Vom Baum, der ein Junge war

Vom Baum, der ein Junge war

Linda Weis


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 138
ISBN: 978-3-99064-042-5
Erscheinungsdatum: 19.12.2018
Wer kennt nicht das Gefühl, vor lauter Glück die Welt umarmen zu können? Das Schicksal eines Jungen scheint in dem Moment besiegelt, als seine Mutter voller Vorfreude über ihre bevorstehende Hochzeit einen Spaziergang im Wald macht …
Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, da ich weiß, dass ich es morgen nicht mehr kann. Sie müssen wissen, dass ich im Sterben liege. Ich habe keinerlei körperliche Beschwerden oder gar Schmerzen, dennoch bin ich mir meines baldigen Ablebens gewiss. Sie werden sich nun sicherlich fragen, wie dies möglich ist und ich kann ihre Skepsis verstehen. Jeder, der diese Worte liest, wird sicherlich meine geistige Gesundheit infrage stellen.
Um jedoch begreifen zu können, warum ich mir meines in Kürze eintretenden Todes sicher bin, müssen Sie meine Geschichte kennen. Eine Geschichte, die man durchaus für sonderbar halten kann, dies sehe ich ein. Doch für mich ist sie es nicht. Sie beschreibt lediglich mein Leben, schildert von meinen täglichen Erfahrungen und Begegnungen sowie den Gefühlen, die diese in mir hervorgerufen und mich bis zum jetzigen Zeitpunkt begleitet haben.
Ich sehe, wie sich die Sonne dem Horizont entgegen neigt und den Himmel in blutrotes Licht taucht. Ich spüre wie mein Körper allmählich schwächer wird. Meine Augen werden mit jedem geschriebenen Wort trüber, das Atmen anstrengender, meine Arme schwerer. So bitte ich Sie, lieber Leser, meine Worte nicht mit Argwohn zu hinterfragen, sondern ihre Zweifel für kurze Zeit abzulegen und mir unvoreingenommen sowie mit offenem Geist und Herzen auf meinem manchmal beschwerlichen, dennoch glücklichen Lebensweg zu folgen.
Und somit möchte ich meine Erzählung mit der wunderlichen Begegnung beginnen, mit der alles ihren Anfang nahm.







Meine Mutter lernte meinen Vater im Alter von sechzehn Jahren auf einem Dorffest kennen. Schüchtern stand sie mit ihren zwei besten Freundinnen seitlich an der Tanzfläche und beobachtete die Menschen, die sich dort im Rhythmus der Musik bewegten, sich amüsierten oder sich langsam näherkamen. Mein Vater hielt sich mit zwei seiner Cousins sowie ein paar Kumpels an der Bar auf. Seine Augen waren auf ein junges Mädchen gerichtet, das den Bewegungen der tanzenden Paare mit ihren tiefschwarzen Augen folgte, sich von Zeit zu Zeit nach ihren Freundinnen umsah, um dann wieder ihre Aufmerksamkeit auf die Musik und den dazu passenden menschlichen Bewegungen zu richten. Er war fasziniert von ihr, ihrer zierlichen Gestalt, ihren feinen Gesichtszügen und die Stärke und Leidenschaft, die ihre Augen nicht zu verstecken vermochten und derart im Gegensatz zu ihrer Gesamterscheinung standen. Er musste sie kennenlernen und so nahm er all seinen Mut zusammen, bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und lud meine Mutter zum Tanzen ein. Nach kurzem Zögern willigte sie ein, als Paar begaben sie sich auf die Tanzfläche, reichten sich die Hände und ließen sich für die nachfolgenden Minuten geistig wie körperlich auf den anderen ein. Nun spürte auch meine Mutter, wie ihr Interesse an ihrem Tanzpartner wuchs und die Anziehungskraft zwischen beiden immer stärker wurde. Dies sei der Moment gewesen, an dem sich beide sicher waren, nicht nur einen Tanzpartner für jenes Lied gefunden zu haben, sondern ebenfalls den Partner für ihr gesamtes weiteres Leben. So romantisch schilderte es mir jedenfalls meine Mutter im Nachhinein, und nie gab es einen Anlass, dies anzuzweifeln. Sie erzählte mir ebenfalls, dass mein Vater ihr drei Jahre später an einem Frühlingsmorgen einen Heiratsantrag machte. An einem Tag, an dem nach langen dunklen Wintermonaten das erste Mal wieder helle Sonnenstrahlen das junge, grüne Blätterdach der Bäume durchströmten und sich in Form von goldenen Lichtbalken auf dem Boden niederließen. Meine Mutter nahm den Antrag überglücklich an. Sie entschieden erst am Abend des gleichen Tages auf dieses freudige Ereignis anzustoßen, da mein Vater damals jeden Tag zehn Stunden seines Lebens in einer großen, von Neonlicht gefluteten Produktionshalle verbrachte, welche einer Fabrik gehörte, die Plastikteile herstellte. Er verabschiedete sich mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss und machte sich auf den Weg in einen neuen Arbeitstag.
