so wenig erzählt und gewusst wurde. Hier hat ihr Großvater Wolfgang gewohnt, später auch die Großmutter, nach der Kriegstrauung, mit einer Schwester des Großvaters, Marlene, auch von ihr ist sehr selten gesprochen worden. Ihre Mutter ist hier nach dem Krieg aufgewachsen und sie selbst auch. Etwas weiter oben an der Straße nahe am Waldrand liegt das große Diakoniezentrum, dem eine Pflegehochschule angegliedert ist. Die Frauen ihrer Familie waren im Diakoniewerk im freiwilligen Ehrenamt tätig. Es ist ein sogenanntes gutes Stadtviertel, das sie ihr Zuhause nennen darf, das ist ihr bewusst, aber auch, dass sie selbst gar nichts dazu beigetragen hat und dass sie das Hiersein stets als Glück empfinden konnte.
Annalena erreicht das kleine evangelische Gemeindezentrum. Der Weg zur Türe ist bereits vom Schnee frei geschaufelt worden. Sie läutet an dem Schild mit der Aufschrift Pfarrer und tritt den Schnee von den Stiefeln. Ein Mädchen im Schulkindalter öffnet die Türe und begrüßt sie fröhlich. Annalena kennt die Kinder der Pfarrersfamilie, war und ist hier oft zu Gast. Heute ist alles anders. Sie kann sich nicht auf diesen Besuch wie sonst freuen, hat keine Aufgaben für die Pfarrgemeinde vor sich und schreckt ein wenig vor dem Gespräch mit dem Pfarrer zurück, das wohl gehalten werden muss. Es wird kein Verhör sein, nicht dahin gehen ihre Befürchtungen. Aber ich weiß so wenig, sie haben mir so wenig erzählt und nun ist es zu spät. Auch über das Begräbnis hat sie mit der Mutter geredet und darüber hinaus hat sie der Mutter dieses Versprechen geben müssen, dessen Tragweite sie noch nicht erfassen kann. Das fröhliche Kind öffnet die Tür zum Arbeitszimmer des Vaters und lässt Annalena eintreten.
In dem ihr vertrauten großen Raum, stets ein wenig dunkel gehalten, mischen sich die privaten Lebensbereiche des Pfarrers mit seinen beruflichen und geschäftlichen Aufgaben. Der Pfarrer erhebt sich von seinem Schreibtisch, legt die Brille ab, breitet in einer Mischung von Willkommensgruß und Traurigkeit die Arme aus und bittet die junge Frau herein.
So ist es nun vorbei, sagt er und ruft dem Kind zu, es möge bitte zwei Tassen Tee mit Honig bringen und, nach einem kurzen Blick auf Annalena, ein Butterbrot.
Du wirst noch nichts zu dir genommen haben, meint er, aber du darfst jetzt nicht deine Kraft verlieren.
Der Pfarrer weist auf einen Sessel in der Sitzecke und setzt sich ebenfalls. Er hat die Mutter in den letzten Wochen oft besucht und sich Zeit für Gespräche mit ihr genommen.
Ich habe Lena Maria gut gekannt, wir haben eine gute Freundin verloren, meint er.
Als das Kind den Tee und das Brot gebracht hat, stellt er ihr einige Fragen zum Leben der Mutter. Annalena ist zunächst unsicher, aber als sie mit dem Erzählen beginnt, merkt sie, wie mit jedem Satz ihr Reden flüssiger wird.
Sie erinnert ihre Kinderjahre, ihr gemeinsames Leben mit der Mutter, deren Alltag als Lehrerin, ihre gemeinsamen Ferienzeiten, wie gut die Mutter das Haus in Ordnung gehalten und wie viel Freude ihr die Gartenarbeit bereitet hatte, ihre Freundlichkeit, ihren Langmut und ihre heitere Gelassenheit auch in Zeiten voll Sorgen und Nöten. Der Pfarrer nickt, Annalena erzählt ihm nichts, was er nicht schon gewusst hat. Aber da gab es auch versteckte Seiten in ihrem Leben, sagt die junge Frau leise. Ihre Zurückgezogenheit, diese Abkehr von Äußerlichkeiten, vom bunten Treiben, von jedem modischen Geschehen. Ich glaube, diese Haltung hatten ihr die Großmutter und die Großtante schon vorgelebt, vielleicht war es auch der Krieg, meint sie.
