Treppenlift nach Schottland

Treppenlift nach Schottland

Suche nach den wahren Wurzeln

Andrea Seyfried-Artner


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 442
ISBN: 978-3-99107-468-7
Erscheinungsdatum: 18.02.2021
Simones Leben läuft in geordneten Bahnen, doch sie hinterfragt, ob ihre vorgegebene Zukunft wirklich ihren eigenen Wünschen entspricht. Als sie eines Tages ein Foto findet, stellt sich plötzlich ihr komplettes bisheriges Leben auf den Kopf.
I
VERÄNDERUNG

Nachdenklich betrachtet Simone das Foto von sich und Ulrich, auf dem sie einander verliebt anlächeln. Sie hat es sich auf dem Sofa in seiner Wohnung gemütlich gemacht, um die sorgfältig geplante Schottlandreise nochmals zu prüfen. Ihre Mutter Lotte hat ihr die Liebe zu diesem Land vererbt, und in wenigen Wochen wird für Simone der Traum von Schottland zur Wirklichkeit. „Warum nur kann ich mich nicht darauf freuen?!“, überlegt sie stirnrunzelnd und legt die Unterlagen beiseite.
Es liegt wohl an Ulrichs Zukunftsplänen, mit denen sie sich ganz und gar nicht anfreunden kann. Während des gemeinsamen Medizinstudiums war alles so einfach. Sie haben ein gemeinsames Ziel gehabt, ein gemeinsames Zuhause, eigentlich das von Ulrich, in dem sie sich aber sehr wohlfühlt – und das, obwohl die Altbauwohnung in der Stadt liegt, mit all dem hektischen Treiben, dem ungeduldigen Hupen nervöser Autofahrer sowie dem Quietschen und Rattern der Straßenbahn. Eigentlich sehnt sie sich schon lange nach einem Häuschen im Grünen, in ruhiger Lage mit abgasfreier Luft, wo sie ihrem Hobby, dem Laufen, nach Lust und Laune nachgehen könnte. Aber Ulrich hat sich gegen Ende des Studiums nur mehr für eine allgemeinmedizinische Praxis in Hietzing interessiert. Noch hält sie an ihrem Traum vom Wohnen auf dem Land fest, denn trotz der vielen leer stehenden Praxen in der Stadt – Wer will heute schon praktischer Arzt werden? – muss er erst einmal geeignete Räumlichkeiten in Hietzing finden.
Ulrichs Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. „Schatz, ich habe endlich das Richtige gefunden und den Mietvertrag auch schon unterschrieben!“ Ein breites Grinsen unterstreicht seine gute Laune und steht in krassem Gegensatz zu Simones Stimmung, die durch Ulrichs Nachricht weiter in den Keller sinkt. Sie löst sich aus seiner euphorischen Umarmung. „Und was wird aus unserer Schottlandreise?“ Simones Blick richtet sich wehmütig auf die drei Reiseführer, die neben dem Routenplan und ihrem Laptop auf dem Tisch liegen. „Der ganze Aufwand soll umsonst gewesen sein?“
Etwas ärgerlich versucht Ulrich seiner Freundin nochmals klarzumachen, wie perfekt die Räumlichkeiten für seine Pläne geeignet sind. „Ich konnte mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen! Du weißt, dass ich Massage und Akupunktur dazunehmen will, da der praktische Arzt, wie ja allgemein bekannt ist, nicht zu den Spitzenverdienern zählt. Und diese Ordination hat genau die richtige Größe und liegt noch dazu in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung. Etwas Passenderes, bezüglich Lage und der notwendigen Anzahl der Behandlungszimmer, wird sich nicht finden. Da musste ich einfach zugreifen und kann auf Schottland keine Rücksicht nehmen!“ Womit Ulrich seine Teilnahme an Simones liebevoll zusammengestellter Reise endgültig vom Tisch kehrt.