Meiner Mutter machte das Verschieben des Feierns auf den Abend nichts aus, doch die Vorfreude auf ihre anstehende Hochzeit ließ sie unruhig werden. Ihre Knie schlackerten, sie wurde zappelig und ihre Wohnung wirkte plötzlich bedrückend eng. Und so legte sie sich ihren Mantel sowie ihren blau glänzenden Seidenschal um und verließ ebenfalls die Wohnung. Das Haus, das sie vor einigen Monaten gemeinsam bezogen hatten, befand sich am Rande eines kleinen Dorfes, nahe der Stadt. Zum Verdruss meiner Mutter besaß es jedoch keinen eigenen Garten. Glücklicherweise war es jedoch von schönen, dichten Wäldern umgeben. Und in diese machte sie sich auf, das Herz voller Hoffnung, den Kopf voller Zukunftspläne …
Der Wald bestand aus einer Vielzahl an Bäumen, doch jener, der meiner Mutter sofort in die Augen stach, war der groß gewachsene Apfelbaum mit seinem breiten Blätterdach, welcher frei inmitten einer hellen Lichtung stand. Weiße Blüten leuchteten unter dem Einfall der Sonnenstrahlen und tauchten den Baum in ein himmlisches Licht. Sie ging auf ihn zu, magisch von ihm angezogen, lehnte sich gegen seinen Stamm und atmete tief ein. Sie spürte, wie die noch kühle Frühlingsluft tief in ihre Lungen strömte und roch den süßlichen Duft, den die Blüten der umherwachsenden Bäume verströmten. Raureif bedeckte Blätter und Gräser, ließen sie silbern in der Sonne glänzen. Feiner Nebel umhüllte die Füße meiner Mutter und schien sie über dem Boden schweben zu lassen. Sie schloss die Augen und versuchte, diesen Moment für immer in sich aufzunehmen, jedes einzelne Rascheln der Blätter, jedes noch so kleine Kribbeln in ihren Händen und Füßen. All diese Empfindungen wollte sie für die Ewigkeit tief in sich festhalten. Erneut füllte sie ihre Lungen mit der frischen Luft ohne zu bemerken, dass sie ein kleines Samenkorn, welches sich genau in dem Moment, in dem sie sich gegen den Baumstamm lehnte, aus einer der weiß schimmernden Blüten gelöst hatte und langsam in Richtung Boden sank, mit einsog.
Sie war einfach nur glücklich und dankbar für jenen beseelten Moment, den sie als den schönsten Augenblick in ihrem Leben in Erinnerung behalten sollte. Mit Ausnahme meiner Geburt, fügte sie dann immer lächelnd hinzu, wenn ich neben ihr saß und gebannt ihren Worten lauschte. Damals ahnte sie jedoch noch nicht, dass jene Sekunden, jenes eingeatmete Samenkorn nicht nur für sie von größter Bedeutung, sondern ebenfalls meinen Lebensweg für immer beeinflussen sollte.