Der Krieg, erkundigt sich der Pfarrer behutsam.
Ja, der Vater der Mutter ist vermisst gewesen und sie selbst ist in den letzten Kriegstagen 1945 geboren worden, ihr Vater hat nie Nachricht erhalten, dass er eine Tochter bekommen hat und die Großmutter musste das Kind wohl ganz allein mithilfe der Tante, der Schwester des Vaters, aufziehen.
Diese Frauen haben viel durchstehen müssen, pflichtet der Pfarrer bei, aber deine Mutter hatte immer ein Zuhause, konnte sich immer geborgen fühlen, hatte eine große innere Kraft, auch als sie dich zur Welt brachte und – wie die Dinge sich oft wiederholen – allein aufziehen wollte und das dann auch getan hat.
Annalena nimmt das Butterbrot und einige Schluck Tee.
Kanntest du die Schwester meines Großvaters, die Tante Marlene.
Der Pfarrer schaut sie nachdenklich an. Ich kann mich an sie erinnern, da war ich noch ein kleiner Junge, mein Vater hatte doch hier die Pfarrstelle und die Tante kam immer gemeinsam mit der Großmutter zum Gottesdienst und zu Veranstaltungen, sie waren beide mit der Pfarrgemeinde sehr verbunden, auf eine lebendige, treue Art. Das ist heute leider selten geworden. Sie ist dann verunglückt, aber sie wurde nicht hier bestattet.
Annalena schluckt. Sie möchte das Gespräch beenden. Der Pfarrer merkt ihre Unruhe und bricht seine Erzählung ab.
Es war deiner Mutter eine große Last, dich alleine zu lassen, und sie hat mehr als einmal davon geredet, dass du ihr etwas versprechen musst, dass sie etwas nicht zu Ende bringen konnte.
Er kommt noch auf den Ablauf der Bestattung zu reden und bietet Annalena seine und die Hilfe seiner Familie an. Du kannst mich jederzeit erreichen, sagt er, steht auf und geleitet die junge Frau hinaus. An der Haustür wendet er sich ihr nochmals zu, lächelt und meint, heitere Gelassenheit und die Tugend der Standhaftigkeit, das seien wohl gute menschliche Eigenschaften.

Auf dem Rückweg breitet sich eine große Erleichterung in Annalena aus. Gleichzeitig spürt sie, wie eine große Traurigkeit sie überkommt, eine Fassungslosigkeit, die ihr beinahe die Beine wegziehen will. Es ist gut, dass ihr Heimweg kurz ist. Sie möchte schlafen und weiß doch, dass dazu heute keine Zeit sein wird. Der Schneefall ist sanfter geworden, aber das Tageslicht geht bereits am frühen Nachmittag in ein dunkles Grau über, das in Kürze alles umhüllen wird. Vom Gartentor zum Haus führen Spuren, das Licht über der Haustür leuchtet auf, als sie sich den Steinstufen nähert. Noch bevor sie ihren Schlüssel aus der Tasche ziehen kann, öffnet sich die Tür. Cornelia steht im Eingang.
Hallo, sagt sie, ich dachte, ich komme gleich vorbei.
Im Hausgang schlägt die Uhr viermal, ihr schließt sich die Standuhr im Wohnzimmer an, mit einem tiefen dunklen Schlag, der im Haus widerhallt. Cornelia nimmt den Mantel von Annalena und geht mit ihr in die Küche. Sie hat Tee gekocht und Kekse auf einem Teller gerichtet.
Magst du, fragt sie leise, du musst etwas trinken, Annalena.
