... und schweigend fällt der Schnee

... und schweigend fällt der Schnee

Band 1

John Martin


EUR 21,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 190
ISBN: 978-3-99107-375-8
Erscheinungsdatum: 28.01.2021
Sieben Kurzgeschichten: philosophische Fragen in Diskurs und Monolog, lyrisch reflektierte Gedanken. Gebet und Predigt über Gott, Religion, Kirche und Bibel. Kurz vorm menschlichen Abgesang ins ewige Licht, friedvoll, winterlich still und verschneit.
Das Licht

Langsam öffnete sich die eine der beiden Seitentüren, die sich gleich neben dem mächtigen zweiflügeligen, auf Rollen gelagerten Eingangstor befand, und ein Mann trat heraus.
Kurz blieb er stehen, stellte sein Gepäckstück ab und schaute umher. Danach nahm er seinen Trolley wieder zur Hand und ging hinunter zur nahe gelegenen Straße, verweilte dort einen Moment, um nach der nächsten Bushaltestelle zu suchen, die er dann auch nicht allzu weit von ihm entfernt entdeckte. Dort blieb er als einzig Wartender stehen und schaute zurück, zurück zu dem ausgedehnten, in der beginnenden Dunkelheit irgendwie bedrohlich wirkenden Gebäudekomplex.
Lebenslang, dann doch nur fünfundzwanzig Jahre hatte er – als gleichsam Staatsgast – dort verbracht! Fünfundzwanzig Jahre seines Leben, gesetzlich ausgesondert, weggesperrt, um für die in Freiheit lebenden Menschen keine Gefahr mehr darzustellen. So das damalige Urteil!
Es war wohl ein österliches Wunder gewesen, dass der wahre Schuldige am Ende seines Lebens seine Tat eingestanden hatte. So wurde dem unschuldig Verurteilten die Freiheit, die ihm vor fünfundzwanzig Jahren bewusst genommen worden war, wiedergegeben.
Nicht nur die Geschworenen, sondern auch der Staatsanwalt nebst Anwalt des Opfers und der Richter hatten damals nach einem Schuldigen gesucht, ihn gefunden und dann beinahe einstimmig verurteilt.
Solch ein charakterloses viehisches Schwein – so die damalig einhellig vertretene Meinung –, natürlich auch kräftigst unterstützt von den sich immer wieder daran begeilenden Medien, gehört doch wohl lebenslang hinter Gitter! Nicht?
Fünfundzwanzig Jahre seines Lebens hatte man ihm wissentlich genommen! Diese lange Zeit durfte er in dem mächtigen, mit hohen Mauern und Stacheldraht umgebenen Hochsicherheitsgebäude verbringen. In einem großen Gebäudekomplex, das früher Zuchthaus, dann Gefängnis und nun – da man ja mit der Zeit gehen wollte – Justizvollzugsanstalt hieß!
Obwohl immer wieder Zweifel an seiner Schuld bestanden hatten, war es seinem Verteidiger trotz vieler Petitionen nie gelungen, das Verfahren neu aufzurollen. Die Macht des Staates, genauer gesagt, die Macht der Staatskirche hatte dies immer wieder zu verhindern gewusst, denn diese selbst definierte, daher gottgewollte Hierarchie wusste genau, dass sich der eigentliche Schuldige in ihren Reihen befand.
Einen hohen Würdenträger, einen erkrankten Mitbruder konnte man doch nicht der staatlichen Justiz überantworten! Denn schließlich gab es da ja das heilige Beichtgeheimnis, das es zu wahren galt, das jegliche Wissenspreisgabe an die staatliche Obrigkeit verbot.
Das ließ natürlich die Frage aufkommen, ob vor dem Gesetz wirklich alle Menschen gleich sind. Nun ja, das ist so eine Sache mit der Gleichheit, und wie ja alle wissen, ist Papier, auf dem dieses Grundgesetz niedergeschrieben steht, geduldig. In diesem Zusammenhang wird auch gerne darauf hingewiesen, dass vor Gott doch alle Menschen gleich seien. Vor Gott – wenn es denn so sein sollte! Doch wohl nicht hier auf Erden! Nicht?
Egal, wie auch immer! In ein paar Hundert Jahren würde man vermutlich nicht nur diese, sondern auch andere schwer beladene Akten aus dem staatskirchlichen Archiv für die wissenschaftliche Aufarbeitung freigeben.
Aber, wer, ja wer würde sich dann noch an Tobias Rinder und an seinen Fall erinnern können? Wohl niemand! Warum auch? Er war doch nur einer von etwa sieben oder acht – und wenn es ungebremst so weitergeht –, von neun Milliarden Menschen, da in den sogenannten Drittländern Familienplanung oder gar der verantwortungsvolle Umgang mit der Sexualität wahrhaftig ein Fremdwort ist.
