Wer morgens nüchtern dreimal schmunzelt …

Wer morgens nüchtern dreimal schmunzelt …

Karin Krebs


EUR 22,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 462
ISBN: 978-3-99146-459-4
Erscheinungsdatum: 27.11.2023
Drei Epochen, ein Leben voller Höhen und Schicksalsschläge: Christel überlebt den Zweiten Weltkrieg und flüchtet mit ihrer Tochter aus Ostdeutschland vor ihrem größten Feind – ihrem eigenen Mann –, um im Westen ein neues Leben zu beginnen.
TEIL I - Wer morgens nüchtern dreimal schmunzelt …


JANUAR 1942 – OKTOBER 1942


Dienstag, 27. Januar 1942 – Breslau

Christel kuschelte sich noch einmal tief in ihr Federbett ein. Sie drehte sich auf den Rücken und zog die Zudecke bis zur Nasenspitze. Sie genoss die Wärme und Gemütlichkeit. Normalerweise war sie eine Frühaufsteherin, aber heute fiel es ihr schwer, aus dem Bett zu kommen, als der Wecker klingelte. Draußen war es trüb und kalt – passend zur Stimmung, die sie wie immer an ihrer Arbeitsstelle erwarten würde. Donna Tschöppe, ihre Chefin, war sehr streng und mit nichts zufrieden. Dauernd mäkelte sie an ihren Angestellten herum. Diese kleine, rundliche Italienerin war streitsüchtig und neidisch. Christel war ihr ein besonderer Dorn im Auge. Von morgens bis abends musste sie putzen und den Kolleginnen den Dreck hinterherräumen. Haare zusammenkehren, Spiegel putzen, Kämme säubern. Kein sehr großer Ansporn für den Start in den Tag.
Seufzend schlug sie die Bettdecke zurück. Es half alles nichts, sie musste aufstehen. Es würde nur Ärger geben, wenn sie zu spät kam. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und zog sich ihren Morgenmantel über. Ein Blick zu dem Bett am anderen Ende des Zimmers verriet ihr, dass ihr kleiner Bruder Günter, mit dem sie sich ein Zimmer teilte, noch tief und fest schlief. Er war acht Jahre jünger als Christel und sie liebte den Jungen abgöttisch. Lächelnd trat sie an sein Bett und streichelte mit dem Zeigefinger sachte über seine Wange. „Aufwachen, du kleiner Racker“, flüsterte sie zärtlich, „die Nacht ist vorbei, du musst zur Schule. Komm, aufstehen!“ Langsam öffnete er ein Auge und blinzelte sie an. „Ist heute nicht Sonntag?“, fragte er schlaftrunken.
„Nein, mein Schatz, wir haben nur einen Sonntag pro Woche – und der war vorgestern“, antwortete sie lachend. „Nun komm schon, beweg deinen Hintern.“ Sie küsste ihn flüchtig auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Als sie in die Küche kam, stand ihre Mutter am Herd und goss Milch aus einer Kasserolle in eine große Tasse. Christel ging zu ihr, schlang von hinten einen Arm um die Taille ihrer Mutter und drückte ihr einen Kuss auf den Nacken. „Guten Morgen, liebes Muttilein“, grüßte sie fröhlich. Die mollige Frau quietschte auf. „Lass das, Christel, du weißt genau, dass ich das nicht leiden kann. Ich bekomme Gänsehaut davon.“ Ihr Ton war eher liebevoll als streng. „Setz dich, der Kakao ist schön heiß.“
„Oh, es gibt Kakao? Mit Milch?“, freute sich Christel. Lebensmittel waren streng rationiert und nur mit Karten zu haben. Es kam daher sehr selten vor, dass es Kakao mit Milch gab. Das grenzte schon an ein Festessen. Na ja, zumindest an ein Festfrühstück.