Annalena setzt sich auf die Küchenbank und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Ich war beim Pfarrer, jetzt muss ich die Anzeigen vorbereiten, sie sollten spätestens morgen zur Post. Morgen muss ich noch einmal zu den Diakonissen, dann zum Bestatter und mit dem Kirchenchorleiter muss ich noch wegen der Lieder sprechen, das Begräbnis ist am Montag, das ist in vier Tagen, ich habe nicht viel Zeit.


Im ersten fahlen Dämmern des Morgenlichts erhebt sich die Frau langsam auf die Knie und rückt von dem am Boden liegenden Körper ab. Sie kann ihm keine Wärme mehr geben. Sie weiß nicht, wie viele Stunden, auch Tage und Nächte sie hier neben ihm gelegen ist, ihn wärmend, streichelnd, anfangs noch die Lieder summend, die sie früher gemeinsam gesungen haben. Von der Blauen Blume und den Zwei Sternen, die am hohen Himmel stehen, später auch die vertrauten Kinderwiegenlieder, bis die Kraft sie verlassen hat, sie vergeblich auf seine Atemzüge lauschte und sich nur noch von der Kälte mitziehen lassen wollte, dahin, wo er nun war. Zuerst – und es scheint ihr vor langer Zeit gewesen zu sein – war an den Berghängen ein dichter Nebel aufgezogen und es war ihr so vorgekommen, als ob sich das Wollgras zu einer ganz eigenen Melodie im Wind bewegte. Dabei war es totenstill gewesen, als sei kein Leben mehr auf der Erde. Der Wetterumsturz mit Schneetreiben und Steinschlag war dann so rasch gekommen, sie hatten sich in dem Steinernen Meer nicht mehr orientieren können. Alles um sie herum und auch sie selbst verloren sich in einem dichten Grau. Sie hatten den großen Rucksack mit der Ersatzwäsche, der Aluminiumflasche und dem geschnittenen Brot verloren. Den Mann hatte ein Stein am Kopf getroffen und sie hatte ihn in eine geschützte Spalte unter einen großen Felsüberhang gezogen, ihm ihre Kleidung übergelegt und gewartet. Dann hatte sie Steine vor den schmalen Spalt getürmt, um den Wind und den Schnee abzuhalten. Ihr Leben hatte sich zurückgezogen auf den geschützten Fleck abseits des grauschwarzen Unwetters, des Stöhnens des Windes und des Donnerns der herabfallenden Felsbrocken. Die Frau spürt nicht, dass die Windstöße nun weniger eisig sind und die Wolken weniger dunkel. Sie hört nicht, dass die Sturmwinde weniger wild heulen und toben. Sie weiß nichts von dem aufkommenden neuen Tag, dessen mattes Licht durch den schmalen Felsspalt dringt, hört nur ein fernes Singen und Summen. Sie umklammert die Brosche an ihrem Hals, wie um Halt in der untergehenden Welt zu suchen, beugt sich über den Mann und bedeckt ihn mit ihrem Leib, schmiegt ihren Kopf in seine Halsbeuge. Tränen laufen ihr über die Wangen, ein unendlicher Schlaf umhüllt sie und geleitet sie in ungeahnte Himmelsfernen.

Die junge Frau tritt aus der hellen Empfangshalle des Diakonissenmutterhauses heraus. Es ist ein eisiger kalter Tag kurz nach Jahresbeginn, ein früher dunkler Morgen. Tief atmet sie die kalte Luft ein und hebt fröstelnd die Schultern. In dieser Nacht, kurz vor Tagesanbruch, ist ihre Mutter verstorben. Annalena Weiss empfindet die frostige Kälte und die funkelnde Stille in der schneebedeckten Parkanlage wie eine Versicherung eines neuen, eines guten Lebens. Sie weiß, dass ihr kaum Zeit bleibt, hier stehen zu bleiben. Sie schaut nach oben, in den schneeverhangenen Himmel, und spürt, dass sie nun noch einmal Abschied nimmt, aber es ist ein anderer als dort im Haus in dem Zimmer mit dem Paravent vor dem Bett, der sanften Musik, dem Kerzenlicht. Es ist ein versöhnlicher Abschied, der es ihr ermöglicht, die letzte Bitte der Mutter aufzugreifen. Ich verspreche es, sagt Annalena mit fester Stimme gegen den Schneewind. Dann kehrt sie um und tut mit ruhiger Selbstverständlichkeit das, was von Angehörigen im Falle des Todes erwartet wird.