Nun hat er es also doch geschafft, während sie noch immer an die gemeinsame Schottlandreise geglaubt hat, obwohl sie schon lange kein gutes Gefühl mehr dabei hatte! Eine Vorahnung, die nun eingetroffen ist. Dabei sollte ihr Berufsleben, das sich Simone seit geraumer Zeit schon etwas anders vorstellt als Ulrich, erst nach diesem Urlaub beginnen. Sie hat bisher gehofft, Ulrich mit weiblichem Charme doch noch für ein Landleben und den ungleich anstrengenderen Job des Landarztes zu gewinnen. Sie ist Idealistin geblieben und kann sich die mühseligen Hausbesuche und vor allem auch die Eigenständigkeit in diesem Beruf sehr gut vorstellen. Ulrich hingegen liebt die Teamarbeit und möchte seine Ordination mit Zusatzangeboten, die natürlich weitere Mitarbeiter erfordern, lukrativer machen als andere. Wenn es ihm so sehr um den Gewinn geht, hätte er ihrer Meinung nach allerdings eine Facharztausbildung machen und an eine Privatpraxis denken müssen. „Aber diese Reise sollte unser erster längerer Urlaub nach den wunderbaren, aber auch anstrengenden Studienjahren werden!“ Noch will sich Simone nicht geschlagen geben, und der vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
„Du kannst ja fahren, während ich die Renovierung der Ordination und alles Notwendige organisiere, um so rasch wie möglich starten zu können. Dein Bereich, die Akupunktur, muss ja nicht sofort angeboten werden“, versucht Ulrich einzulenken.
„Meinen Bereich hast du also auch schon festgelegt und bestimmst damit schon wieder einmal über mich und mein Leben! Warum kannst du nicht akzeptieren, dass ich eigene Vorstellungen habe und den mir zugeteilten Aufgabenbereich vielleicht gar nicht will? Auch ich liebe den Beruf des praktischen Arztes, allerdings auch die Natur und das Landleben. Ich sehe meinen Wirkungsbereich daher nicht in der Stadt, was ich dir auch schon mehrmals klarzumachen versucht habe. Und von der Arztpraxis im Wienerwald, auf die mich mein Bruder aufmerksam gemacht hat, habe ich dir auch schon oft erzählt. Genau das wäre mein Traum! Daher habe ich deinen Überlegungen für mich niemals zugestimmt. Wir sind nun einmal zwei verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen“, ereifert sich Simone. Ulrich hat schon immer gerne über sie bestimmt, aber jetzt geht er eindeutig zu weit.
Ulrich ignoriert ihre Worte aber komplett und macht weitere Pläne. „Wenn du zurückkommst, suchen wir ein Häuschen auf dem Land, damit du am Wochenende deine geliebte Natur genießen kannst. Solltest du allerdings meine Idee der Gemeinschaftspraxis ablehnen und dich für die Tätigkeit auf dem Land entscheiden, müssten wir eine Wochenendbeziehung führen, und das kann wohl auch nicht in deinem Sinne sein.“ Er verlangsamt seine ruhelosen Schritte und bleibt, mit einer hektischen Handbewegung durch sein Haar fahrend, am Fenster stehen. Liebevoll betrachtet er das Treiben am Hietzinger Platz. „Mein Zuhause ist nun einmal hier, und finanziell schaut es mit einer florierenden Gemeinschaftspraxis in der Stadt auch besser aus“, träumt sich Ulrich weiter in seine Zukunft hinein.
Schon langsam platzt Simone der Kragen. Sie versucht ihren Freund aber trotzdem noch einmal zurückzuholen. „Wo ist nur mein Idealist von einst geblieben? Schade, dass du bereits jetzt den Gewinn und nicht mehr deine ärztliche Tätigkeit vor Augen hast. Es geht einfach nicht nur um das Wohnen, sondern auch um die Einstellung des Arztes zu seinem Beruf. Und da sind wir wohl auch sehr unterschiedlicher Meinung.“ Etwas nachdenklicher, als hätte sie sich gerade noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, fügt Simone hinzu: „Welche Gemeinsamkeiten – außer dem abgeschlossenen Medizinstudium – haben wir eigentlich noch? Oder hat es die nie gegeben?“
Ulrich ist weiterhin abwesend und schaut mit verträumtem Blick zum Fenster hinaus. Wahrscheinlich hätte er sowieso nicht verstanden, was sie ihm sagen will. Simone schüttelt resigniert den Kopf. „So kann das mit uns nicht weitergehen. Du lebst in deiner eigenen Welt mit deiner Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft, die nicht die meine ist. Wahrscheinlich bin ich dir nicht mehr wichtig genug, wenn du mich nicht ernst nimmst und mir nicht einmal mehr zuhörst! Sieht so das Ende unserer Beziehung aus?“ Als wollte sie seiner Antwort zuvorkommen, folgt sie einer plötzlichen Eingebung und geht entschlossen mit ihrer Tasche unter dem Arm zur Tür. „Ich werde Dr. Marold noch heute zusagen. Er wird sich bestimmt freuen, eine Nachfolgerin für seine Landpraxis gefunden zu haben!“
Beim Verlassen der kühlen Altbauwohnung sind ihre Gedanken schon im Grünen, bei dem duftenden Kräutergarten rund um das idyllisch gelegene Häuschen von Dr. Marold und den lauen Sommerabenden, die sie in Zukunft nicht mehr in der Hitze der Stadt verbringen wird.