Meine Mutter wollte den Tag, der so schön begonnen hatte, ebenso denkwürdig ausklingen lassen und so hatte sie am Nachmittag edle Nahrungsmittel eingekauft, früh abends zubereitet und, als mein Vater von seinem langen Arbeitstag nach Hause gekehrt war, den hübsch gedeckten Tisch angerichtet. Sie aßen ausgiebig, scherzten, lachten und merkten nicht, wie es draußen immer dunkler wurde und die Nacht hereinbrach. Sie sahen nur die glänzenden und funkelnden Augen des Anderen, spürten nur dessen Haut und Finger, als sie sich über den Tisch die Hände reichten, und die Hitze und den Körper des Anderen, als sie sich nach dem Essen vom Tisch erhoben und sich nach oben in ihr Schlafzimmer begaben. Weitere Details zu jenem Abend bekam ich nicht. Damals, als Kind habe ich dies nie verstanden, heute muss ich lächeln, wenn ich mich an die Versuche meiner Mutter, mich zum Schweigen zu bringen, erinnere.
„Es war einer der schönsten Tage meines Lebens!“, wiederholte sie dann unnachgiebig und bedeutete mir somit, dass ihre Erzählung beendet sei, woraufhin ich mich von meinem Stuhl erhob und auf ihren Schoss kletterte, ihre Körpernähe suchte, um schließlich dort einzuschlafen. Doch was dann mit mir passierte, blieb für jeden meiner Familie ein großes Rätsel und sollte meinen Eltern, aber auch mir eine ganze Reihe an Hürden und Herausforderungen bringen, die es zu überwinden und sich zu stellen galt. Hätte meine Mutter damals gewusst, was sie in sich trug, wäre es ihr wahrscheinlich schon während ihrer Schwangerschaft aufgefallen. Doch so schenkte sie meinen Bewegungen in ihrem Bauch keine besondere Beachtung. Die Tatsache, dass das kleine Wesen in ihrem Inneren nur jeden zweiten Tag zu spüren war, ließ sie nicht aufhorchen. Warum hätte sie sich Gedanken machen sollen? Sie hatte geglaubt, einen ganz normalen Säugling in sich zu tragen, der seine Launen hat und diese nach seinem Willen in ihr auslebt. Dass dem nicht so war, wurde ihr erst viel später bewusst. Und dann wurde ich geboren. Dies war der Punkt in der Erzählung, an dem mein Vater mit den Schilderungen fortfuhr, da meine Mutter jedes Mal von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Mein Vater erzählte mir dann, wie er auf seiner Arbeit den Anruf meiner Mutter erhalten hatte, um ihm mit panischer Stimme mitzuteilen, dass ihre Wehen soeben eingesetzt hätten. Er beschrieb mir, wie er mit meiner Mutter ins Krankenhaus gefahren war, wie sie unterwegs wegen überhöhter Geschwindigkeit von einem Polizeibeamten angehalten wurden, der sie jedoch angesichts der Tatsache, dass meine Mutter ihn mit knallrotem und von Schmerz verzerrten Gesicht anschrie, er solle sich zum Teufel scheren, schnell weiterfahren ließ. Er schilderte, wie meine Mutter, endlich im Krankenhaus angekommen, sofort von einer Krankenschwester in den Kreissaal gebracht wurde. Dann beschrieb er, wie er vor der Tür dieses Kreissaals stand, vollkommen verdreckt in seiner Arbeitskluft, und jedem noch so unscheinbaren Geräusch lauschte, das aus dem Zimmer zu ihm drang. Das Zimmer, in dem meine Mutter mich mit aller Kraft aus sich herauspresste, um mich so in diese mir zu diesem Zeitpunkt noch fremde Welt freizugeben. „Bitte schön, hier bringe ich Ihnen ihren Sohn!“, habe die Krankenschwester stolz verkündet, als sie mit einem kleinen, in weiße Decken gehüllten Päckchen zu meinem Vater in den Flur trat. Und da war ich, sah meinem Vater das erste Mal in seine dunkelblauen Augen. Dann entdeckte ich seine spitze Nase, seine weißen Zähne, welche mir übermäßig groß erschienen und schrie laut los. Mein Vater lachte und nahm mich in seine Arme, schaukelte mich sanft hin und her und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Es ist nicht so, als könne ich mich selbst an all diese Details erinnern, doch mir wurde diese Szene so oft beschrieben, dass ich heute Schwierigkeiten habe zu bestimmen, an was ich mich selbst erinnern kann und was zu den Überlieferungen gehört. Doch dies stört mich nicht. Es war ein schöner Moment für alle Beteiligten, und es war der Moment, ab dem ich meine ersten Erfahrungen, gute wie schlechte, in diesem irdischen Leben machen sollte.