Annalena wurde 1975 in der kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt Marburg an der Lahn geboren. Einzige Tochter ihrer alleinstehenden Mutter, Lena Maria Weiss, wuchs sie bei ihr und ihrer seit Kriegsende verwitweten Großmutter auf. Ihren Vater hat Annalena nicht kennengelernt. Er war in ihrem Leben nie wichtig gewesen, war weder tot, noch wurde er vermisst, noch sehnlichst herbeigewünscht. Schon in ihrer Kindergartenzeit war es ihr aufgefallen, dass ihr Leben ohne Vater etwas Besonderes war. Andere Kinder hatten Väter oder doch solche, die gestorben waren oder weggegangen, aber sie konnte gar nichts von einem Vater, noch nicht einmal einen Namen, verlauten lassen. Im Grunde jedoch kam es ihr selbstverständlich vor, ohne Vater zu sein, auch ihre Mutter hatte keinen Vater gehabt und die Großmutter hatte kaum von ihren Eltern gesprochen, die früh verstorben waren. Von ihrem Großvater mütterlicherseits und seiner Schwester kam der Besitz des Hauses, aber erbaut worden war es bereits von den Urgroßeltern in den 1920er-Jahren, sehr einfach, aber auf lange Zeit angelegt. Die Großmutter und die Mutter hatten, soweit sie zurückdenken kann, ständig etwas daran erneuert oder erweitert, aber den Charakter des Hauses nur unwesentlich verändert. Betritt ein Besucher heute das Haus, meint er sich unweigerlich Jahrzehnte zurückversetzt, diese Empfindung hatten ihr Freunde und Bekannte wiederholt vermittelt.
Annalena vermag sich kaum an Gespräche erinnern, die sich um die Vergangenheit ihrer Mutter, der Großmutter oder um Familiengeschichten drehten. Die Großmutter, Anna Weiss, hatte viele Reime, Sagen und Märchen zu erzählen gewusst, hatte ihr Volkslieder und Wanderlieder vorgesungen, deren Texte und Melodien sie noch heute erinnert, aber von früherer Zeit hatte sie kaum etwas erzählt. Ihre Großmutter hatte den Beruf der Krankenschwester gelernt, im Krieg, wie sie zu bemerken pflegte, und zunächst in einem Behelfslazarett, später dann in der Universitätsklinik in der Stadt gearbeitet. Als Annalena klein war, hatte sich die Großmutter viel um sie gekümmert, da ihre Mutter im Lehrerberuf tätig war und sie sich ihren Dienst im Krankenhaus nach den Unterrichtsstunden der Mutter einrichten konnte. Von ihrem Großvater hatte es geheißen, er sei ein sehr begabter Goldschmied und Uhrmachermeister gewesen, mit einem eigenen Betrieb in der Stadt, den sie ja gut kannte, er sei im Krieg vermisst und ihre Hochzeit sei eine Kriegstrauung gewesen. Annalena hatte diese Worte lange wie ein Geheimnis mit sich getragen. War eine Kriegstrauung gültig und ging das denn zusammen: Krieg und Trauung. Was musste passieren, damit ein Mensch vermisst wurde. Aber darüber wurde bei ihr zu Hause nicht gesprochen und ihre Schulfreundinnen kannten diese Worte gar nicht. Als die Großmutter 1990 im Alter von 65 Jahren starb, hatte sie gerade das Pensionsalter erreicht. Ihr Tod kam rasch und ohne großes Aufsehen, so als hätte die Großmutter darauf oder auf etwas anderes, auf etwas für Annalena Unvorstellbares gewartet. Annalena war damals gerade in der fünften Klasse des Gymnasiums. Sie war dem Alter der Reime, der Kinderlieder und Märchen entwachsen, aber sie wusste, dass sie gerade das und die Freude der Großmutter an der Natur am meisten vermissen würde. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und das ihrer Großmutter und dem Großvater, von dem sie so wenig wusste, gehört hatte, bot weiträumigen Platz für die Mutter und sie selbst. Sie beendete das Gymnasium und lernte dann in dem Familienunternehmen, in dem bereits der Urgroßvater gelernt und gearbeitet hatte, das Uhrmacher- und Goldschmiedehandwerk. Nach Abschluss der Lehre und mit dem Erhalt des Gesellenbriefs blieb sie in dem angestammten Familienbetrieb in ihrer Heimatstadt. Dort ist sie hauptsächlich für Reparatur- und Restaurationsarbeiten zuständig, arbeitet aber auch im Verkauf.