Simone kann es selbst kaum fassen. Sie hat tatsächlich den ersten Schritt getan und Ulrich mit seinen Zukunftsplänen allein gelassen. Es ist ihr überraschend leichtgefallen, sie fühlt sich gut und irgendwie auch befreit. Sie ist zwar ohne Zahnbürste aufgebrochen, aber da sie mit ihrem beige-metallic farbigen Mini Cooper unterwegs ist, kann sie unterwegs noch einkaufen. Das Angebot von Dr. Marold, einem netten älteren Kollegen, seine Praxis zu übernehmen, hat sie von Anfang an gereizt. Aber Ulrichs Plan, sich in Hietzing beruflich zu etablieren, hat sie zögern lassen, obwohl ihr der Gedanke an ein Leben in der Stadt nie gefallen hat. „Es hat sich alles schon länger angebahnt“, erinnert sich Simone an die vielen Momente, in denen sie ihre Beziehung hinterfragt hat. Zuerst hat sie die Schuld bei sich gesucht, nun muss sich Simone allerdings eingestehen, dass sie beide ihren eigenen Weg verfolgt haben, bei dem das Wort „gemeinsam“ immer öfter auf der Strecke geblieben ist. Dass sie die geplante Reise nach Schottland nun alleine antreten muss, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Statt der zu erwartenden Wehmut über das offensichtliche Ende ihrer Beziehung ist sie voller Tatendrang. Simone ist fast ein wenig stolz darauf, diesen Schritt getan zu haben. Ulrich hat sie damit bestimmt mehr als überrascht, denn Entscheidungen hat in ihrer Beziehung immer nur er getroffen. Sie lächelt, singt ihren Lieblingssong mit, der gerade im Radio läuft, und freut sich über die wunderschöne Landschaft. Die kleine Straße führt sie in ihre neue Heimat, zu ihrem neuen beruflichen Umfeld, zu ihren künftigen Patienten und dem heiß ersehnten Gemüsegarten, den sie im Geiste schon angelegt hat. Sie kann endlich ihrer Freude an Bewegung nachgehen und sieht sich schon jeden Morgen durch den Wald laufen. Das Angebot, in Dr. Marolds Gästezimmer zu ziehen, wird sie dankend annehmen. Es ist ein geräumiges helles Zimmer, das bis zu ihrer geplanten Schottlandreise ihr Zuhause sein wird. Der Arzt will noch bis zu ihrer Rückkehr bleiben, Simone aber schon vorab seinen Patienten vorstellen.
Bei ihrem letzten Besuch bei Dr. Marold ist ihr der Schrank im Gästezimmer zwar ziemlich klein für ihre umfangreiche Garderobe erschienen, aber es wird ja einen Keller geben, wo sie ihre Sachen deponieren kann. Außerdem zieht sie in die Nähe ihres Bruders, der in seinem Haus bestimmt auch Platz für sie hat. Der Gedanke, Paul räumlich näherzukommen, hebt ihre Stimmung noch mehr. Denn nach der gemeinsamen Schulzeit, während der Simone immer von ihrem älteren Bruder beschützt wurde, haben sich ihre Wege getrennt, was allerdings nichts an ihrem guten Verhältnis geändert hat.