„Draußen ist es eisig kalt. Der heiße Kakao wird dir guttun und gibt dir Kraft für den Tag“, erklärte ihre Mutter. Sie drückte Christel die Tasse in die Hand. Christel setzte sich an den Tisch und schaute verträumt aus dem Fenster. Sie wohnten im zweiten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses in Breslau. Normalerweise konnte sie von dem Platz aus, auf dem sie saß, das Nachbarhaus und den Baumwipfel einer Buche sehen. Doch jetzt war es stockdunkel draußen. Alles, was sie sehen konnte, war ihr eigenes Spiegelbild. In der Küche war es mollig warm, obwohl auch die Kohle rationiert war. Am liebsten wäre Christel zu Hause geblieben. Allerdings wagte sie nicht einmal, mit diesem Gedanken zu spielen. Ihr Pflichtbewusstsein und vielleicht auch ein wenig die Angst vor ihrem Vater hielten sie davon ab.
„Mutti, machst du mir die Haare? Du bekommst das immer so schön hin“, bat sie ihre Mutter.
„Ja, sicher. Komm, setz dich mal aufrechter hin. Hast du Günter geweckt?“ Ihre Mutter nahm die Bürste aus der Schublade unter dem Küchentisch. Sie fing an, das schulterlange, dunkelblonde Haar ihrer Tochter in gleichmäßigen Strichen zu bürsten.
„Natürlich. Er kommt sicher gleich. Obwohl es ihm wohl lieber wäre, wenn heute Sonntag wäre“, antwortete Christel auf die Frage ihrer Mutter.
„Na, hoffentlich schläft er nicht wieder ein“, erwiderte diese. „Jetzt halt bitte mal still. Du bist eine alte Zappelliese“, tadelte sie, während sie die Haare in Wellen mit kleinen Spängchen zurücksteckte.
„Mutti, erinnerst du dich noch, wie du mir früher immer die Zöpfe geflochten hast? Du wolltest lange nicht, dass ich sie mir schneiden lasse. ‚Nach der Jugendweihe‘, hast du immer
gesagt.“
Natürlich erinnerte sich ihre Mutter daran. Sie wollte schon damals nicht wahrhaben, dass ihre Tochter langsam erwachsen wurde. „Du liebe Güte, das ist auch schon wieder eine kleine Ewigkeit her“, stellte sie kopfschüttelnd fest. „Inzwischen bist du 18 Jahre alt. Im März wirst du schon 19. Und nochmal zwei Monate später bist du schon weit weg von uns. Ich darf gar nicht daran denken“, seufzte sie.
„Mutti, fang nicht schon wieder damit an“, sagte Christel genervt. „Es wird mir gutgehen, glaube mir“, versprach sie.
Im Mai würde sie nach Ratibor zum Reichsarbeitsdienst geschickt werden. Christel freute sich darauf. Es lag eine spannende Zeit vor ihr. Das erste Mal in ihrem Leben würde sie allein mit dem Zug fahren. Sie wäre auch das erste Mal getrennt von ihrer Familie, aber das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil – es war genau das, was sie an der Sache besonders reizte. Für sie war es der erste Schritt in das Leben einer Erwachsenen. „Autsch, nicht so fest!“, beschwerte sie sich, als ihre Mutter etwas zu stark an ihren Haaren riss. „Du tust mir weh!“
„Ja, schon gut, sei nicht so zimperlich. So schlimm war das nicht“, erwiderte ihre Mutter. „Ich war abgelenkt“, entschuldigte sie sich dann, um ihren Worten etwas die Härte zu nehmen.
„Gott sei Dank bist du keine Frisörin. Das sollte ich mir mal erlauben. Zu fest an den Haaren einer Kundin zu ziehen, nur weil ich in Gedanken bin. Ich glaube, die Tschöppe würde mich aus ihrem Salon werfen, ehe sich die Kundin beschweren könnte“, lachte Christel.
„Ja, sehr richtig. Ich bin keine Frisörin. Aber du schon. Und deswegen kannst du froh sein, dass ich dir die Haare mache und nicht du mir. Also beklage dich gefälligst nicht, mein Fräulein“, schimpfte ihre Mutter gespielt böse.
„Was hat dich denn so abgelenkt, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Christel neugierig.