Nach dem Motto, dass sich die so liebe Gottheit ja sowieso und sicherlich um die vielen neugeborenen Todeskandidaten kümmern würde, wurde ungehemmt weitergeschwängert, gewollt oder ungewollt, freiwillig oder mit Gewalt, denn Gott will es ja! Nicht?
Und in der Causa Tobias Rinder? Nun, das war so eine Sache mit diesem Fall!
Und doch! Von seltsamen Gewissensbissen gepeinigt gestand der wahre Täter viele Jahre später – am Ende seines Lebens – seine Tat dann doch ein, die er vor zwei Anwälten schriftlich niederlegte, und verfügte danach, dass erst nach seinem Tod sein Geständnis nicht nur der Justiz, sondern auch zu gleicher Zeit den öffentlichen Medien zugänglich gemacht werden müsse, wissend, dass sonst seine kirchlichen Oberaufseher dies zu verhindern gewusst hätten.
Doch gegen die Macht der Medien war auch eine Staatskirche machtlos. Da half kein Gesabber oder Gesülze von den geistlichen Kirchenfürsten, egal welche Nebenjobs sie im Staatsapparat auch innehatten oder mit welchen Politfrauen sie auch innige Kontakte der Nächstenliebe zu pflegen vermochten.
Wo Menschen sind, wo Menschen arbeiten, geschehen eben immer wieder Fehler. Ob wissentlich oder unwissentlich – egal –, es blieben und bleiben Fehler!
Erstaunlicherweise fand er in den Jahren als Zellengast heraus, dass auch Religionsgemeinschaften der Welt diesen so menschlichen Fehlern anheim fielen!
Der jeweilige Gott schien hier wohl nicht ausreichend darüber nachgedacht zu haben, als er diese so eigenartigen Institutionen unter seinem Namen gewähren ließ, sofern ihm dies überhaupt zur Kenntnis gebracht wurde.
Nun ja, wissen sollte die Gottheit dies eigentlich schon, denn sonst wäre die sogenannte Allmacht doch nicht so allmächtig!, befand er damals, als er sich Schritt für Schritt in religiöse Schriften zu vertiefen begann. Denn Zeit hatte er ja mehr als genug!
Nach jahrelangem Studium der monotheistischen Religionen kam er dann zur Erkenntnis, dass diese drei Gottheiten offenbar so gar keine Ahnung zu haben schienen, was ihre Geschöpfe, besonders ihre sogenannten Vertreter hier auf Erden in und unter ihren Namen so alles anstellten! So war es auch seltsam menschlich vertretbar, dass sogar ein allmächtiger moslemischer Ajatollah neben Tausenden von Unschuldigen auch zwei kleine Kinder im Alter von drei bzw. fünf Jahren mit ihren verdammungswürdigen Eltern gemeinsam hinrichten hatte lassen, nach dem bewährten Motto: mit gehangen –
mit gefangen!
Der Fairness halber sei jedoch angemerkt, dass es in diesem Falle nicht sicher war, ob auch hier der verehrungswürdige, altehrwürdige, über seinen Anhängern stehende, fast heilige Ajatollah tatsächlich sein Todesurteil über die beiden Kleinen ausgesprochen hatte. Aber in solchen Positionen interessierten Einzelschicksale – auch wenn es Kinder betraf – einen so gar nicht! Man hatte ja nach höheren Zielen zu streben, als sich mit solchen Unbedeutendheiten auch nur gedanklich zu befassen! Es darf deshalb angenommen werden, dass möglicherweise seine unmittelbaren Nachgeordneten diesen paradiesischen Weggang für die beiden kleinen Kinder angeordnet und auch freigegeben hatten.
Unbeschadet all dieser entsetzlichen Vorkommnisse, die selbstverständlich nur im Namen des jeweiligen Gottes verübt werden konnten, stellte er sich lange Zeit in seiner Zellenwohnung die Frage, ob es diese so allmächtigen Gottheiten vielleicht gar nicht wirklich gab, sondern nur in den diversen, manchmal sogar perversen Fantasie- oder Glaubenswelten bestimmter Menschen vorhanden waren.
So wurde es für ihn auch einleuchtend, dass außerhalb einer Religion ein oder der dafür zuständige Gott gar nicht möglich sein konnte, denn Religion braucht einen Gott, um als Religion agieren zu können. Das heißt, dass eine Religion – zumindest bei den monotheistischen Religionen – immer an einen, an ihren Gott glaubend verbunden und gebunden ist. So wie ein Ungeborenes durch die Nabelschnur mit seiner Mutter.
Fehlt Gott, so gibt es auch keine von ihm oder für ihn geschaffene Religion. Und wenn es keine Religion gibt, kann logischerweise auch kein Gott vorhanden sein. Das eine bedarf eben des anderen. So wie der Penis den Mann braucht, um als Penis agieren zu können. Denn ein Penis ohne Mann? Nicht möglich! Oder doch?



