Tödliche Liebschaften

Tödliche Liebschaften

Vom Fluch der AIDS-Viren

Jo Steimen


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 12 x 19 cm
Seitenanzahl: 106
ISBN: 978-3-99048-078-6
Erscheinungsdatum: 09.05.2016
Entstammen Aids und HIV der außer Kontrolle geratenen Mutation eines Versuchsprodukts der Pharmaindustrie, welcher sie nun nichts entgegenzusetzen weiß? Fakten und Fiktion mischen sich zu einer eindringlichen Geschichte …
14. Oktober 1959

Mittagshitze. Die Stille in und um die kleinen, mit gebundenem Schilfrohr gedeckten, kubusförmigen Lehmhütten wirkt beinahe so bedrückend wie die schwere, glutvolle Luft, die durch eine erbarmungslos brennende Sonne genährt wird. Nur gelegentlich wird die scheinbar friedfertige Ruhe durch das sirrende, an- und abschwellende Geräusch unermüdlich nach Nahrung suchender Fliegen gestört. Gideon, der Sohn des ehrerbietigen Medizinmannes namens Maribol, sitzt unter dem Vordach des Hauses seines vielbeschäftigte Vaters auf einem alten, wackeligen Schaukelstuhl, den er irgendwann von einem katholischen Missionar geschenkt erhalten hat. Der – auch wegen seines athletischen Körperbaus – von den jungen Frauen des Dorfes Bewunderte, fährt sich ungeduldig mit seinen spitzen Fingernägeln immer wieder durch die Zwischenräume seines eng geknoteten Haares, in welches ihm seine Schwester Agnes winzig kleine, farbige Glasröhrchen eingefädelt hat. Gideons Gemüt wirkt gespannt.
Seit zwei Wochen schon warten alle im Dorf auf die Gruppe weißer Medizinmänner, die bisher in regelmäßigen Zeitabständen nach Boulawayo gekommen sind. Sie bringen jeweils Medizin mit, die angeblich gegen allerlei Krankheiten nützlich sein soll, und sie übergeben dem Rat der Dorfältesten immer auch Geschenke. Meist war dies Salz, Zucker und Mehl. Gemeinsam mit einigen Helfern verteilte Gideon die Gaben bisher an die Dorfbewohner, die diese gerne und dankbar entgegennahmen.
Besagte Medizin bestand aus einer dünnflüssigen Masse, die in Glasröhrchen gefüllt, mit einer spitzen Nadel meist im oberen Bereich des linken oder rechten Armes fast jedem Dorfbewohner injiziert wurde.
Zuerst aber wurde von jedem zu behandelnden Dorfmitglied mit einer Pipette etwas Blut aus den Fingerspitzen abgezogen, nachdem diese gesäubert und mit einer Nadel angestochen worden waren.
Gideon selber hat sich immer geweigert, gestochen zu werden, Blut zu geben oder sich ein Mittel spritzen zu lassen. Sein Vater aber, seine Schwester und fast alle Dorfangehörigen ließen sich von den weißen Medizinmännern diese von ihnen als eigenartig empfundene Zeremonie gefallen. Einerseits, weil sie für die mitgebrachten Geschenke dankbar waren, andererseits, weil die Medizinmänner bei ihrem ersten Besuch vor vielen Monaten versichert haben, ihre Medizin würde der Blutreinheit dienen, und mit ihr ließen sich viele Krankheiten vermeiden.
Die Gruppe der Medizinmänner gehorchte einer Frau, die offenbar so etwas wie ihr Häuptling zu sein schien. Die für Gideon unerreichbar scheinende, schöne, schlanke Frau, mit wallendem, goldenem Haar und einem Mund so wohlgeformt wie jene Kaktusblüten, die hinter dem Haus seiner Großmutter im Frühling blühten, hat nach ihrem letzten Besuch versprochen, bald wiederzukommen. Sie ist die einzige, welche die Sprache der Einheimischen des 316 Seelen zählenden und unweit der ugandischen Grenze gelegenen Dorfes im Kongo einigermaßen versteht. Sie ist auch die Sprecherin der medizinischen Gruppe des Teams eines kalifornischen Pharmakonzerns, der seit gut drei Jahren mittels einer Polio-Impfung unentgeltlich Hilfe im Kampf gegen die immer wieder allgegenwärtige Lepra, gegen Typhus und Cholera, aber auch gegen die in diesen Breitengraden todbringende Malaria anerbot.