Annalena geht durch die Kälte nach Hause. Sie hat die ersten Formalitäten abgeschlossen und etliche Gespräche führen, die Todesanzeige, die bereits die Mutter vorbereitet hatte, bei der städtischen Zeitung hinterlegen, den Bestatter aufsuchen und einen Termin für ein Gespräch mit dem Pfarrer ihrer Gemeinde vereinbaren müssen. Noch immer fällt der Schnee in dichten Flocken und es ist eine seltsame Stille, die sich auf der schmalen bergwärts führenden Straße ausgebreitet hat, als würde diese aus Achtung vor der Mutter für eine kleine Weile ihre Geschäftigkeit ruhen lassen. Ihre Straße heißt Im Gefälle, ein schön klingender Name für eine abfallende Straße, an deren Seiten kleine Vorgärten liegen, mit geduckten Siedlungshäusern und sich anschließenden Obst- und Gemüsegärten. Hier hat sich seit Jahrzehnten kaum etwas verändert, auch die Bewohner der Straße scheinen stets dieselben geblieben zu sein. Sie schaut vom Gartentor auf den unberührten Schnee auf dem Weg zu ihrem Haus, selbst die Vögel haben sich heute noch nicht zu ihrem Futterplatz vorgewagt. Annalena öffnet das Tor und spurt sich einen Weg durch das Weiß, das sie an das Leintuch erinnert, das die gebückte alte Schwester mit dem weißen Diakonissenhäubchen über ihre Mutter breitete, als es vorbei war, als der Paravent auf die Seite geschoben, das Fenster geöffnet wurde und sie beinahe gierig die Frische des kalten Morgens einsog. Die Diakonisse hatte die Mutter während der letzten Tage umsorgt und war in der letzten Nacht ohne Pause in der Nähe geblieben. Das hatte ihr gutgetan. Es fällt Annalena schwer, die Haustür aufzusperren im Wissen, dass es nun an ihr liegen würde, dieses Haus weiter mit Leben und Sinn zu füllen. Sie hat keine Angst vor der Einsamkeit, denn sie kommt in ein ihr vertrautes Zuhause. Das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hat, erfüllt sie indes mit einer nicht gekannten Unruhe. Auf den Steinstufen vor der Haustüre fällt ihr Blick auf ein kleines Päckchen von Handtellergröße, das sie verwundert aufhebt.
Wie konnte hier etwas abgelegt worden sein, wenn doch da gar niemand gegangen war, und wer konnte denn schon davon wissen.