Während seiner langen Haftstrafe hatte er ja auch die Möglichkeit bekommen, begreifen zu dürfen, dass aus diesen Traumwelten heraus oftmals grauenhafte reale Welten entstanden, in denen das Leben eines Einzelnen überhaupt nicht zählte, nichts wert war. Er brauchte ja nur sein Spiegelbild anzusehen!
Verlor jemand in solch einem Land sein Leben – auch wenn es nur ein Kind war! –, dann sprach man eben vom Fehlverhalten gewisser Menschen, sofern man überhaupt darüber sprach.
Man sprach natürlich dann darüber, wenn eine hochgestellte Persönlichkeit ihr Leben verlor! Über einen Einzelnen aus einer großen, großen und auch namenlosen Glaubensherde jedoch wurde kaum bis gar nicht gesprochen. Warum auch?! Die Herden waren ja immer sehr, sehr groß, sodass ein Einzelner oder einige, mehrere oder gar Tausende, die unschuldig zu Tode kamen – so wie in dem Fall der beiden kleinen unschuldigen Kinder! –, kaum bis gar keiner Erwähnung wert waren. Warum auch? Das interessierte doch niemanden! Es waren ja auch nicht die Kinder der Nichtinteressierten! Nicht?
Falsch, dachte er, während er darüber sinnierend aus seinem Zellenfenster blickte, einen sollte dies schon interessieren – nämlich Gott! Denn schließlich waren alle diese Abgemurksten ja auch seine Geschöpfe, seine Kinder. Nicht? Oder doch nicht?
Aber wie dem auch sei! So war alles wieder irgendwie stimmig. Denn auch die ausgewählten Auserwählten waren in diesem Fall auch nur Menschen.
So war und ist es verstehbar, wenn religiöse Cäsaren in ihrem Imperium von ihrer sündigen Kirche sprechen. Dass sie selbst davon ausgenommen waren, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Nicht?
So war und ist es auch einsichtig, dass nur die Nachgeordneten zu fehlerhaften Handlungen neigen können. Nicht?
Genau dieses so menschliche Fehlermachen lässt all den hohen und niederen Theologenadel in all den so heiligen Kirchen, all die hohen und niederen Imame oder Ajatollahs oder all die Rabbiner, ob Ober- oder Unterrabbiner, und weitere aus anderen Religionen auch so seltsam menschlich erscheinen.
Unglaublich, aber wahr!
Ja sogar all diese seligen oder heiligen, ja gottähnlichen Religionscäsaren waren Menschen. Irgendwie! Über den menschlichen Prozentsatz in ihnen war man sich jedoch nicht einig, da diese Auserkorenen ja auch als heilig galten und noch immer gelten. Und wer als heilig galt, der konnte doch unmöglich ein 100%iger Mensch sein! Nicht?

