Steady as she goes

Steady as she goes

Schulabbruch und Neuanfang

Helmut Lucka


EUR 30,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 646
ISBN: 978-3-99146-209-5
Erscheinungsdatum: 11.12.2023
Der 1. Band von Willis Geschichte führt von einer Schiffsjungenschule zur Ausbildung an Bord eines Schiffes und bietet außer spannenden Abenteuern an Deck auch viele fachliche Einblicke in die Seefahrt und in die sogenannte „Wirtschaftswunderzeit“.
Disclaimer


Liebe Leserin, lieber Leser!
Die vorliegende Geschichte beruht teilweise auf wahre Gegebenheiten und Erfahrung des Autors selbst. Um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten und Weggefährten zu wahren, wurden die Namen aller auftretenden Personen abgeändert und fiktionalisiert.
Einzig die Lehrkräfte und Angestellten der öffentlich rechtlichen Institution „Seemännische Berufsfachschule Elsfleth/Weser“ sind mit ihren echten Namen genannt. Sie sind legendär für die hochqualifizierte Grundausbildung einer ganzen Generation an Seeleuten, denen sie das gebotene Rüstzeug für den Weg in den harten Seemannsberuf gegeben haben.



Schulabgang 1968


Grell fielen die Strahlen der warmen Frühlingssonne durch die dicken Scheiben der großen Fenster in den staubigen Klassenraum der 9A. Ungehindert bahnten sie sich ihren flimmernden Weg vorbei an den schweren beigen Vorhängen direkt auf Willis linke Wange.
Verdammt heiß für diese Jahreszeit, dachte er und sein Kopf, nur durch die rechte Hand gestützt, wurde schwerer und schwerer. Ähnlich verhielten sich seine bleiernen Augenlider, die bereits in regelmäßigen Abständen unkontrolliert zufielen, so müde war er lange nicht mehr gewesen!
Aus den halbgeschlossenen Augen blinzelnd erspähte er unzählige Staubkörner. Lustig tanzten die in einem besonders hellen Sonnenstrahl, der das trostlose Grün der dunklen Wandtafel durch einen hellgrün leuchtenden Streifen unterbrach.
Es war die Religionsstunde! Realschullehrer Paul Gruner, von den Schülern heimlich wegen seiner frommen Art kurz Paulus genannt, bemühte sich eifrig, den Schülern die altehrwürdigen Bibeltexte zu vermitteln. Mit monotoner Stimme schaute er gelegentlich über den dicken Rand der Hornbrille. Selbst gelangweilt verlas er Zeile um Zeile aus seiner Kladde. Der lederne Einband hatte sicherlich schon viele Jahre die speckigen Abdrücke seiner wurstigen Finger ertragen müssen. Der stets gleich klingende Rhythmus der vorgetragenen Sätze aus dem aufgedunsenen Gesicht des Lehrers erschien Willi, als würde ein Pfarrer von der Kanzel predigen. Öfters ertappte er sich, kurz eingeschlafen zu sein, um dann versteckt seinen schweren Kopf neu zu lagern. Der schweißnasse Handabdruck in seiner rechten Gesichtshälfte würde Beweis dieser langweiligen Religionsstunde sein.
Volker geht’s auch nicht besser, freute er sich im Stillen, als sein Blick auf den Tischnachbar fiel. Spiegelverkehrt lag dieser, mit dem Kopf auf den linken Arm gestützt, mit halbem Oberkörper auf der Tischplatte und lauschte scheinbar andächtig den frommen Ergüssen des Lehrers. Wie Willi war auch er dem Halbschlaf nahe. Nur schwebte der Schulfreund laufend in der Gefahr, nach links über die Tischkante abzurutschen und in den Mittelgang zwischen die Bankreihen zu fallen.
An Volker vorbei schaute Willi mit verschlafenem Blick auf einen kleinen Spatz, der aufgeplustert und ein wenig übereifrig auf dem Blumenkasten vor dem Fenster hüpfte und nach Nahrung suchte. Ab und zu fiel der warme Frühlingswind mit einer Böe in sein Gefieder und bauschte es weiter auf. Hektisch um sich blickend pickte er mit seinem Schnabel in der kargen Blumenerde.