Annalena schließt die Haustüre auf, klopft sich den Schnee von den Schultern und den Beinen, schüttelt die Haare und legt das kleine weiche Päckchen auf den Garderobenschrank. Sie zieht ihre Stiefel aus und geht durch den Hausgang in die warme Küche, deren Einrichtung schon seit Jahrzehnten nicht wesentlich verändert wurde. Ohne darauf zu hören, vermerkt sie das gleichmäßige beruhigende Ticken der Wanduhr in der kleinen Diele. Niemand hat seit ihrem Weggang vor zwei Tagen das Haus betreten, es gäbe auch niemanden, der ohne ihr Wissen und Einverständnis dazu befugt wäre. Annalena drückt auf den Lichtschalter, stellt die Kaffeemaschine an, holt die Milch aus dem Kühlschrank, eine Tasse aus der alten Küchenkredenz und schenkt sich Kaffee ein. Sie fühlt sich plötzlich müde und leer. Sie holt das Päckchen aus der Garderobe und setzt sich an den Küchentisch, entfaltet das graue zerknitterte Seidenpapier und hält einen kleinen Bund Alpenblumen in der Hand. Sie sind fast zu Staub getrocknet, aber ihre Farben haben eine auffallende Leuchtkraft und Frische. Ob der Schnee das bewirkt hatte. Annalena erkennt die Pflanzen Wollgras, Speik und Schusternagelen, Alpenblumen, die die Frauen in ihrer Familie kannten und zu benennen wussten, die sie während der Ferientage in den bayerischen Bergen pflückten und in einem Herbarium pressten. Sie wickelt die Blumen behutsam wieder ein und legt sie auf den Tisch. Hier haben sie einen guten Platz. Sie legt den Kopf auf die Arme und versinkt augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, aus dem sie kurz später benommen aufschreckt.
Ein Geräusch ist in ihr Bewusstsein gedrungen, das sie nicht zuordnen kann. Von draußen fällt nur ein diffuses Licht herein, es scheint, als ob das Haus im Schnee versinken will. Sie steht auf, geht in das Badezimmer im oberen Stockwerk, duscht und kleidet sich frisch an. Warme Hosen und Socken, ein gestrickter Pullover. Der Wind rüttelt ein wenig an den Fensterläden, aber von der Welt ist sonst nichts zu hören und zu sehen, als ob sie weit entrückt wäre. Sie geht wieder hinunter in die Diele und nimmt ihr Mobiltelefon. Ein Anruf in Abwesenheit, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war Cornelia, eine ihrer früheren Mitschülerinnen, die zur Freundin wurde und in den letzten Wochen zu einer hilfsbereiten Stütze. Annalena will noch nicht sprechen. Sie sendet Cornelia eine Mitteilung. Mutter ist gestorben. Muss zum Pfarrer. Lege den Hausschlüssel in das Vogelhaus.
Cornelia kennt ihr Zuhause und wird kommen, wenn es ihr möglich ist.
Annalena blickt sich in der Küche um. Sie wird einige Veränderungen treffen müssen, aber sie hat mit der Mutter alles abgesprochen. Nun wartet der Pfarrer. Das Pfarrgemeindehaus liegt nur wenige Straßen entfernt. Sie trinkt noch einen Schluck von dem erkalteten Kaffee, zieht Mantel, Stiefel und Mütze über und macht sich auf den Weg. Ein Nachbar grüßt sie über die Straße hinweg, sie nickt hinüber. Nur nicht reden müssen. Noch einmal blickt sie auf ihr Haus im Schnee, sieht, dass die Meisen und Spatzen nun den Weg zum Vogelhaus gefunden haben, als sie dort den Hausschlüssel ablegt. Das Vogelhaus hat bereits die Großmutter besessen, vielleicht ist es noch älter, vielleicht ist es so alt wie das Haus. Ein Siedlungshaus, vor bald acht Jahrzehnten von den Urgroßeltern erbaut. Die Urgroßeltern, von denen so wenig erzählt und gewusst wurde. Hier hat ihr Großvater Wolfgang gewohnt, später auch die Großmutter, nach der Kriegstrauung, mit einer Schwester des Großvaters, Marlene, auch von ihr ist sehr selten gesprochen worden. Ihre Mutter ist hier nach dem Krieg aufgewachsen und sie selbst auch. Etwas weiter oben an der Straße nahe am Waldrand liegt das große Diakoniezentrum, dem eine Pflegehochschule angegliedert ist. Die Frauen ihrer Familie waren im Diakoniewerk im freiwilligen Ehrenamt tätig. Es ist ein sogenanntes gutes Stadtviertel, das sie ihr Zuhause nennen darf, das ist ihr bewusst, aber auch, dass sie selbst gar nichts dazu beigetragen hat und dass sie das Hiersein stets als Glück empfinden konnte.