An ihrem Ziel angekommen, stellt Simone erfreut fest, dass die Praxis gleich neben der Bushaltestelle liegt. Auch ausreichend Parkplätze stehen zur Verfügung, und schon belegt ihr Mini eine der freien Parklücken. Obwohl es bereits später Nachmittag ist, wirkt Dr. Marolds Haus hell, freundlich und einladend. Sie bleibt noch einige Zeit im Auto sitzen, um die Eindrücke in sich aufzusaugen. Verzückt betrachtet sie die grünen Fensterläden und die farblich abgestimmten Bumenkästen, deren Inhalte in ihrer bunten Pracht um die Wette zu eifern scheinen. Am Dachgiebel sitzt ein grüner Wetterhahn, und auch der Gartenzaun glänzt in einem satten Grünton, als wäre er frisch gestrichen. Ein riesiger rosafarbener Oleander unterbricht das Weiß der Hausmauer, die das grüne Garagentor mit der Eingangstür verbindet. „Wie habe ich es nur so lange in der Stadt ausgehalten?“ Ungläubig über das bisher Versäumte steigt sie tief Luft holend aus dem Auto. Obwohl Hietzing wie eine kleine Vorstadt von Wien auf sie gewirkt hat, ist die Landluft schon etwas anderes. „Land ist eben Land“, der Geruch eines Kuhstalls steigt Simone in die Nase, „und Stadt bleibt Stadt!“
Mit dieser lakonischen Feststellung macht sie die ersten bewussten Schritte in Richtung ihres neuen Lebens. Eine Mutter mit Kind verlässt eben die Ordination, gefolgt von einem alten Mann, der sich auf einen Stock gestützt die Treppen vor dem Haus herunterbemüht. „Da sollte ich vielleicht einen behindertengerechten Aufgang machen“, plant sie schon etwaige Verbesserungen. Neben dem Gemüsegarten bereits der zweite Punkt, den sie in Angriff nehmen möchte, wenn sie aus Schottland zurück ist. Und schon schwirrt wieder das Problem des fehlenden Reisepartners in ihrem Kopf herum. Da sie sich ihre positive Stimmung nicht verderben will, schiebt sie die Gedanken zur Seite und öffnet die Tür zu Dr. Marolds Praxis. Die Sprechstundenhilfe, die Simone bei ihrem letzten Besuch kennengelernt hat, dürfte schon nach Hause gegangen sein, und der Arzt, ein rundlicher Mann mit ulkigem Schnauzbart, hat sich bereits den weißen Kittel ausgezogen und ist gerade dabei, den Computer herunterzufahren. Über ihr Kommen erfreut, betrachtet er sie mit forschendem Blick. „Wird es eine Ab- oder eine Zusage, meine Liebe?“, begrüßt er Simone freundlich. Sie verändert ihren undurchsichtigen Gesichtsausdruck, setzt ein breites Lächeln auf und zeigt mit dem Daumen nach oben. „Ich bin fest davon überzeugt, Ihre würdige Nachfolgerin zu werden!“

Nach jenem denkwürdigen Tag meldet sich Ulrich noch mit einer Essenseinladung bei ihr. Er kann es einfach nicht glauben, dass Simone diese „kopflose“ Entscheidung, wie er sagt, tatsächlich ernst gemeint hat. Mit einer Tischreservierung in ihrem Lieblingsrestaurant hofft er, Simone doch noch umstimmen zu können. Etwas wehmütig betrachtet Simone „ihren“ Ulrich, der ihr immer noch das gemeinsame berufliche Leben schmackhaft zu machen versucht. Für Simone ist dieser Zug allerdings abgefahren. „Wieso begreifst du nicht, dass du meine Selbstständigkeit akzeptieren musst? Ich habe auch ein Recht darauf, meine Wünsche zu verwirklichen, und kann eine Beziehung nicht darauf bauen, dass ich meinem Partner zuliebe ein Leben führe, das ich nicht leben will“, versucht Simone ihm nochmals ihren Standpunkt mit Nachdruck zu erklären. Aber Ulrich versteht ihre Einstellung nicht und weiß ganz genau, dass er seine Pläne ihretwegen nicht ändern wird. „Nach all den schönen Jahren soll nun wirklich alles zu Ende sein?“, fragt er immer noch ohne jegliches Verständnis dafür, dass Simone seinen wunderbaren gemeinsamen Lebensplan ablehnt, um „sich selbst zu verwirklichen“ und alleine auf dem Land zu leben. Da die Variante „Wochenendbeziehung“ für beide nicht infrage kommt und weder Simone noch Ulrich von ihren Zielen abweichen wollen, erschöpft sich das Thema, sie haben sich eigentlich nichts mehr zu sagen. Simone drängt Ulrich daher bereits vor dem Dessert dazu, zu zahlen – und das, obwohl sie normalerweise keine Süßspeise auslässt! Ihre Trennung hat offensichtlich schon viel früher stattgefunden.