In ihrer Muttersprache hat Gideon sie, Dr. Shona Whritler, bei ihrem letzten Besuch lautstark schimpfen gehört, in einem Moment, in welchem sie sich unbeobachtet gefühlt hat. Gideon, der sich unauffällig für seine Dorfbrüder, auffällig genug aber für die Begleiter der Pharmakologin unentwegt in ihrer Nähe aufhielt, hörte, wie sie immer wieder das Wort „Shit“ ausgesprochen hat und dabei mehrmals ihren rechten Fuß – wie ein ungestümes Pferd – auf die Erde gestampft hat. Gideon hat zwar nicht verstanden, was genau das mehrfach ausgesprochene Wort genau bedeutete. Doch die Tatsache, dass er den gefühlsbetonten Ausbruch eben dann erlebt hat, als Shona aus der Hütte seines Vaters gekommen war, nachdem sie ihn und seine Schwester untersucht hatte, beschäftigte Gideon. Denn immerhin glaubte er, sein Vater und seine Schwester seien im Gegensatz zu vielen Dorfbewohnern gesund. Beide waren in jüngster Zeit wohl etwas träger und im Moment weder für die Jagd noch für gemeinsame Dorfspiele zu gewinnen. Zudem hatten beide etwas weniger Appetit als sonst. Des weiteren aber schien eigentlich alles in Ordnung zu sein.
Gideon wollte es genau wissen und fragte Shona unverhohlen, weshalb sie immer wieder „Shit“ gesagt hat.
Auf seine Frage versuchte sie ihm zu verstehen zu geben, dass das Ganze keine tiefere Bedeutung hätte. Die Appetitlosigkeit und die derzeit auftretende Müdigkeit seines Vaters und seiner Schwester hätten ihr lediglich Anlass dazu gegeben beiden etwas Blut zu entnehmen, damit sie dieses im Labor untersuchen könne. Sie wolle prüfen, ob jenes Mittel zur Vorbeugung gegen Typhus- und Malariaerkrankung, welches ihr Team auch ihnen injiziert hatte, die erwünschte Wirkung zeige.
Gideon vertraute Shona, die er seit Längerem schon mit ihrem Vornamen ansprach, ebenso wie dies die übrigen Dorfbewohner taten. Denn immerhin hat ihr Team es geschafft, dass der größte Teil der Dorfangehörigen keine Angst mehr vor Typhus und Malaria haben. Und wer über Husten, eine tropfende Nase oder über Fieber zu klagen hatte, war nach Shonas Besuch und der von ihr und ihrem Team verabreichten Medizin schnell wieder gesund. Seit einiger Zeit aber litten die meisten Dorfangehörigen an einer eigenartigen Krankheit, gegen die auch Shona offensichtlich noch kein wirksames Mittel gefunden hat.
Gideon wusste nicht mehr genau, wann diese heimtückische Krankheit zum ersten Mal festgestellt worden war. Vor Jahren hatten einige Dorfangehörige an schwerer Lepraerkrankung gelitten. Auf Wunsch eines Missionars, der im Nachbardorf in einer Kirche gepredigt hatte, waren damals die weißen Medizinmänner mit Shona gekommen. Erst brachten sie Spritzen, Salben und Tabletten mit, um erkrankten Dorfbewohnern zu helfen. Dann kamen sie immer wieder auch mit Reis und manchmal gar mit Kaffee. Nachdem das Medizinerteam der Lepra Herr geworden zu sein schien, ließen sich viele Frauen und Männer für die mitgebrachten Geschenke ohne Geschrei neue Mittel spritzen, die angeblich auch als Vorbeugung gegen andere üble Krankheiten nützlich sein sollten. Für Gideon und einige der Dorfbewohner stand die tatsächliche Wirkung dieser Mittel zweifelsfrei fest. Seit Shona mit ihrem Team ins Dorf kam, war nämlich niemand mehr an einer der bekannten Krankheiten erkrankt oder gestorben.
Dennoch. Seit geraumer Zeit schon litten viele, auch Gideons Verwandte und Freunde, an jener bislang unbekannten Krankheit.
Die heimtückische Krankheit verwirrte Gideons Geist, weil in zunehmend engerem Zeitraum immer mehr Erkrankte starben. Oft war Gideon deswegen kaum fähig klare Gedanken zu fassen. Gerade vor zwei Tagen waren wieder zwei Mitangehörige des Dorfes gestorben. Einer der Verstorbenen, er hatte Joseph geheißen, war immer dünner geworden, seine Zähne und seine Haare waren ihm nach und nach ausgefallen, er hatte an Durchfall gelitten, und wegen seiner schrecklichen Schmerzen hatte er über Wochen bis zu seinem Tod unentwegt gejammert. Seine Frau Marga, die ebenfalls an der gleichen heimtückischen Krankheit gelitten hatte, war ihm keine Hilfe mehr gewesen, obwohl sie nicht so dünn geworden war und offenbar nicht so große Schmerzen gehabt hatte wie er. Als sie gestern Morgen neben ihrem toten Joseph erwacht war, mochte auch sie nicht mehr leben. Sie hatte sich mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufgeschnitten und verstarb, bevor sie von einem Dorfangehörigen gefunden worden war.