Annalena erreicht das kleine evangelische Gemeindezentrum. Der Weg zur Türe ist bereits vom Schnee frei geschaufelt worden. Sie läutet an dem Schild mit der Aufschrift Pfarrer und tritt den Schnee von den Stiefeln. Ein Mädchen im Schulkindalter öffnet die Türe und begrüßt sie fröhlich. Annalena kennt die Kinder der Pfarrersfamilie, war und ist hier oft zu Gast. Heute ist alles anders. Sie kann sich nicht auf diesen Besuch wie sonst freuen, hat keine Aufgaben für die Pfarrgemeinde vor sich und schreckt ein wenig vor dem Gespräch mit dem Pfarrer zurück, das wohl gehalten werden muss. Es wird kein Verhör sein, nicht dahin gehen ihre Befürchtungen. Aber ich weiß so wenig, sie haben mir so wenig erzählt und nun ist es zu spät. Auch über das Begräbnis hat sie mit der Mutter geredet und darüber hinaus hat sie der Mutter dieses Versprechen geben müssen, dessen Tragweite sie noch nicht erfassen kann. Das fröhliche Kind öffnet die Tür zum Arbeitszimmer des Vaters und lässt Annalena eintreten.
In dem ihr vertrauten großen Raum, stets ein wenig dunkel gehalten, mischen sich die privaten Lebensbereiche des Pfarrers mit seinen beruflichen und geschäftlichen Aufgaben. Der Pfarrer erhebt sich von seinem Schreibtisch, legt die Brille ab, breitet in einer Mischung von Willkommensgruß und Traurigkeit die Arme aus und bittet die junge Frau herein.
So ist es nun vorbei, sagt er und ruft dem Kind zu, es möge bitte zwei Tassen Tee mit Honig bringen und, nach einem kurzen Blick auf Annalena, ein Butterbrot.
Du wirst noch nichts zu dir genommen haben, meint er, aber du darfst jetzt nicht deine Kraft verlieren.
Der Pfarrer weist auf einen Sessel in der Sitzecke und setzt sich ebenfalls. Er hat die Mutter in den letzten Wochen oft besucht und sich Zeit für Gespräche mit ihr genommen.
Ich habe Lena Maria gut gekannt, wir haben eine gute Freundin verloren, meint er.
Als das Kind den Tee und das Brot gebracht hat, stellt er ihr einige Fragen zum Leben der Mutter. Annalena ist zunächst unsicher, aber als sie mit dem Erzählen beginnt, merkt sie, wie mit jedem Satz ihr Reden flüssiger wird.
Sie erinnert ihre Kinderjahre, ihr gemeinsames Leben mit der Mutter, deren Alltag als Lehrerin, ihre gemeinsamen Ferienzeiten, wie gut die Mutter das Haus in Ordnung gehalten und wie viel Freude ihr die Gartenarbeit bereitet hatte, ihre Freundlichkeit, ihren Langmut und ihre heitere Gelassenheit auch in Zeiten voll Sorgen und Nöten. Der Pfarrer nickt, Annalena erzählt ihm nichts, was er nicht schon gewusst hat. Aber da gab es auch versteckte Seiten in ihrem Leben, sagt die junge Frau leise. Ihre Zurückgezogenheit, diese Abkehr von Äußerlichkeiten, vom bunten Treiben, von jedem modischen Geschehen. Ich glaube, diese Haltung hatten ihr die Großmutter und die Großtante schon vorgelebt, vielleicht war es auch der Krieg, meint sie.
Der Krieg, erkundigt sich der Pfarrer behutsam.