Simone bezieht das Gästezimmer in Dr. Marolds Haus. Sie vermisst Ulrich, aber sie genießt auch ihr neues Dasein auf dem Land. Fernab vom Straßenlärm kann sie die Ruhe der Natur, die nur durch das Zwitschern der Vögel gestört wird, bei geöffnetem Fenster und während ihres morgendlichen Waldlaufs genießen. Nach dem Abendessen mit Ulrich hat sie sofort gepackt und die meisten ihrer Habseligkeiten aus der bis dato gemeinsamen Wohnung mitgenommen. Kopfschüttelnd und ungläubig hat Ulrich ihre Entschlossenheit zur Kenntnis nehmen müssen. Simone ist an diesem Abend klar geworden, dass das der einzig richtige Weg für sie ist.
„Aber wer soll mich nun nach Schottland begleiten?“, fragt sich Simone ratlos. Sie hat keine Freundin, mit der sie sich während einer derart langen Reise ein Zimmer teilen will. Doris, ihre beste Freundin aus der Schulzeit in der Wenzgasse, einem Bundesrealgymnasium in Hietzing, hat sie aus den Augen verloren. Einerseits wegen Ulrich, der auf die dicke Freundschaft der Mädels eifersüchtig war und mit Doris auch sonst nicht so gut konnte, und andererseits wegen Paul, der ihre Freundin nicht „erhört hat“, wo sie doch so verliebt in ihn war. Natürlich sind das alles Ausreden, denn in Wahrheit hätte sie eine derart schöne Freundschaft nicht vernachlässigen dürfen. Bleibt also nur ihre Mutter Lotte, aber die würde ihre Parfümerie niemals so lange alleine lassen. Noch weiß sie nichts von Simones Auszug aus Ulrichs Wohnung, die in unmittelbarer Nähe zu Lottes Geschäft liegt. Sie wird die Nähe zu ihrer Tochter vermissen, nachdem Simones Bruder Paul als Veterinär bereits aus der Stadt geflüchtet ist. Offensichtlich geraten beide Kinder nach ihrem Vater Georg. Als ehemaliger Verkäufer für die Luxusmarke Chanel hat er Lotte kennen- und lieben gelernt. Gott sei Dank ist sie auch naturverbunden, denn der Wald und die Jagd sind Georgs eigentliches Zuhause. Er hat schon Pauls Bestreben nach der Landpraxis unterstützt und wird auch für Simones Entscheidung volles Verständnis haben.
Vorerst macht sich die zukünftige Landärztin mit Dr. Marolds Ordinationshilfe, einer gemütlichen, aber auch bauernschlauen Einheimischen, vertraut. Simone ist sehr daran gelegen, ein gutes Einvernehmen mit der drallen Katharina zu finden, die sie schon allein wegen ihrer Kenntnisse über die Patienten behalten will. Und da Simone mit ihrem einfühlsamen und fröhlichen Naturell noch nie Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen gehabt hat, kann sie auch Katharina sehr rasch für sich einnehmen. Spätestens mit dem Satz: „Ihr Kuchen ist einfach himmlisch!“, der Belobigung von Katharinas Backkunst, an der Simone von nun an regelmäßig teilhaben darf, ist der Bann zwischen den beiden Damen gebrochen. Aber auch Dr. Marold ist um Simones Einführung bemüht, da er seine Schäfchen gut betreut zurücklassen will. „Schade, dass Sie sich nicht mehr auf Ihre langersehnte Reise freuen“, meint der väterliche Kollege und tätschelt aufmunternd Simones Arm. „Aber Sie werden bestimmt eine Lösung finden. Und wenn Sie dann erholt zurückkommen, kann ich mich in mein Haus im Waldviertel zurückziehen“, freut sich der gutmütige Dr. Marold.