„Ich musste daran denken, dass du bald so weit von zu Hause fort sein wirst. Es graut mir davor, dich gehen zu lassen. So viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Wie wird es dir dort ergehen? Wird man dich gut behandeln? Wirst du glücklich sein?“ Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Es brach ihr das Herz, nicht für Christel da sein zu können, wenn sie von Sorgen oder Ängsten geplagt werden würde und niemanden hätte, dem sie sich anvertrauen könnte.
Christel verdrehte die Augen. „Ach, Mutti. Sei doch nicht so. Du teilst dein Schicksal mit tausend anderen Müttern“, warf sie ihr vor. Schnell schluckte ihre Mutter die Tränen hinunter. „Ja, du hast recht. So muss ich es sehen“, stimmte sie zu. „Jetzt lass dich anschauen“, bat sie und sah in Christels Gesicht. „Hübsch siehst du aus.“
„Vielen Dank, Mutti!“ Christel sprang auf und umarmte ihre Mutter stürmisch.
„Schon gut, gern geschehen“, flüsterte ihre Mutter. „Vergiss bitte nicht, dass wir heute Abend zum Verein müssen. Du weißt, dass Vati heute dran ist, die Männer aus seinem Gesangsverein zu bewirten. Trödle also bitte nach der Arbeit nicht rum und komme rasch nach Hause. Wir gehen dann gemeinsam rüber. Und jetzt mach, dass du ins Bad kommst. Abmarsch!“
Christels Vater war Mitglied im örtlichen Gesangverein und bei Festivitäten musste er hin und wieder das Publikum bedienen. Christel und ihre Mutter halfen ihm, die Getränke auszuschenken und Günter sammelte die leeren Gläser ein.
Christel ging Richtung Badezimmer, blieb aber an der Tür noch einmal stehen und drehte sich um. Plötzlich hatte sie Mitleid mit ihrer Mutter. Sie konnte ja verstehen, dass sie sich sorgte. „Sei nicht traurig, Mutti. Es wird mir gut gehen, glaub mir. Du weißt, dass ich keine Probleme habe, mit neuen Situationen umzugehen und Freundinnen zu finden. So oft, wie wir schon umgezogen sind … Alles wird gut!“ Damit ging sie ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Als sie gewaschen und mit geputzten Zähnen zurückkam, saß Günter bereits am Frühstückstisch. Sie musste lachen, als sie ihren Bruder anschaute. Seine Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf und seine Augenlider waren noch immer auf Halbmast. Sie strubbelte rasch über seinen Kopf und ging noch einmal in ihr Zimmer, um sich anzukleiden. Nachdem sie ihre Stiefel geschnürt hatte, zog sie sich ihren Wintermantel über, schlang sich den Schal um den Hals und setzte ihre Wollmütze auf. Schnell schlüpfte sie in ihre wollenen Fäustlinge, rief ein kurzes „Auf Wiedersehen!“ über ihre Schulter und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus nahm sie immer zwei Stufen auf einmal nach unten. Als sie die Haustüre öffnete, schlug ihr eiskalter Wind entgegen und raubte ihr den Atem. Sie würde schnell laufen müssen, wenn sie nicht steif gefroren im Salon ankommen wollte. Gott sei Dank hatte sie es nicht weit. In etwa zehn Minuten würde sie wieder im Warmen sein.
In der Nacht hatte es geschneit. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien und es war anstrengend, durch die pulvrigen Massen zu stapfen. Der Hausmeister war schon dabei, die Gehwege freizuschaufeln, war aber noch nicht sehr weit gekommen. Er erwiderte ihren Gruß lediglich mit einem kurzen Kopfnicken. Während sie durch die hohen Schneewehen stiefelte, dachte sie über ihre bevorstehende Reise nach. Ratibor lag in Oberschlesien, etwa 170 km von Breslau entfernt nahe der tschechischen Grenze. Die Fahrt mit dem Zug dorthin würde mehrere Stunden dauern. Sie war so aufgeregt. Nur noch drei Monate – sie konnte es kaum abwarten.