Ein kalter Luftzug strich über die Grashalme der Wiese, die an das Grundstück meines Elternhauses grenzte. Fast hätte man den kleinen, grünen Stängel übersehen, doch er war da. Noch ganz klein und zart hatte er es geschafft, die Bodenschicht, die ihn seit mehreren Tagen bedeckt hatte, zu durchbrechen und sich einen Weg ans Tageslicht zu erkämpfen. Das kleine Pflänzchen hatte seinen dünnen Stängel aus dem Boden gestreckt, vorbei an den links und rechts neben ihm wachsenden Grashalmen sowie den weißen Margeriten. Nun spürte er das erste Mal, wie der Wind über seine winzigen, weichen, hellgrünen Blätter strich. Der Lebensbeginn des kleinen Pflänzchens war schwer gewesen. Der Apfel war auf den harten Winterboden der Wiese gefallen. Doch das Samenkorn, das sich in ihm befunden hatte, hatte es geschafft. Es hatte sich seinen Platz zwischen unzähligen Wurzeln benachbarter Gräser und Blumen erkämpft, hatte sich trotz Kälte und Bodenhärte entwickelt und eine der schwersten Etappen seines kurzen Lebens hinter sich gebracht. Es hatte den Weg ans Licht erreicht. Nun würde es überleben, wenn niemand es willentlich zerstören sollte. Die Wiese, auf die das Samenkorn gefallen war, wurde nur selten von Menschen benutzt oder gar von ihnen betreten. So standen seine Überlebenschancen recht gut und das Pflänzchen kämpfte weiterhin tapfer gegen die kalten Winde an.







Die ersten Tage, die meiner Geburt folgten, waren Tage voll freudigen und gegenseitigen Entdeckens- und Kennenlernens. Meine Eltern behüteten mich und sorgten sich hingebungsvoll um mich. Anfangs schlief ich in ihrem Zimmer in einer kleinen Wiege, die mit blauem Samt ausgekleidet war. Und so benötigte es nur einiger Tage, bis meinen Eltern auffiel, dass mit mir etwas nicht stimmen konnte. Meine Mutter mochte später nie genau erklären, wie sie zu dieser Erkenntnis gelangt sind, doch heute kann ich es mir gut vorstellen. Die Besonderheit, die mir eigen war und die sich gleich nach meiner Geburt bemerkbar machte, war nämlich die, dass ich jeden zweiten Tag komplett durchschlief. Mein Vater erzählte mir einmal, dass es eigentlich nicht nach Schlaf aussah, sondern vielmehr nach einer Art komatösem Zustand. Abends legten sie mich ins Bettchen, wo ich meistens noch eine Weile schrie oder einfach vor mich hin brabbelte. Ab Mitternacht wurde ich dann schlagartig still, bewegte mich nicht mehr und reagierte nicht mehr auf mein Umfeld. Mein Puls verlangsamte sich und mein Atem wurde langsam und flach. Anfangs, so beschrieb es mir mein Vater, habe meine Mutter geglaubt, ich sei an plötzlichem Kindstod gestorben. Doch dann, nachdem beide minutenlang in gebeugter Haltung über mich und meinem Bett gewacht hatten, bemerkten sie meinen kleinen Bauch regelmäßig auf- und niedersinken, und sie wussten, dass ich noch lebte. Damals konnten sie noch nicht verstehen, wo meine Seele an jenen Tagen des Tiefschlafs war, an denen ich leblos in meinem Bettchen lag. Gegen Anbruch des darauf folgenden Tages wurde ich dann plötzlich quicklebendig, fing an zu schreien, forderte meine Nahrung und Streicheleinheiten ein.