Glaubt der wirklich, in dem trockenen Kasten einen Wurm zu finden, zweifelte Willi, in Gedanken weit entfernt vom Vortrag seines Lehrers. Vielleicht ist es dem Piepmatz im Schutz der Scheibe wärmer als anderswo? Die Frage beschäftigte den Schüler und ließ ihn nachdenklich noch weiter vom Unterricht abschweifen.
Der hat’s gut! Gefällt’s ihm hier nicht mehr, hebt er ab und fliegt einfach weiter! Schwups –, weg war er! Noch ehe Willi müde laut gähnend seine Gedanken beenden konnte, sah er wehmütig dem abfliegenden Vogel hinterher. Immer kleiner werdend, verschwand er hinter den kahlen Ästen des im frühen Sonnenlicht feucht schimmernden Kronengeflechts der Pappeln am Rande des Schulhofs!
„Lenz! – – – Lenz! – – – Wilfried Lenz!“ Wie aus ganz weiter Ferne drang die drohende Stimme in Willis freies Ohr und erschrocken drehte er seinen Blick zum Pult, direkt in das vor Zorn verzerrte fette Gesicht seines Lehrers.
„Aufstehen! – – – Steh auf!“, befahl die erregte Stimme weiter, „wiederhole er meinen letzten Satz!“ Leichtes Gekicher aus den Mädchenreihen belebte jetzt das Klassenzimmer und beschämt irrte Willis Blick über seine Mitschüler, bis er fragend bei Volker hängen blieb. Der presste die Lippen zusammen und drehte sich achselzuckend ab.
„Wilfried Lenz – sag er mir zusammenfassend das letzte Kapitel meines Vortrages! Wo war ich zuletzt stehen geblieben?“ Schwerfällig erhob sich Paulus aus seinem Lehrerstuhl und drohend näherte er sich der ersten Tischreihe!
„Vor dem Pult!“, hätte der Ertappte fast erschrocken ausgestoßen, doch im letzten Moment konnte sich Willi diesen Spruch verkneifen. Unvermeidlich hätte diese Frechheit zum schriftlichen Tadel mit Eintrag ins Klassenbuch geführt.
Weiterhin ratloses Schulterzucken von seinem Tischnachbar zeigte deutlich an, dass von Volker keine Hilfe zu erwarten war. Unbewusst, wie so oft in ausweglosen Situationen, wuchs in Willi blitzschnell die rettende Idee.
„Entschuldigen Sie, Herr Gruner“, presste er gequält mit zittriger Stimme tief aus seiner Brust hervor, „mir ist ganz übel!“ Träge erhob er sich langsam von seinem Stuhl, die Arme überkreuz in den Unterleib gedrückt. Leicht vorgebeugt und schwankend stand er so, als würde er jeden Moment sein Gleichgewicht verlieren! „Mir ist wirklich nicht gut!“
Zähne klappernd legte er noch so viel Leid in seinen Gesichtsausdruck, dass selbst seine Mutter ihm eine mittelschwere Fiebererkrankung geglaubt hätte. „Dürfte ich mal raus auf die Toilette?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete Willi eilig durch die Stuhlreihen der verblüfften Mitschüler. Die Hände immer noch schützend vor seinem Bauch gekreuzt, lief er in Richtung Klassentür, ohne auf die zweifelnden Blicke des völlig verblüfften Lehrers zu achten.
Leider hatte Reinhold Bolte, der rechte Tischnachbar in der vordersten Schülerreihe, seine langen Beine in Ruhestellung vorgestreckt, die Willi hektisch übersah. Er stolperte, konnte sich jedoch mit der rechten Hand an der Wand abfangen. Klatschend haute er die Hand in die Hausordnung, die neben dem Ausgang hing. Laut klirrend zersprang dieses in Glas gerahmte und von allen Schülern so verhasste Regelwerk beim Aufprall auf den Boden.
„Was hat er denn?“ Ernsthaft besorgt klang die sonore Stimme vom Lehrer aus dem Klassenzimmer hinter ihm her. Schwungvoll schlug Willi hastig die Tür der Klasse 9A hinter sich zu.
„Geschafft –, – – Gott sei Dank!“ Erleichtert lehnte sich der Schüler mit dem Rücken gegen die glatt glänzende, kalte Wand des langen Korridors und atmete tief durch. Seine Augen hingen gespannt an der Klassentür – doch nichts geschah! Verwundert stellte er fest, die Tür blieb zu!