Die Auszerrung, wie Dr. Shona Whritler die heimtückische, todbringende Krankheit vorerst nannte, hatte somit zwei weitere Opfer gefordert. Inzwischen hatte Gideon gemeinsam mit Stammesbrüdern insgesamt 32 verstorbene Mitbewohner des Dorfes begraben. Und wie es ihm Shona geraten hatte, außerhalb des Dorfes. Weil man die Ursache der todbringenden Krankheit noch nicht ermittelt hatte, und es sich dabei möglicherweise um eine Seuche handeln könnte, sollten die Toten nicht in unmittelbarer Nähe bewohnter Hütten begraben werden.
Alles Gründe, weshalb sich Gideon den Besuch von Shona so sehr herbeisehnte. Einmal nämlich erhoffte er sich Hilfe, weil schon mehr als die Hälfte der Dorfbewohner an der bislang unbekannten Krankheit litten, und die Unruhe im Dorf mit jedem neuen Todesfall wuchs. Andererseits, weil viele der Dorfangehörigen noch immer glaubten, dass die Pharmafabrik, die bisher in verschiedenen Belangen Hilfe gebracht hatte, endlich auch etwas gegen die Auszerrung gefunden haben könnte. Genau deshalb wurde die Wiederkehr des Medizinerteams mit Shona Whritler so sehr herbeigesehnt.
Während Gideon sich immer wieder mit der Frage beschäftigte, woher die Auszehrung gekommen war, schien die schreckliche Krankheit für Gideons Vater ein Zeichen Gottes zu sein. Der zürnte nach seiner Ansicht darüber, dass die Boulawayaner ihre Jahre zurückliegende Stammesfehde mit ihren Nachbarn in Uganda nie begraben hatten, in der Zwischenzeit aber gar oft ihre Weiber miteinander tauschten. Gideons Vater war zudem überzeugt, dass die todbringende Krankheit auch eine Strafe für all jene war, die nicht mehr an seine Zauberkräfte glaubten.
Auch dies verwirrte Gideons Denken: Einerseits glaubte er grundsätzlich an die Kräfte seines Vaters, der mit Kräutern und Blättern, mit Salz und Pfeffer, mit Knochenstaub und mit eigens hergestellten Salben schon viele Kranke geheilt hatte. Andererseits wusste Gideon, dass Vaters Kräfte und all seine Mittelchen gegen die Auszerrung bisher keine Wirkung gezeigt hatten. Gideon wagte gar nicht darüber nachzudenken, ob in diesem Fall Vaters Kraft als Medizinmann im Allgemeinen nicht abgenommen hatte, wie dies viele Dorfangehörige glaubten.
Seine letzten Hoffnungen ruhten umso mehr auf Shonas Team. Obwohl er Shona auch bewunderte, weil sie einige der bekannten Krankheiten zu bekämpfen gewusst und mit vorbeugenden Mitteln ebenfalls Erfolge erzielt hatte, war es ihm bisher gelungen, sich jeglicher Art von Spritzen zu widersetzen. Er fürchtete sich vor den Nadelspitzen, da er glaubte, diese wären des Teufels, weil sie einen schnellen, schmerzhaften Stich, wie der von Moskitos, verursachten, hernach aber gleich nicht mehr zu spüren waren.
Wie Gideon hatten sich nur die wenigsten der Männer im Dorf gegen eine Impfung widersetzt. Und nur eine einzige Frau hatte es geschafft, sich den verweigernden Männern anzuschließen. Wilma hiess sie, und zweifelsohne war sie eine der schönsten der jungen Frauen im Dorf, wenn auch etwas dickköpfig, wie Gideon glaubte.
Dennoch, und wegen ihres makellosen Körpers, ihrer starken Haare und ihrer schneeweißen Zähne, bewunderte sie Gideon. Seine Bewunderung blieb nicht unerwidert. Inzwischen waren Gideon und Wilma ein Liebespaar, und Wilma hatte Gideon schon oft ihre Liebe bekundet, auch indem sie ihn in die Hütte ihrer Eltern lockte, wenn diese aufs Feld hinausgegangen und eben einmal nicht zuhause waren.

