Von Rot zu Rot

Von Rot zu Rot

Weisheit und Heilkraft der Farben Roman mit 21 Bildtafeln

Guschti Meyer


EUR 22,90
EUR 18,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 326
ISBN: 978-3-99146-111-1
Erscheinungsdatum: 17.07.2023
Auf der Suche nach verlorenem Wissen über die Weisheit und Heilkraft der Farben tragen zwei Kontrahenten ungewöhnliche Kämpfe aus. Dies führt sie durch qualvolle Erlebnisse mit Einblicken in die eigene Vergangenheit und durch Selbsterkenntnis und Versöhnung.
1 Rot



Hast du den roten Drachen gesehen?
Still und zahm ruht er in sich. Er sieht aus wie ein geschlossener Kreis. Friedlich hält er seinen feuerroten Schweif wie eine süße Frucht im Mund und blickt gerührt auf seine niederrinnenden Speicheltropfen. Und erst die gezackten, die furchterregenden Flügel! Sie liegen weich und sanft wie schattenspendende Blätter auf seinem schuppigen Leib. Die kampferprobten Klauen aber sind schon gar nicht mehr sichtbar, eingezogen sind sie. So liegt der mächtige Drache! Und ob du es glaubst oder nicht: Noch nie war er so mächtig! Das muss ich dir näher erklären, denn es ist ein nicht leicht zu verstehendes Geheimnis.
Es ist eine uralte Geschichte.
Versuche, so weit zurückzudenken, wie du kannst. Ja? Gut! Doch das ist noch lange nicht genug. Füge noch einmal das Hunderttausendfache dazu und dann denke, dass dies erst ein winziger Tropfen der Zeit ist im größten der Meere, welches du dir vorstellen kannst.