Man kann aber am „Fehlermachen“ trotzdem erkennen, dass in all diesen Glaubensgemeinschaften tatsächlich diese Kirchenfürsten auch als Menschen existieren, sich allerdings ihrem Sendungsbewusstsein gemäß – wenn schon unbedingt als Mensch – niemals als gewöhnliche Menschen betrachten.
War doch irgendwie – natürlich aus glaubender Sicht heraus – logisch, befand er!
Nicht nur damals, sondern auch später und vermutlich auch noch heute, wenn er jetzt darüber nachdenken würde.



So hatte eben dieser schuldbeladene Sohn seiner mächtigen religiösen Glaubens- und Finanzgemeinschaft auch seine Sünden bekannt, Buße getan, sich danach in einem kirchlich geleiteten Sanatorium behandeln lassen, um dann so gereinigt sein Leben bis ans Ende seiner Tage auf Kosten eines Schuldlosen, eines Inhaftierten, eines zu lebenslanger Haft gleichsam Verdammten neu auszurichten, neu beginnen zu können, das dann beinahe fünfundzwanzig Jahre andauerte! Gelobt sei Jesus Christus! In Ewigkeit, amen! Und nochmals, amen!
Was zählte da der andere, der lebenslang – dann doch nur fünfundzwanzig Jahre! –, unschuldig dafür zu büßen hatte? Nichts! Nicht hier auf Erden, aber auch nicht anderswo, wo immer das „anderswo“ sein mochte! Denn um in das „anderswo“ zu gelangen, musste man zuerst sterben! Und da war es fraglich, ob sich „dort“ noch jemand für seinen Fall interessieren würde. Denn niemand – außer den Glaubensfürsten natürlich! – wusste, wo das „anderswo“ wirklich war, sofern es je wirklich wahr war!
Damals hatte er oft über das „anderswo“ nachgedacht, bis er etwas verbittert zu dem Schluss kam, dass er sein „anderswo“ nur in seinem Popo finden konnte! Aber da war seine Suche ja unmöglich. Denn wie sollte er in seinen Allerwertesten gelangen?



Vielleicht galt er, der unschuldig Inhaftierte, jetzt schon als Märtyrer! Aber Märtyrer gab es ja schon so viele. Und in dieser geschichtlich geprägten Liste schien die Anzahl der dort angeführten Menschen – meist Namenlose – schier endlos zu sein.
Doch als Märtyrer würde er wohl niemals von diesen seltsamen Glaubenstrusten anerkannt werden. Schließlich galten in diesen sinnwidrigen Institutionen andere Voraussetzungen, um als ihr Märtyrer in ihren heiligen Listen aufscheinen zu dürfen! Man musste freiwillig – oder aber auch nicht freiwillig – bereit sein, für diese in diesen Glaubensgemeinschaften aufgestellten Regeln sein Leben hinzugeben, gleichsam zu Dumpingpreisen zu verschleudern.
Irgendwie einleuchtend, denn schließlich waren ja alle Angehörigen dieser Religion auch Diener ihres Gottes. Und ein Diener hatte eben bedingungslos zu dienen und nicht zu denken! Darum galt er ja auch als Diener seines Herrn!
Aber, wer, ja wer kannte all diese für ihn so lebensverachtenden Menschen? Niemand, vermutete er. Denn es interessierte auch niemanden, wer, wann, für wen oder für was dieser oder jener sein Leben hier auf Erden gleichsam vergeudet hatte.
Vielleicht erinnerte sich doch hin und wieder irgendeiner. Und wenn, dann aber sicherlich nur für einen kurzen Augenblick. Es sei denn, die sensationsgeilen Medien pflegten die Taten dieser Auserwählten! Schließlich brachten die so mehrmals aufgewärmten Erinnerungsbreie eine mögliche Erhöhung der Einschaltquoten mit sich, und das bedeutete wiederum Geld. Man brauchte ja nur auf die vorherrschenden niederen Instinkte der Zusehenden hinzuzielen, und schon klingelte die Kasse wieder!
Es wäre ja wirklich seltsam, und man müsste schier an seinem Glauben zu zweifeln beginnen, wenn die Gottheiten diesen ihren Märtyrern – ihren Dienern, die ihr Leben ja durch ihre Verschleuderungs- oder Aufopferungsakte ausnahmslos ihren Gottheiten gewidmet hatten – dasselbe nicht mit paradiesischen Milch- und Honiggeschenken ewig versüßen würden! Nicht?