Nachdem meine Eltern wiederholt Zeuge dieses wunderlichen Vorfalls und des sonderbaren Benehmens ihres kleinen Sprösslings geworden waren, packte mich meine Mutter in dicke Decken eingewickelt in einen Tragekorb und suchte mit mir einen Kinderarzt auf. Sie schilderte ihm mein ungewöhnliches Verhalten, meinen merkwürdigen Schlafrhythmus. Daraufhin wurden meine Reflexe getestet, ich selbst wurde von Kopf bis Fuß untersucht, gewogen und gemessen. Schließlich erklärte ihr der Arzt, er könne nichts Verdächtiges an mir feststellen, ich besäße alle nötigen Kompetenzen und würde mich großartig entwickeln.
Auf die Frage meiner Mutter hin, was es mit meinen sogenannten ‚Aussetzern‘ auf sich haben könnte, zuckte dieser lediglich mit den Schultern. „Er ist noch sehr jung, da ist es normal, dass er viel Schlaf braucht. Machen Sie sich keine Sorgen, der Kleine ist rundum gesund!“, versuchte er meine Mutter zu beruhigen. Doch jeder, der meine Mutter kannte und auch heute noch kennt, weiß, dass diese Antwort sie nicht zufriedenstellen konnte. Sie wusste jedoch nicht, was sie auf die Diagnose des Arztes hätte entgegnen sollen, und so packte sie mich wieder in die Decke und brachte mich nach Hause. Dies war an einem Tag, an dem ich wach war, und so bekam ich, nachdem ich wieder in meiner gewohnten Umgebung war, mein Fläschchen Milch, die ich mal gierig, mal im Halbschlaf bis auf den letzten Tropfen leerte. Dann wurde ich in meine Wiege gelegt, gut versorgt für meinen bevorstehenden 24-Stunden-Schlaf.
Dem Pflänzchen war kalt, obwohl es mittlerweile Anfang Juni war und die dicken Regenwolken einer wärmenden Sonne gewichen waren. Es war immer noch sehr dürr und zerbrechlich, doch in den letzten Wochen hatte es an einigen Zentimeter zugelegt. Es kam mittlerweile auf die doppelte Größe der benachbarten Grashalme und hatte so einen guten Überblick über die gesamte Grünfläche, die es umgab. Die Wiese, auf welcher das Pflänzchen seinen Lebensraum gefunden hatte, war groß. Dicke Eichen standen dort vereinzelt und warfen lange Schatten auf die heimischen Gräser. Das Pflänzchen sah sehnsüchtig zu ihnen auf. ‚Ich wünschte, ich wäre auch so groß und mächtig wie diese Bäume. Dann bräuchte ich mir keine Gedanken ums Überleben zu machen. Dann hätte ich keine Feinde mehr, sondern könnte sorglos meinen nahrhaften Boden genießen. Das Wasser, das mir zu Verfügung steht, könnte ich unbekümmert in meinen Wurzeln speichern und das Leben, mit allem was es mir bietet sowie den Herausforderungen, die es mir stellt, mutig und erhobenen Hauptes annehmen.‘, dachte es und seufzte. Da spürte es ein sanftes Kribbeln an seinem Stiel und sah an sich herab. Eine winzige Ameise war auf dem Weg zu den kleinen, hellgrünen Blättern des Pflänzchens und krabbelte unentwegt an ihm hinauf. ‚Was will denn die von mir?