Damals also fiel ein Punkt, ja, ein Punkt, etwas noch nie Dagewesenes, etwas Unfassbares, von oben herab: ein Punkt. Also winzig klein, eigentlich nicht sichtbar und doch wirklich. Dieser war rot, ganz rot. Die Bedeutung dieses Punktes kann nur ermessen, wer die Gegenwart versteht, wer in der Gegenwart alle Vergangenheit und alle Zukunft begreift. Zuerst war der Punkt wie eine winzige Träne, feucht und glänzend. Diese Träne fiel also herab, einfach herab. Bis anhin konnte nie etwas einfach herabfallen, das gab es nicht. Es gab keinen Raum, kein Unten und kein Oben, kein Innen und Außen wie auch kein Rot und kein Grün, und weder Zeit noch Ort. Es war alles in allem und alles war alles. Aber woher kam denn plötzlich die Änderung? Ja, um dies verstehen zu können, braucht es eben die Geschichte vom roten Drachen.
Der Punkt entstand durch seinen Fall und der Fall durch den Punkt. Der Punkt war rot. Und er wurde durch dieses Fallen größer. Er wuchs und wuchs, je länger er fiel. Zugleich wurde er schwerer und bedeutender, er begann, Form anzunehmen. Und durch sein Fallen bildete sich der Raum und bildete sich die Zeit. Erst dadurch wurden diese zwei wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Punkt konnte dies als seinen Verdienst ansehen.
Schließlich kam der Augenblick, da sich dieser Rotraum nicht mehr weiter ausdehnte. Doch seine Wärme nahm zu und seine Kraft entwickelte sich fort. Du musst dir jetzt einen feurig glühenden Ball vorstellen, mit Weisheit begabt, in Schönheit glänzend, mit Kraft und Macht ausgestattet. Und da auch die Zeit geworden war, gebar die Zeit den Wunsch: Der Feuerball war nicht mehr damit zufrieden, einfach zu sein, er wollte etwas Bedeutendes werden. So wuchs in ihm ein winziges Wesen heran, gebildet durch das eigene Begehren. Anfänglich glich dieses Wesen einer kleinen, roten Farbwolke. Es war noch unbedeutend, aber es bewegte sich und konnte sich in Form und Farbe unablässig verwandeln. Es wurde schöner, vielgestaltiger. Es war helle Freude. Doch die unzähligen spielerischen Versuche, das rote Wesen immer neu zu formen und immer neue Rotfärbungen hervorzubringen, brachten die Erfahrung der Grenze. Plötzlich gab es Wiederholungen, es war nicht mehr möglich, Neues und Erstmaliges zu schaffen. Es war wie ein Erwachen. Verstehst du? Bis dahin geschah alles ganz selbstverständlich, einfach so, ohne Frage, ohne Anstrengung. Alles war wundervolle, spielerische Entwicklung. Jetzt aber gab es einen Bruch, einen Riss. Plötzlich war nichts mehr wie vordem. Verantwortlich dafür war die Zeit. In der Zeit sind Werden und Vergehen beschlossen. Und auch Grenzen. Dessen war sich der rote Punkt allerdings nicht bewusst, als er so mir nichts, dir nichts beschlossen hatte, zu fallen und zu wachsen.
Doch während es bis anhin nur vollkommenen Einklang und tiefe Glückseligkeit gab, entstanden auf einmal Wut, Ärger und Unzufriedenheit. Das brachte allerdings mit sich, dass der rote Feuerball sich selbst in neuer und intensiver Weise wahrzunehmen vermochte. Er hatte starke Gefühle, und er wurde sich seiner selbst bewusst. Diese neuen Gefühle wurden Mutter und Vater seiner neuen Gestalt. Sie formten ihn zum Drachen. Die rotfarbenen Luftgebilde nahmen Wut und Selbstbewusstsein in sich auf und begannen, sich zu verdichten. Das war der Vater. Sie verschlangen Weisheit und Schönheit. Das war die Mutter.
Der Drache, der sich aus den transparenten und noch wesenlosen Farbschleiern entwickelte, war anfangs weich und freundlich. Er lächelte süß und freute sich über sein Dasein. Dabei sah er aus wie ein kleines, niedliches Schlänglein. Und er war zahm. Wendig und lustig bewegte er sich im Licht des Feuers. Er wuchs schnell, wurde ungestüm und wild. Aber er war allein im wesenlosen, weiten Raum, im heißen Dampf der roten Kugel. Bald ergriff ihn eine mächtige Unruhe, ein Drang, etwas Besonderes zu werden, etwas Gewaltiges zu wagen. Er suchte eine Herausforderung, er wollte seine Kräfte erproben. Wo aber konnte er ein Gegenüber finden?
Hier beginnt ein weiteres Geheimnis, das in den Tiefen der Zeit verborgen liegt. Heute aber ist der Augenblick gekommen, es zu enthüllen. Du wirst es erfahren, wenn du den Bildern dieser Geschichte folgen magst.
Zunächst übte der Drache seine Gefühle der Kraft an sich selbst, mit sich selbst. Er bewegte sich zum Beispiel besonders schnell und zackig. Er versuchte, die eigenen Weichheiten abzuschleifen. Er wollte hart werden. Das stärkte seine Meinung von sich selbst. Und sieh da, die unzähligen Übungen trugen Früchte. Seine Gestalt begann sich zu verändern. Es wuchsen ihm da und dort kleine Fortsätze, die sich langsam zu hieb- und stoßkräftigen Gliedern ausbildeten. Bestärkt durch diese Tatsache intensivierte der Drache seine Bemühungen. Er übte unablässig, und er tat es mit großem Stolz. „Ha, ich bin wer!‘, sagte er zu sich selbst. Schließlich wuchsen an seinen Gliedern Krallen und spitze Nägel, und seine Haut wurde hart und schuppig. So kam es, dass er mit acht Beinen, sechs Flügeln und sieben Hörnern ausgestattet und seine Größe auf das Tausendfache gewachsen war. Ja, er besaß sogar mehrere Zungen. Aber es fehlte immer noch sein Gegenpart, irgendein Wesen, das ihn bewunderte, dem er seine Kraft und sein Können demonstrieren konnte.