Zehn Stunden später fegte Christel die letzten Haare auf. Eine Kollegin hatte sich überraschend krankgemeldet und Christel musste für sie einspringen. Doch so anstrengend der Tag auch gewesen war, er hatte Christel erfüllt. Sie war schon lange nicht mehr so zufrieden. Viele Kundinnen hatten sie gelobt und Christel sog diese Anerkennung in sich auf wie ein Schwamm. Sie ging ins Hinterzimmer, um ihren Mantel zu holen. Ihre Kollegin Maria war eben dabei, ihre Stiefel zu schnüren. „Danke nochmal, Christel, du warst wieder einmal ein Engel. Ohne dich hätte ich das niemals alles geschafft. Dass Greta ausgerechnet heute krank sein musste … Sie hat sich schon am Sonnabend ständig die Nase geputzt. Eigentlich wundert es mich nicht, dass sie jetzt richtig krank ist. Bei den Temperaturen! Das haut ja einen Eisbären um.“
„Da hast du recht. Es wird Zeit, dass Sommer wird“, bestätigte Christel. Sie umarmte Maria kurz zum Abschied und zog schnell Mantel, Schal, Mütze und Handschuhe an. „Ich muss mich beeilen. Mein Vater darf heute mal wieder die ‚Chorknaben‘ bewirten. Ich muss wie immer helfen und bin ziemlich spät dran. Schade, dass es alles nur alte Männer sind …“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Adieu, Maria, bis morgen!“ Sie wartete den Gruß von Maria nicht ab und verließ eilig den Salon.
Draußen war es bereits dunkel und der Schnee glitzerte golden im Licht der Straßenlaternen. Die Winterzeit war nichts für Christel. Morgens verließ sie im Dunkeln die Wohnung und abends kehrte sie im Dunkeln zurück. Sie brauchte Licht und Sonne, dann war sie glücklich. Aber bis es wieder so weit war, würde es noch eine ganze Weile dauern. Deswegen Trübsal zu blasen, kam ihr aber nicht in den Sinn. Sie fing an, leise vor sich hin zu singen und je mehr sie sich ihrem Zuhause näherte, desto lauter sang sie.
„Na, heute so fröhlich, Christel?“, rief ihr die Nachbarin von gegenüber zu, die gerade ihren Müll vor die Tür stellte.
„Ja, Frau Schlegel, ich singe mir die Dunkelheit weg.“ Fröhlich winkte sie der alten Dame zu, steckte ihren Hausschlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und war eine Sekunde später im Hauseingang verschwunden.