***

Ein leiser Wind, den sich alle herbeigesehnt hatten, strich über die kargen Bäume und wirbelte feinen Staub auf, der in den Ritzen der ausgetrockneten Erde lag. Einen Moment lang glaubte Gideon in der Ferne Motorengeräusche wahrnehmen zu können. Ein paar Sekunden später wusste er, dass er sich getäuscht haben musste.
Stattdessen war Wilma leichtfüßig zum Dorfbrunnen in der Nähe der Hütte von Gideons Vater gekommen, um einen Eimer mit Wasser zu füllen. Als sie Gideons Blick spürte, hob sie den Oberkörper leicht an, um ihre festen Brüste besser zur Geltung zu bringen, und ohne sichtliche Mühe brachte sie auch ihren prallen Hintern in eine für Gideon gut ersichtliche, vorteilhafte Position. Ihr werbendes Tun war Gideon auch nicht entgangen. Die Sitte aber gebot ihm, sich nicht direkt und nicht in aller Öffentlichkeit um Wilmas Werben zu kümmern.
Als sie sich mit wippenden Hüften entfernte und – noch einmal zurückschauend – hinter der ersten Hütte verschwand, erhob sich Gideon, um ihr zu folgen. Vorher allerdings hatte er sich versichert, dass ihm nicht ein paar dutzend Augen folgten.
Wilma ging in die Hütte ihrer Eltern. Als Gideon keinen Laut und kein Wort wahrnehmen konnte, wusste er, dass Wilmas Eltern sich nicht im Haus aufhielten. Bevor er unter dem schmalen Vordach der Hütte angelangt war, stand Wilma schon unter dem mit einem Tuch verhangenen Eingang und winkte ihn zu sich.
5 Sterne
Tödliche Liebschaften - 11.05.2016
Cvetka Beg-Oblak

Ein sehr lesenswertes Buch, das spannend und erzählerisch ist, und dennoch Stoff enthält, der das Wahre mit Fiktion vermischt: vermutlich aber war das mit der Pharmaindustrie genauso, wie es erzählerisch dargestellt wird.

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