Da geschah es, dass eines Tages eine große, weiße Wolke erschien. Sie war weich, sanft und hell, fast nur aus Luft und Licht bestehend; aus einem anderen Licht als dem, welches die rote Kugel erhellte. Die unfassbar zarte Schleiergestalt schwebte leise herab. Der Drache war begeistert. Endlich kam für ihn die große Stunde. Dieser Wolke würde er beweisen, wie groß, mächtig und erhaben er war, und wie nichtig und schal sie in ihrer blassen Durchsichtigkeit einherging. Wenn sie ihm nicht Ehre und Anerkennung zuerkennen würde, dann wollte er sie zum Kampf herausfordern. So beschloss er. Und diesen Kampf würde er in jedem Falle gewinnen, daran bestand nicht der geringste Zweifel. So betrachtete er voll triumphierender und erwartungsvoller Freude das langsame Herabgleiten der Wolke. Sie kam näher und näher. Sie wurde heller und heller; so hell, dass der Drache schließlich die Augen zukneifen musste. Sie brannten ihn. So viel Licht war er nicht gewohnt. Aber das würde sich geben. Er konnte auch mit geschlossenen Augen kämpfen, und mit seinem Sieg würde das Licht der Wolke zweifellos erlöschen.
Die Wolke jedoch schien den Drachen überhaupt nicht zu beachten. Mit unverminderter Langsamkeit schwebte sie heran. Ganz selbstverständlich, ganz lautlos. Sie war groß, sehr groß, das sah der Drache, als er zwischendurch einmal blinzelnd hinaufblickte. ‚Umso besser‘, dachte er, ,dann ist meine Macht entsprechend größer, wenn ich sie besiege und mir unterwerfe.‘ Endlich war die Wolke ganz nahe, so nahe, dass er sie fast berühren konnte.
Sogleich wollte der Drache ihr mit einer gebieterischen Rede Einhalt gebieten, sie in Schranken weisen. Aber er kam nicht dazu. Denn die Wolke begann, ihn zu durchdringen. Ja, sie ging buchstäblich einfach durch ihn hindurch. Ganz langsam, gleichmäßig, unaufhaltsam und stetig. Es war unerhört, es war schrecklich. Kannst du dir das vorstellen? Der arme Drache war so perplex, dass er beinahe in Ohnmacht fiel. ‚Das geht doch nicht, es ist gegen jede Vernunft, es ist nicht möglich.‘
Kurz darauf ergriff ihn eine sonderbare, unbeschreibliche Müdigkeit. Alles in ihm wurde matt und unklar. Alle Konturen verloren sich. Sein Wille, seine Vorsätze, ja sogar sein Kampfesmut, wurden schwächer und schwächer. Und noch etwas geschah: Eine unerklärliche Weichheit durchströmte ihn, ja, sie verwandelte ihn buchstäblich, sodass in ihm plötzlich sein Schlangendasein und sein Schlangenbewusstsein wiedererwachten. Und er vermochte dadurch, die Zeit zu durchdringen, und er sah seine eigene frühere Weisheit und seine Schönheit. Tief in seinem Inneren begann sich eine alte Erinnerung zu regen. Sie sagte ihm, dass er noch vor aller Zeit einmal selbst ein Wesen von wolkenhafter Durchsichtigkeit und Zartheit gewesen war. Er konnte in die helle, selbstverständliche Geborgenheit und in die reiche Fülle seiner Herkunft blicken. Doch das dauerte kürzer als alles Kurze. Bald verlor er sein Bewusstsein und fiel in einen tiefen Schlaf. Die Wolke aber schmiegte sich fast liebevoll um ihn; sie umhüllte ihn weich und warm.
Da hatte der Drache einen Traum.