„Du kommst spät“, sagte ihre Mutter leise, aber vorwurfsvoll. „Was war denn los? Du weißt doch, dass Vati auf dich wartet“, raunte sie. „Er hat schon mehrfach nach dir gefragt.“ Ihre Mutter hatte sich ihre Stiefel angezogen und war gerade im Begriff, den Mantel überzuziehen. Christel erschrak. Sie wusste, dass sie spät dran war, hatte es aber verdrängt. Sie war sich bis eben sicher, dass der Grund für ihre Verspätung schlagkräftig genug war, um ihren Vater zu besänftigen. Allerdings bestand die Gefahr, dass sie nicht dazu kam, eine Erklärung vorzubringen. Plötzlich wurde ihr heiß. „Oje, hat er geschimpft?“, fragte sie ängstlich. Das eben noch empfundene Glück und die Freude über den heutigen Tag waren auf einen Schlag zerstört. Sie kannte die Wutausbrüche ihres Vaters und konnte gut darauf verzichten. „Ich habe heute die komplette Kundschaft von Greta übernommen, weil sie sich krankgemeldet hatte. Ich habe so selten mal die Chance, Kundschaft zu bedienen“, erklärte sie in der Hoffnung, ihre Mutter würde ihr wie immer beistehen.
„Ach so. Na – ausgerechnet heute. Nun geh schon, vielleicht hat Vati dich noch nicht gehört“, war der einzige Kommentar ihrer Mutter. Sie schob Christel zur Tür. „Los, beeil dich“, flüsterte sie, „Es ist besser, wenn dich Vati hier nicht mehr sieht. Im Vereinshaus kann er seinem Zorn keinen freien Lauf lassen.“ Doch es war zu spät. Schon stand ihr Vater im Flur und brüllte los: „Wo warst du so lang? Du hast keine Disziplin! Du bist ungehorsam und eigensinnig!“ Mit zwei großen Schritten war er bei Christel. Er holte aus und schlug ihr mit dem Handrücken quer über das Gesicht. Christel zuckte zusammen und schrie auf. Ein scharfer Schmerz schnitt ihr durch die Nase. Tränen schossen ihr in die Augen und die Welt schien sich zu drehen. Warmes Blut lief ihr in den Mund. Es schmeckte nach Eisen. Ihr Vater hatte seine Rechte benutzt – die Hand mit dem Siegelring am Mittelfinger.
„Es wird Zeit, dass du zum Arbeitsdienst kommst!“, brüllte er weiter auf sie ein. „Dort wird man dir schon zeigen, wo es langgeht. Sie werden dir Disziplin und Ordnung beibringen, du ungezogene Göre!“
Christel weinte. Der Tag war so schön und jetzt musste ihr Vater alles kaputt machen. Der Schmerz in ihrer Nase zog sich bis in die Stirn. „Aber Vati, ich musste heute die Kundschaft von Greta übernehmen“, schluchzte sie.
„Still! Kein Wort mehr! Ich will deine lächerlichen Ausreden nicht hören! Ich habe genug von dir!“ In einer Seelenruhe, die nicht zu seinem Ausbruch passen wollte, nahm er den Hut von der Ablage und zog sich seinen Mantel und die Handschuhe an.
„Aber Waldemar, sie kann doch nichts dafür“, versuchte ihre Mutter zu insistieren. „Sie hat nicht getrödelt, sondern gearbeitet.“
„Papperlapapp.“ Ihr Vater wedelte mit der Hand, als könne er die Worte seiner Frau verscheuchen. „Wir vertrödeln hier nur unsere Zeit. Es wird immer später. Sicher sind schon alle Gäste eingetroffen. Hier, wisch dir deine Nase sauber, wie sieht denn das aus?“ Er reichte Christel ein Stofftaschentuch. „Und jetzt hör auf zu heulen und mach, dass du rauskommst.“ Mit diesen Worten öffnete er die Tür und ging.
„Wie sehe ich aus, Mutti? Sieht man was?“, fragte Christel verzweifelt.
„Lass mal sehen. Komm, wir müssen das Blut abwaschen. Gott sei Dank ist deine Lippe nicht aufgeplatzt wie das letzte Mal.“ Ein schwacher Trost. Sie ging in die Küche und kam eine Minute später mit einem feuchten Waschlumpen zurück. Vorsichtig tupfte sie Christel das Blut aus dem Gesicht. „Ach, meine arme Christel.“ Kopfschüttelnd sah ihre Mutter sie an. „Jetzt komm, lass uns gehen, bevor alles noch schlimmer wird.“