Scharf drang der Geruch von Bohnerwachs in seine Nase, dieser einzigartige und so typisch vertraute Geruch von blitzsauberen Schulgebäuden der Nachkriegszeit. Noch immer rührte sich nichts in dem langen, schmalen Gang, der die neunten und zehnten Klassen verband. Nach links führte dieser Flur zum Verwaltungstrakt. Ängstlich blickte Willi noch einmal zurück zur Klassentür.
Noch immer nichts! – Keine Regung, kein knirschendes Geräusch vom Verrücken des Stuhles, das ein Nacheilen des verhassten Lehrers vermuten ließ. Erleichtert war er und mächtig stolz auf seinen rettenden Einfall mit den Magenkrämpfen. Schmunzelnd hastete er weiter durch den dunklen Flur in Richtung Treppenhaus, dem rettenden Ausgang entgegen!
„Realschule an der Schillerstraße“ stand in großen Buchstaben aus Bronze auf roter Klinkerwand über dem Eingangsportal. Die Schwerpunkte des Unterrichts dieser modernen Lehranstalt lagen auf den „realen“ Fächern wie Sport, Kunst und Werken!
Mit diesem Angebot kreativer Gestaltungsmöglichkeit grenzte der Lehrstoff sich erheblich von der ordentlichen Mittelschule der sechziger Jahre ab. Nie vergaß Schulleiter Dr. Dr. Löscher, diesen für ihn so bedeutenden Unterschied in seinen Begrüßungsreden hervorzuheben. Ganz im Sinne von denLehrkräften in dieser Schule, konnte hier in den gut ausgestatteten Werkräumen fleißig gemalt und kunstvoll gebastelt werden. Willi mochte den Kunstunterricht. Fünf Jahre hatte er hier bereits unbeschwert seine lebhaften Fantasien in Form von beachteten Bildern und filigranen Werkstücken austoben können. Zur Freude seiner vollschlanken Kunstlehrerin, Frau Dr. Weinhold, hatte sich Willi in diesem Fach durch seine außergewöhnliche Kreativität immer wieder aus der Menge seiner Mitschüler hervorheben können! Wie sehr hatte er es immer genossen, wenn sie, mit ihren großen Brüsten wohlwollend über seine Schultern gebeugt, helfend den einen oder anderen Strich verbesserte! „So kommen wir der Eins für dieses Bild schon näher!“ hatte sie in sein Ohr gehaucht. Dabei hatte sie dicht hinter seinem Rücken gestanden und mit der linken Hand seine Schulter getätschelt. Sichtlich verlegen hatte er zu oft diese wohlgemeinte Hilfe ertragen müssen; schüchtern errötend, sehr zur Freude seiner feixenden Mitschüler. Es war ihm peinlich, doch eine gute Zensur im Nebenfach Kunst konnte dazu beitragen, seinen sonst eher miesen Notenschnitt zu verbessern! Sein Lieblingsfach jedoch war Erdkunde. Mit großem Interesse folgte er den Vorträgen des beliebten, stets korrekt gekleideten Schulleiters. Mit knallroter Fliege vor dem blütenweißen Hemdkragen hatte Dr. Dr. Löscher eine besondere Art, seinen Schülern den trockenen Lehrstoff spannend zu vermitteln. Mit einem meterlangen, mit roter Spitze gefertigten Rohrstock unterstrich er auf einer riesigen Landkarte die ungeheuer wichtige Bedeutung der Erdkunde. Dabei schlug er im kontinuierlichen Wechsel mit dem Stock auf die eigene Handfläche oder auf das am Ständer hängende Anschauungsmaterial.
Willi hatte schon immer interessiert, welches Land Rohstoffe förderte, wohin und wie diese Masse an Gütern geliefert wurde und wie Industrienationen wie Deutschland diese produktiv zu nutzen wussten! Gerade jetzt, gegen Ende der sechziger Jahre, vertiefte sich im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung das international bereits anerkannte „Deutsche Wirtschaftswunder“.
Altkanzlers Ludwig Erhard als erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik zeigte sich als Vater des Erfolges in der sozialen Marktwirtschaft und deren Auswirkung auf den rasant ökonomischen Aufstieg dieser jungen Republik in den schweren Jahren der Nachkriegszeit.