Er sah, wie ein roter Ritter durch eine Wüste ritt. Sie bestand aus Sand, aus nichts als goldgelbem Sand und graugelbem Sand und Sand in vielen anderen Farbnuancen von Gelb. Außer dem Ritter, der auf seinem Pferd in wildem Tempo durch die kahle Wüste ritt, war nichts zu sehen. Man konnte lange, lange hinschauen: Das Bild sah immer ungefähr gleich aus. Es schien eine Wüste von unermesslichen Ausmaßen zu sein. Oder ritt etwa der Reiter immer auf derselben Stelle? Aber nein, bei genauem Hinsehen gab es winzige Veränderungen der Farbatmosphäre. So ritt er fort und fort, und der Drache schaute gebannt auf das immer gleiche Bild des dahinjagenden Reiters. Und so lange es auch dauerte, der Drache wandte den Blick nicht ab, denn er spürte deutlich, dass irgendwann etwas Außerordentliches passieren würde.
Endlich tauchte in der Ferne ein eigenartiger dunkler Hügel auf. Und der Hügel kam näher, nein, vielmehr ritt der rote Reiter auf ihn zu. Aber das ist ja einerlei, denn es ist dasselbe. Bald konnte der Drache erkennen, dass der Hügel hoch und gefährlich war. Er bestand aus mächtigen Felsen, die der Reiter niemals würde überwinden können. Aber diesen kümmerte solches offenbar nicht, denn er ritt mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Hindernis zu. ‚Nein, das ist doch nicht möglich, er wird an den Felsen zerschellen, und sein Pferd mit ihm! Er soll doch endlich sein Tempo drosseln! Es ist nicht auszuhalten. Jetzt, gleich wird es passieren! Aah, Aah!‘ Der Träumer hatte die Augen schließen müssen, dieses schreckliche Bild konnte er nicht mit ansehen, selbst wenn er ein Drache war.
Nach einer Weile wagte er vorsichtig, die Augen wieder zu öffnen: Seltsam, was war das? Der Reiter war immer noch auf seinem Pferd und ritt im selben Tempo, als ob nichts geschehen wäre, weiter. Doch er ritt jetzt durch eine schmale Gasse in einer äußerst steilen und engen Felsschlucht wie durch ein Nadelöhr. Wie hatte er nur einen Durchgang finden können? Das war die reinste Zauberei! In der Felsschlucht aber dröhnte ein gewaltiges, gleichmäßig vibrierendes Tongebilde: ein urmächtiger Klang, bestehend aus vielen ineinander verwobenen Tönen. Es hörte sich an wie ein unsägliches, lautes Jammern aus fernster Zeit, wie ein gleichzeitiges Ertönen aller je erhobenen Klagen. Gleichmäßig und unaufhörlich schrie es durch die düstere Schlucht. Und dieses unerträgliche Klagegeschrei schien ewig zu währen. Und wäre der Reiter nicht vorangekommen, und hätte die Schlucht sich nicht geweitet, und die Felsformationen an Höhe und Härte abgenommen, der Jammer hätte den Reiter wahrscheinlich niedergestreckt. Doch weil die Landschaft weicher und offener wurde, verringerte sich die Tonstärke. Und endlich war nichts mehr zu hören und es herrschte wieder vollständige Stille wie vordem. Und wieder war nichts anderes mehr zu sehen als die unendlich sich ausdehnende Wüste; heißer Sand, nichts als Sand und Staub.