Mittwoch, 28. Januar 1942

Christel schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, um Günter nicht zu wecken. Es war sehr früh am Morgen und er hatte noch etwas Zeit, bevor er in die Schule musste. Christel wusste, dass er eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Vermutlich hatte er schlecht geträumt, denn er wälzte sich in seinem Bett hin und her, was Christel immer wieder aus dem Schlaf gerissen hatte. Als sie mitten in der Nacht aufstand, um nach ihm zu sehen, war er schweißnass. Sie schob es auf seine Träume und versuchte, ihn zu beruhigen. Als sie ihm über das Gesicht streichelte, entspannte er sich und drehte sich auf die Seite, wachte aber nicht auf. Christel war froh, dass er nun Ruhe gefunden hatte. Sie vermutete, dass er endlich tief und traumlos schlief.
Als sie in die Küche kam, saß ihre Mutter bereits am Küchentisch mit einer Tasse heißem Landkaffee vor sich. Mit traurigem Blick schaute sie auf, als sie Christel wahrnahm. „Ach Christel, meine Liebe, du bist schon auf? Komm, setz dich zu mir. Wir müssen nicht reden, ich möchte dich einfach nur spüren. Ein bisschen deine Nähe genießen. Lang geht das ja nicht mehr. Was macht deine Nase? Tut sie noch weh?“ Sie schaute Christel prüfend ins Gesicht. Christel setzte sich neben ihre Mutter und schmiegte ihren Kopf an ihren Oberarm. „Ja, ein bisschen, aber nicht schlimm“, beantwortete sie die Frage. Langsam streichelte sie den Arm ihrer Mutter und sagte: „Ach Mutti, ich kann es nicht ertragen, wenn du so traurig bist. Damit machst du es mir nur schwer, weißt du?“ Es schwang ein leichter Vorwurf in ihrer Stimme mit. „Wo ist denn jetzt dein immer so zuversichtliches Denken? Du versäumst keine Gelegenheit, mir zu sagen, ich solle nie meinen Humor verlieren und immer alles lebensbejahend sehen, aber selber schaffst du es nicht. Du bist doch mein großes Vorbild, Mutti.“ Sie stand auf und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank. Sie öffnete die Tür zur Vorratskammer und nahm die Dose mit dem Landkaffee heraus. Während sie sich einen Teelöffel des braunen Pulvers in die Tasse schaufelte, sah sie kurz zu ihrer Mutter hinüber. „Du siehst aus wie drei Tage Regenwetter. Womit kann ich dich aufheitern?“
„Ach was, das wird schon wieder“, versprach ihre Mutter. „Es ist nur alles ein bisschen viel auf einmal. Der Krieg, mein kleines Mädchen, das plötzlich erwachsen ist und wegmuss. Ich weiß nicht, was noch alles kommt, das ist alles.“
„Ach Muttchen, das weiß doch keiner. Und früher wusstest du es auch nicht. Denk doch nur daran, als du auf einmal feststellen musstest, dass du schwanger warst. Da wusstest du auch nicht, was auf dich zukommt.“
„Ja, aber erstens war da kein Krieg und zweitens war ich nicht allein. Ich hatte deinen Vater.“
„Den hast du jetzt auch“, erwiderte Christel. „Und Günter ist ja auch da. Du bist nicht allein, Mutti.“
„Nein, ich nicht. Ich bin auch nicht diejenige, um die ich mir Sorgen mache, Christel. Du bist es. Um dich mache ich mir Sorgen.“
„Ja, ich weiß, Mutti, aber das brauchst du nicht. Außerdem dauert es ja noch drei Monate. Und ich freue mich so sehr auf alles, was kommt. Auf die neuen Kameradinnen und die Morgengymnastik und den Frühappell und die Arbeit. Vielleicht komme ich zu einem Bauern und lerne, wie man Kühe melkt. Ist das nicht aufregend?“ Christel strahlte ihre Mutter an. Es tat Hildegard gut, ihre Tochter so frohgemut und gut gelaunt zu sehen. Das gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um die Trennung von ihr zu überstehen. Christel stellte die Tasse in den Spülstein und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Günter wachte schweißgebadet auf. Sein Hals tat ihm weh und er fühlte sich heiß und schwach. Wilde Träume hatten ihn die ganze Nacht geplagt und er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er hatte Durst, fand aber nicht die Kraft, aufzustehen, um in die Küche zu gehen. Er sehnte sich nach einem Glas Wasser. Aus der Küche hörte er seine Mutter nach ihm rufen: „Günter, nun steh endlich auf! Du musst in die Schule!“ Günter antwortete nicht. „Günter!“, rief seine Mutter erneut. Vergeblich. Selbst zum Antworten fühlte er sich zu schwach. Immer wieder dämmerte er weg in einen leichten, unruhigen Schlaf. Wie von fern hörte er plötzlich die Stimme seines Vaters. „Günter, du musst aufstehen. Nun komm schon, Junge. Was ist denn los mit dir? Du hast doch wohl gestern nicht etwa die Reste aus den Gläsern getrunken?“ Waldemar trat an das Bett seines Sohnes, doch Günter nahm kaum Notiz von ihm. „Junge, mach keinen Quatsch!“ Sein Vater fing langsam an, sich Sorgen zu machen. Er tätschelte vorsichtig Günters Wange. „Mein Gott, Hildegard!“, rief er über seine Schulter in Richtung Tür, „Hildegard, komm schnell. Ich glaube, Günter hat Fieber!“ Er beugte sich über das Bett. „Guter Gott, du glühst ja!“ Zärtlich strich er seinem Sohn das schweißnasse Haar aus der Stirn. „Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner. Ich hole sofort einen Arzt. Der wird dir helfen.“
5 Sterne
Wer morgens nüchtern 3 mal schmunzelt  - 29.01.2024
Sylvia Kaiser, Bühl

Ich las das Buch in kurzer Zeit, war flüssig und verständlich zu lesen und bin froh dass ich nicht als Frau in dieser Zeit aufwachsen musste. Waren auch lustige Passagen dabei. Kann man auf jeden Fall weiter empfehlen, was man früher alles so ertragen musste. Man wird dann evtl wieder zufriedenener.

5 Sterne
Wer morgens nüchtern dreimal schmunzelt … - 14.12.2023

Die lebensfrohe Christel zeigt in diesem Biografischen Roman, gerade in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, sehr viel Mut. Das in einem hervorragenden Schreibstil geschriebene Buch, das nebenbei und unaufdringlich geschichtliches vermittelt, muss man gelesen haben …. Ich hatte es in einem Ratz durch.

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