Dermaßen gut angekommen in ihrem neuen Leben, macht sich Simone für das Essen mit der Familie zum 55. Geburtstag ihrer Mutter zurecht. Ihr Make-up fällt wie immer dezent aus, aber ihr lässig sportlicher, manchmal auch etwas schlampiger Stil hat sich seit Kurzem in einen eleganteren verwandelt. Und wie immer kommt Simone zu spät, trotz aller guten Vorsätze Die Tafel beim „Plachutta“ in Hietzing ist natürlich für eine Person zu viel gedeckt, aber da Simone gerade richtig zur Geschenkübergabe kommt, geht ihr alleiniges Erscheinen vorerst komplett unter. Nachdem sich die erste Euphorie über ihr tolles Geburtstagsgeschenk gelegt hat, wird Lotte stutzig: „Wo hast du denn deinen Ulrich gelassen?“ Simones Bericht über ihre neue Lebenssituation wird nur mit der Frage „Wer begleitet dich nun nach Schottland?“ kommentiert. Anscheinend vermutet die Familie schon länger, dass sich das Paar auseinandergelebt hat. Die Übernahme der Praxis von Dr. Marold wird allerdings von allen freudig begrüßt. Besonderes Verständnis für Simones Übersiedelung aufs Land hat natürlich Georg, und Lotte scheint die zukünftige räumliche Entfernung zu Simone noch nicht realisiert zu haben. Umso mehr das tolle Geschenk ihrer Kinder. Sie haben die Mutter, die sich während der vielen Berufsjahre im Verkauf ein chronisches Rückenleiden zugezogen hat, mit einem Gutschein für einen Treppenlift überrascht. Gott sei Dank ist noch keine Notwendigkeit dafür vorhanden, aber eine Erleichterung des täglichen Lebens, den Transport von Lebensmitteln und Getränken aus dem Keller betreffend, mit der Möglichkeit, sich ab und zu auch einmal selbst fahren zu lassen, bedeutet der Treppenlift bereits jetzt. Simone und Paul freuen sich über die gelungene Überraschung und sind voller Tatendrang. „Wir werden dir den Kasten am Fuß der Treppe entrümpeln, damit es keine Verzögerung mit der Montage gibt!“, äußern sich die Geschwister euphorisch.
Nach dem Essen, die Jubilarin ist mit Georg bereits nach Hause gegangen, haben die Geschwister endlich wieder einmal Zeit, miteinander zu plaudern. „Schon komisch“, sinniert Simone. „Jetzt wohnen wir so nahe nebeneinander und sehen uns trotzdem kaum. Wie schön waren doch unsere Studienjahre, als unsere langen Gespräche nur von Ulrich gestört wurden.“ Mit einem verschmitzten Lächeln antwortet Paul: „Jetzt kann ich es dir ja sagen, in Bezug auf Ulrich habe ich dich nie ganz verstanden.“ Simone ist nicht überrascht. „Das habe ich gespürt, da wir über Gott und die Welt miteinander reden konnten, dieses Thema aber immer sorgfältig vermieden haben. Mit Thomas war das ganz anders!“ Ulrichs Vorgänger war ein sportlicher, beruflich ziemlich ehrgeizloser Charmeur, der nichts anderes als seinen extremen Bewegungsdrang in freier Natur liebte. Mit seiner Firma, in der er sich als Guide für Sommer-und Wintertouren anbietet, kann er sich bis heute nur so recht und schlecht über Wasser halten. Leider hat er eine große Schwäche für das gesamte weibliche Geschlecht, was schlussendlich zur Trennung führte. Aber mit dem naturverbundenen Paul hat er sich gut verstanden. Wieder einmal ist sich Simone bewusst, wie sehr sie mit ihrem Bruder auf einer Wellenlänge liegt. Nur ein Jahr älter als sie, hat er mit seinen 33 Jahren schon ausreichend „Landerfahrung“ gesammelt und sich als gefragter Tierarzt einen Namen in der Region gemacht. „Somit gibt es kein Tabuthema mehr zwischen uns“, freut sich Simone wohl wissend, dass dem nicht so ist. Pauls Freundin Ines, eine sehr hübsche, aber zickige Professorin für Deutsch und Geschichte, ist auch nie Thema zwischen den Geschwistern gewesen. Dass dem zurückhaltenden und feinfühligen Paul ein derart lauter Mensch wie Ines, der immer im Mittelpunkt stehen möchte, „den Kopf verdreht hat“, ist Simone ein Rätsel. Wieder muss sie an Doris denken. „Die beiden hätten ein tolles Paar abgegeben, und verstanden hätte ich mich auch besser mit ihr!“ Gott sei Dank musste Ines heute zum Begräbnis einer Kollegin. Denn neben der unangenehmen Lautstärke ihrer Stimme, sind noch die grellen Farben ihres Outfits und der Schminke zu erwähnen, die ihr Gesamtbild zwar stimmig, aber auch noch „lauter“ erscheinen lassen. Ganz im Gegensatz zu dem dezent gekleideten Paul, der jegliches Aufsehen vermeiden möchte. Stoische Ruhe geht von seiner sportlichen Erscheinung aus, und dem wachsamen Blick seiner braunen Augen scheint hinter der markant-modischen Hornbrille nichts zu entgehen.

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