Damals in seiner Zelle hatte er es sich ausgemalt, wie all diese Wonnen aussehen könnten! Den keuschen Weibern oder den Märtyrerinnen würde eine schier endlose Dauer sexueller Befriedigungen durch die niemals nachlassende Potenz bulliger Engel winken! Denn potenzlose oder die nie zum Zuge gekommenen Zölibatäre oder gar die Märtyrer würden dort ultrageile weibliche Engel erwarten, die ihnen alle nur erdenklichen Wünsche ohne Unterlass, bis in alle Ewigkeit, erfüllen würden!
Doch leider, leider kamen ja von dort niemals Rückmeldungen, sodass einem ja unseligerweise nur die Selbstbefriedigung oder der Glaube an diese Möglichkeiten blieb, dass es das „dort mit all den Wonnen“ vielleicht doch geben könnte. Und wenn nicht? Ja, was war dann?
Nun ja, von den Verstorbenen war leider, leider nichts zu erfahren, da sie ja verstorben waren! Leider! So blieb eben nur die Selbstbefriedigung – für Gebildete auch Masturbation genannt – oder ein Besuch in einem Bordell oder der Glaube an diese Wonnen. Und glauben konnte man ja alles! Nicht? Amen!
Die Medien berichteten „geschmacklich aufbereitet“ über all diese Selbstlosen, wenn es für die Einschaltquoten interessant genug war. Der Einzelne las, hörte oder sah zu! Aber, ob er all das auch verstand? Wie dem auch sei! Es gab ja wichtigere Dinge im Leben, als sich gedanklich mit solch seltsamen Menschen, solchen Spinnern zu beschäftigen, deren Taten ja vollkommen sinnlos erschienen, außer natürlich für jene, die hinter dieser Droge namens Fanatismus standen, die diese Droge ständig auf- und zubereiteten, um sie sodann diesen ihren leichtgläubigen und willensschwachen Anhängern in Form von zukünftigen paradiesischen Freuden einzuimpfen. Denn schließlich hatten diese ihre Idioten hier auf Erden ja sowieso nichts mehr zu erwarten. Sie kamen ja aus der menschlichen Müllhalde, wo sowieso kein menschenwürdiges Leben möglich war. Daher war es doch viel sinnvoller, sein gleichsam verpfuschtes Leben edleren Werten zu opfern. Also auf zur Schlachtbank! Halleluja! Da war es vollkommen belanglos, ob auch Kinder und Jugendliche geopfert wurden. Dort, wo noch ein kindliches Zögern zu erkennen war, da halfen eben Eltern, Verwandte und Bekannte aus, um solche missionarischen Bedürfnisse auch unbedingt in die richtigen Bahnen – mit mehr oder minder „liebevoller“ Gewalt – zu lenken oder diese aufzuzeigen, auf denen die jungen Ausgewählten dann gehen durften.
So indoktriniert, geistig betäubt, war man dann auch zu allem fähig. Winkte doch als Lohn ewige Glückseligkeit und noch vieles mehr! Und das verstanden doch all die, die von ihrem Gott auserwählt wurden. Nicht?