Der Drache aber wusste im Traum, dass sich auch diesmal etwas verändern würde, wenn er nur genug Geduld hätte, unablässig hinzuschauen.
Und sieh da: Endlich zeichnete sich am fernen Horizont eine winzige Erhebung ab. Es war etwas Grünes, das sich immer deutlicher als eine Oase entpuppte: etliche Bäume, Büsche und sogar Steinbrocken. Immer noch ritt der rote Reiter mit rasender Geschwindigkeit. Aber diesmal schien er gewillt, seinen Ritt zu unterbrechen und innezuhalten, denn er verlangsamte das Tempo. Unmittelbar vor der Oase hielt er sein Pferd sogar an und betrachtete konzentriert die vor ihm liegende Wasserstelle. Schließlich umritt er sie langsam, unablässig mit scharfem Blick auf sie schauend. Endlich stieg er vom Pferd, band es an einen alten, verkrüppelten Baum und ging suchend umher. Er schritt in eigenartigen Kreisbahnen zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch. Was hatte er wohl vor, was suchte er? Jetzt kam er an eine leicht abfallende Mulde, die mit dichten Gräsern und etlichen verkorksten Sträuchern bewachsen war. Er bahnte sich einen Weg durch das Dickicht, stieg hinab in eine feuchte, verwilderte und modrig riechende Vertiefung. Dort fand er eine mächtige Felsformation, die fast vollständig mit Moos und Flechten überwachsen war. Vorsichtig kratzte er an verschiedenen Stellen das Moos und die Flechten Stück für Stück weg. Was hoffte er darunter zu finden? Außer gewöhnlichem grauem und schrundigem Stein war nichts Besonderes zu sehen. Aber der rote Reiter ließ sich nicht beirren und führte seine Arbeit beharrlich weiter. Mehrmals prüfte er eine gewisse Stelle minutenlang und minutiös. Schließlich setzte er sich erschöpft hin. Seine Arbeit schien nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Sinnend saß er in der feuchten Mulde vor dem moosigen Felsungetüm. Unbeweglich verharrte er in der gleichen, leicht gebeugten Haltung. Sein faltiges Gesicht sah müde und alt aus, die Haare zerzaust. Die herabhängenden Schultern schienen eine schwere Last zu tragen.
Plötzlich schreckte ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken. Eine jähe Erinnerung trieb ihm das Blut in den Kopf. ‚Was ist das? Habe ich das nicht schon einmal gehört? Da ist es wieder, ganz deutlich: ein eindringliches, ächzendes Knirschen, hervorgerufen durch verrostete Angeln einer schweren Tür, die mühsam mit aller Kraft aufgedrückt werden.‘ Der rote Ritter horchte gespannt. Er musste unbedingt herausbekommen, aus welcher Richtung das eigenartige Geräusch kam. Denn es war ein unverkennbarer, deutlicher Hinweis auf die Stelle, die er suchte. Er konzentrierte sich, er hielt den Atem an: ein leises, langgezogenes Knirschen, ein Reiben von uralten Eisenteilen aus längst versunkenen Zeiten. Ja, jetzt war es deutlich genug, jetzt war er sicher, woher es kam. Es musste ganz in der Nähe sein, dort drüben. Er sprang auf, stürzte einige Schritte voran und blieb plötzlich wie erstarrt stehen. Eine mächtige Furcht hatte ihn übermannt, er zitterte. Trübe und schwere Gedanken durchzogen seinen Geist. Plötzlich war er nicht mehr sicher, ob es richtig sei, den Versuch zu wagen, das alte Geheimnis zu erforschen. Es war unglaublich gefährlich. Hatte er wirklich die Kraft dazu? War es der richtige Zeitpunkt?
Er wusste genau, dass nur eine einzige Zeit die günstige war, und dass nur diese eine Zeit Erfolg versprechen konnte. In jedem anderen Fall war ein Scheitern sicher, dann aber bräche eine Dunkelheit sondergleichen herein, und die große Chance für eine erlösende Erhellung wäre für Millennien vertan. Er hatte alle Bedingungen sorgfältig studiert, hatte die Stellungen der Sterne geprüft, hatte sich in einem Kreis von Wissenden intensiv auf diese Stunde vorbereitet. Er hatte alles in seinen Kräften Stehende getan, um sich auf diese Aufgabe einzustimmen, denn es brauchte zum Gelingen nicht nur Weisheit und Wissenschaft, sondern noch weit höhere Qualitäten. Es brauchte ein reines Herz.
Aber jetzt kamen Furcht und Zweifel, gerade sie, die er in sich besiegt zu haben glaubte. Plötzlich fühlte sich der Ritter allein, unsäglich allein. Und er kam sich ganz klein und unbedeutend vor. Er fühlte sich schwach. Mit welcher Entschlossenheit und Kraft war er doch eben noch im Sturmritt herangeprescht. Furchtlos war er durch das Tal der Qualen gedrungen und hatte heiße, wasserlose Wüsten durchquert. Und jetzt? Was war geschehen? Wovor schreckte er plötzlich zurück?
Es war die Erkenntnis von der Möglichkeit eines Scheiterns. Er erkannte erst in diesem Augenblick die Tragweite des Unterfangens. Erst jetzt ging ihm auf, wie hochgefährlich die Aufdeckung der innersten Geheimnisse der sieben Beweggründe war, welchem Risiko er gegenüberstand. War es da nicht besser, alles beim Alten zu lassen und zurückzukehren? War es nicht ehrlicher, ja, vernünftiger, den Lauf der Dinge einfach geschehen zu lassen, statt einzugreifen? Vielleicht könnten ja die Entdeckungen in falsche Hände geraten. Dann würden sie zur negativen Seite hinzugeschlagen und das Unheil verstärken. Statt Nutzen brächten sie Schaden, statt Fortschritt weitere Verhärtung. Konnte er eine so hohe Verantwortung auf sich nehmen?