‘, beäugte das Pflänzchen die Ameise argwöhnisch. Es wusste, dass seine Überlebenschancen nur minimal sein würden, sollte es von anderen Lebewesen angegriffen werden, und so versuchte es, sich von allen und allem fernzuhalten, wen und was es nicht kannte. Es versuchte, die Ameise abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich näherte sich den beiden mit Riesenschritten eine mächtige Gestalt, ein Lebewesen, welches dem Pflänzchen zwar bekannt vor kam, es jedoch nicht gleich einordnen konnte. Es wusste nur, dass die Ameise sowie es selbst sterben würden, sollte dieses riesige Wesen durch sie hindurchstapfen. Die Gestalt näherte sich unaufhaltsam, bei jedem seiner Schritte erzitterten die Blätter des Pflänzchens. Dieses war sich gewiss, dass es nun, nach so kurzer, schwer erkämpfter Existenz, sterben müsse. Auf wunderbare Weise wurde es jedoch nur von dem rechten der beiden Füße, die dieses große Ding zur Fortbewegung benutzte, gestreift. Somit wurde es gleichzeitig von der ihr lästigen Ameise befreit, die durch die Bewegung rückwärts zu Boden gefallen war. Das Pflänzchen beobachtete die große Kreatur, die sich nun von ihm entfernte. ‚Das könnte ein Mensch gewesen sein …‘, dachte es, ohne jedoch zu hinterfragen, woher es den Namen dieses Geschöpfes überhaupt kannte. Es war ein Mensch, das genügte ihm fürs Erste.
Ich wuchs zu einem kleinen, strammen Burschen heran, und an den Tagen, an denen ich wach war, begleitete ich meine Mutter bei ihren Einkäufen im Supermarkt und ihren Spaziergängen im Wald. Diese Tage sind mir als wunderschön und sehr gefühlsintensiv in Erinnerung geblieben, ich war meiner Mutter nah, interessierte mich für sie und sie interessierte sich für mich. Sie nannte mir die Namen der verschiedenen Pflanzenarten, auf die wir im Wald stießen, und erklärte mir deren Herkunft sowie die Heilkräfte, die ihnen zugeschrieben wurden. Sie machte mich auf die verschiedenen Vögel aufmerksam, die auf den Baumkronen saßen und bei unserem Näherkommen hektisch zwitscherten, sowie die Eichhörnchen, die neugierig aus ihren Verstecken lugten. Abends, nachdem mein Vater von seiner Arbeit in der Plastikfabrik nach Hause kam, saßen wir alle versammelt am Küchentisch, aßen und sprachen über unsere Erfahrungen und Begegnungen des Tages. Obwohl ich meinem Vater ansehen konnte, wie müde und erschöpft er war, nahm er sich dennoch immer Zeit für mich und lauschte interessiert meinen Berichten, die ich ihm aufgeregt erzählte. Nach dem Essen schickte meine Mutter mich dann zu Bett, jeweils begleitet von schier unendlichen Verhandlungen. Ich wollte nicht ins Bett, sondern wollte noch etwas in der Wärme und Geborgenheit meiner Eltern vor dem Fernseher sitzen. Doch meine Mutter ließ sich nie erweichen, und so ging ich manchmal mit Tränen in den Augen, manchmal mit Schmollmund zu Bett, in dem ich dann trotz meines Wunsches wach zu bleiben langsam und sanft ins Reich der Träume glitt und für die nächsten 24 Stunden meine physische Hülle verließ, um in das Wesen eines anderen von der Natur geschaffenen Geschöpfes zu schlüpfen.

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