Erstaunlich fand er es immer wieder, dass nur diese Religionsfürsten so genau über die paradiesischen Freuden Bescheid wussten. Um nicht zu sehr erstaunt darüber zu sein, begann er sich Fragen über Fragen zu stellen.
Um wirklich Bescheid zu wissen, muss ich doch Kenntnis davon haben! Um aber wahre Kenntnis gewinnen zu können, sollte ich zumindest einmal vor Ort, also am Ort des Geschehens, also im Paradies gewesen sein! Doch konnte dies überhaupt sein? Er fand, dass dies niemals möglich sein konnte. Denn um zu diesen paradiesischen Ortschaften zu gelangen, musste man sich zuerst von seinem Leben verabschieden, und das für immer! Danach stand dann auch noch die Reise durch dieses saukalte Universum an, wo angeblich eine Temperatur von –273 °C vorherrschen sollte!
Oder gab es für all diese Glaubensfürsten private Einsehmöglichkeiten in das jeweilige Paradies, die den einfachen Glaubenden vorenthalten blieben? Wenn dem so war, dann konnte man doch wohl mit Fug und Recht nicht von der Gleichheit der Menschen sprechen!
Nun ja, nicht so ganz, denn während seiner Studien betrachtete er auch die Steigerungsstufen von gleich, und so ergab sich für ihn: „gleich – gleicher – am gleichsten“. Das bedeutete für ihn, dass das Wort gleich doch in allen drei Stufen vorhanden war. Es wurde nur gesteigert! Also sind doch alle Menschen – in der Grundstufe zumindest – gleich! Zumindest vor Gott, wenn es denn so ist. Nicht? Oder doch nicht?
Aber wie dem auch sei, für ihn nahm es nicht wunder – denn die Geschichtsdaten belegten es auch sehr anschaulich –, dass auch noch heute bestimmte religiöse und führende Altvordere den Vergleich: Führer befiehl, wir folgen dir!, sehr gerne nicht nur in ihren Erinnerungen aufriefen, sondern auch wachhielten. Amen!
Und doch gab und gibt es tatsächlich Menschen, die diesen Titel Märtyrer auch wirklich verdienen würden. Es war und sind stille Menschen, über deren Selbstaufopferung kaum bis gar nicht berichtet wurde. Er brauchte da nur an seine verstorbene Mutter zu denken!
Wen interessierte das, wenn eine Mutter ihr Leben für ihr Kind oder für ihre Kinder hingab, damit diese weiterleben konnten? Oder wenn eine Mutter wusste, dass ihr einziges Kind unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ohne wirklich helfen zu können? Welche Qualen solch eine Mutter Tag für Tag durchleiden musste, kann wohl niemand verstehen. Aber interessierte dies irgendjemanden? Niemanden!
Falsch!, fand er. Natürlich all diese Gottheiten, die ja aus ihren transzendenten Residenzen – nach dem Motto: „Big Brother is watching you“ – auch alles sahen und in grenzenloser, selbstverständlich göttlich-transzendenter Liebe ihren Geschöpfen zugetan waren.
Aber in welcher Form sie ihr Zugetansein kundtaten, das, ja das war die eine Frage, die immer in ihrem Fragestatus verweilen würde! Nicht?
Hier auf Erden – und leider so unendlich weit, weit weg von all diesen so seltsamen göttlich-transzendenten Liebesformen – waren solche menschlich-rührseligen Storys ja kaum zu vermarkten, im Gegensatz zu den Sensationsberichten, die diese Fanatiker und Selbstmordattentäter, ob jung, ganz jung oder alt, freiwillig oder gezwungen gleichsam – und das immer wieder! – frei Haus lieferten!

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