So sann der Ritter hin und her. Traurig setzte er sich nieder, unentschlossen, unfähig, irgendetwas zu tun. Gleichzeitig wuchs seine innere Unruhe. Immer stärker ergriff ihn eine quälende Spannung. Er musste etwas tun! Es blieb nicht mehr viel Zeit. Niemand konnte ihm die schwere Entscheidung abnehmen. Verpasste er diese Gelegenheit, wäre alles unwiderruflich verloren.
Er blickte zum Himmel. Eine wolkenlose blaue Tiefe war zu sehen, unerforschlich, ohne Zeichen.
Dann geschah etwas Sonderbares: Während der rote Ritter – eigentlich gar nicht mehr ein roter, sondern eher ein blassrötlicher – niedergeschlagen und unentschlossen auf dem Stein saß, kroch eine kleine Eidechse sein Bein hoch und sonnte sich. Der Ritter ließ sie gewähren, sie störte ihn nicht. Ja, er empfand beim Anblick des niedlichen Tieres, dessen Bauch sich mit dem Atem so wundervoll hob und senkte, einen gewissen Trost. Er betrachtete das wunderbare Muster auf dem Körper des kleinen Tieres und wurde dabei ruhiger. Die einfache Selbstverständlichkeit der Kreatur ergriff ihn, er fühlte sich ihr in einer Weise verbunden, die er noch nie erlebt hatte. Und er begann sogar, dem kleinen Reptil von seinen Schwierigkeiten zu erzählen. Er empfand es als tiefes Glück, dass er zu einem lebendigen Wesen sprechen konnte. Und wenn die kleine Eidechse ihn auch nicht verstünde, so spürte er doch eine Verbindung, die sich zart zu weben begann. Ja, er gewann das kleine, atmende Wesen lieb. Die Eidechse verharrte still, ganz still. Wer kann so wundervoll zuhören wie sie?
Doch dann drehte sie sachte ihren Kopf, sodass der Ritter in ihr Auge blicken konnte.
4 Sterne
Von Rot zu Rot - 13.09.2023
Brigitte Hundt

Fantastische Geschichte, spannender Aufbau, sie zieht mich in ihren Bann. Doch was geschieht mit der Wolke?Der Zusammenhang ist noch nicht erkennbar. deshalb soll man unbedingt weiterlesen.Noch etwas , wem wird diese Geschichte erzählt? Auch als Erwachsener kann man diese Geschichte gut lesen.

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