Ja, der Vater der Mutter ist vermisst gewesen und sie selbst ist in den letzten Kriegstagen 1945 geboren worden, ihr Vater hat nie Nachricht erhalten, dass er eine Tochter bekommen hat und die Großmutter musste das Kind wohl ganz allein mithilfe der Tante, der Schwester des Vaters, aufziehen.
Diese Frauen haben viel durchstehen müssen, pflichtet der Pfarrer bei, aber deine Mutter hatte immer ein Zuhause, konnte sich immer geborgen fühlen, hatte eine große innere Kraft, auch als sie dich zur Welt brachte und – wie die Dinge sich oft wiederholen – allein aufziehen wollte und das dann auch getan hat.
Annalena nimmt das Butterbrot und einige Schluck Tee.
Kanntest du die Schwester meines Großvaters, die Tante Marlene.
Der Pfarrer schaut sie nachdenklich an. Ich kann mich an sie erinnern, da war ich noch ein kleiner Junge, mein Vater hatte doch hier die Pfarrstelle und die Tante kam immer gemeinsam mit der Großmutter zum Gottesdienst und zu Veranstaltungen, sie waren beide mit der Pfarrgemeinde sehr verbunden, auf eine lebendige, treue Art. Das ist heute leider selten geworden. Sie ist dann verunglückt, aber sie wurde nicht hier bestattet.
Annalena schluckt. Sie möchte das Gespräch beenden. Der Pfarrer merkt ihre Unruhe und bricht seine Erzählung ab.
Es war deiner Mutter eine große Last, dich alleine zu lassen, und sie hat mehr als einmal davon geredet, dass du ihr etwas versprechen musst, dass sie etwas nicht zu Ende bringen konnte.
Er kommt noch auf den Ablauf der Bestattung zu reden und bietet Annalena seine und die Hilfe seiner Familie an. Du kannst mich jederzeit erreichen, sagt er, steht auf und geleitet die junge Frau hinaus. An der Haustür wendet er sich ihr nochmals zu, lächelt und meint, heitere Gelassenheit und die Tugend der Standhaftigkeit, das seien wohl gute menschliche Eigenschaften.

Auf dem Rückweg breitet sich eine große Erleichterung in Annalena aus. Gleichzeitig spürt sie, wie eine große Traurigkeit sie überkommt, eine Fassungslosigkeit, die ihr beinahe die Beine wegziehen will. Es ist gut, dass ihr Heimweg kurz ist. Sie möchte schlafen und weiß doch, dass dazu heute keine Zeit sein wird. Der Schneefall ist sanfter geworden, aber das Tageslicht geht bereits am frühen Nachmittag in ein dunkles Grau über, das in Kürze alles umhüllen wird. Vom Gartentor zum Haus führen Spuren, das Licht über der Haustür leuchtet auf, als sie sich den Steinstufen nähert. Noch bevor sie ihren Schlüssel aus der Tasche ziehen kann, öffnet sich die Tür. Cornelia steht im Eingang.
Hallo, sagt sie, ich dachte, ich komme gleich vorbei.
Im Hausgang schlägt die Uhr viermal, ihr schließt sich die Standuhr im Wohnzimmer an, mit einem tiefen dunklen Schlag, der im Haus widerhallt. Cornelia nimmt den Mantel von Annalena und geht mit ihr in die Küche. Sie hat Tee gekocht und Kekse auf einem Teller gerichtet.
Magst du, fragt sie leise, du musst etwas trinken, Annalena.
Annalena setzt sich auf die Küchenbank und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Ich war beim Pfarrer, jetzt muss ich die Anzeigen vorbereiten, sie sollten spätestens morgen zur Post. Morgen muss ich noch einmal zu den Diakonissen, dann zum Bestatter und mit dem Kirchenchorleiter muss ich noch wegen der Lieder sprechen, das Begräbnis ist am Montag, das ist in vier Tagen, ich habe nicht viel Zeit.

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Lia Becker

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