Sein durch alle Zeitungen gedrucktes Bild mit der dicken Zigarre im Mund stand symbolisch für den industriellen Fleiß dieser aufstrebenden Nation! Allerdings ahnte Willi damals noch nicht, wie stark sein beruflicher Werdegang in Verbindung zu diesem Unterricht stehen würde!
Zwölf Klassenräume lagen im linken Flügel des in L‑Form verbundenen Schulgebäudes. Über drei Etagen verteilten sich diese zu jeweils vier Klassen in jedem Stockwerk. Die jungen Schüler in den fünften und sechsten Klassen begannen nach Abschluss der Volksschule ihren Einstieg in diese Art der Schulbildung im Erdgeschoss. Mit Fleiß und Disziplin konnten sie sich im Verlauf von sechs Schuljahren bis zu den zehnten Klassen „hocharbeiten“. Waren sie aufgeweckt und angepasst und genossen sie zusätzlich das „Wohlwollen“ ihrer Lehrkräfte, so konnten die drei Stockwerke im glatten Durchgang bewältigt werden. Das Endziel hieß dann Klasse 10A oder 10B zum Erreichen der Realschulreife. In den B‑Klassen saßen überwiegend die Stadtkinder und in den A‑Klassen die aus den umliegenden Dörfern. Das waren viele Flüchtlingskinder oder Kinder der Bauern aus den landwirtschaftlichen Betrieben. Jeden Morgen fuhren sie mit dem Bus oder dem Fahrrad aus der ländlichen Umgebung in die pulsierende Industriestadt Delmenhorst bis zu ihrer Schule.
Vorbei an langen Reihen von Mänteln, Jacken und Anoraks mit Pudelmützen, die an abgestumpften Garderobenhaken hingen, schlich Willi sich beschämt weiter durch den langen Korridor.
Er passierte die Klasse 10A. Traurig und ein wenig schwermütig dachte er an seine Mitschüler des letzten Schuljahres in dieser Klasse. Gemeinsam mit Reinhold Bolte und André Peters war er zu Ostern nicht versetzt worden, sie waren „sitzengeblieben!“
Plötzlich bemerkte er tatsächlich ein seltsames, merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend.
Im völlig menschenleeren Flur fiel sein Blick auf den letzten Garderobenhaken der Klasse 10B.
Dort hing, weit aufgeschlagen, ein graugrüner Parka. Aus dem Futter ragte verlockend eine dicke lederne Brieftasche hervor. Schwarz glänzend, vom Licht der Flurfenster angestrahlt, drängte diese, Unheil erahnend, aber dennoch anziehend in Willis Augen.
Das ist die Gelegenheit, dachte er erregt und er spürte sein Herz immer heftiger klopfen.
Zwei Schritte noch, ein gezielter schneller Griff – sein Herz raste! Er blickte unsicher in den langen Korridor hinter sich. Nichts! – Niemand war zu sehen, niemand konnte ihn aufhalten! Mit einem Ruck zog er die Brieftasche aus dem Innenfutter der fremden Jackentasche.
Lautes, heftiges Scharren aus dem Inneren der Klasse 10B unterbrach plötzlich die angespannte Stille im Flur. Es klang, als würde ein Stuhl gerückt und eine Schülerin hustete kräftig!
Hat mich doch jemand gesehen? Panische Angst überfiel den vermeintlich Ertappten.
„Das ist Diebstahl – Kameradendiebstahl!“, flüsterte er verschämt sich selbst zu.
Mit rasendem Puls eilte er mit seiner Beute hastig in Richtung schützendes Treppenhaus.
Laut quietschend schlugen die gläsernen Flügel der breiten Verbindungstür am Ende des Korridors in ihre schwarzen Gummidichtungen. Über sein Handeln selbst fürchterlich erschrocken atmete er einmal kräftig durch. Durch das Glas blickte er noch einmal prüfend zurück in den langen Gang – doch nichts! – Nichts regte sich – noch immer war kein Schüler oder Lehrer zu sehen!
Wie von bissigen Hunden gejagt, hetzte er die Stufen der Treppe hinunter, manchmal bis zu drei Stufen in einen Satz überspringend. Das Diebesgut hielt er sorgfältig mit der linken Hand unter der Strickjacke versteckt. Mit der rechten Hand riss er sich am Treppengeländer schwungvoll durch die Kurven der vielen Zwischenpodeste. Im Erdgeschoss, am leeren Verkaufstisch für Pausengetränke vorbei, erreichte er unten völlig außer Atem den Ausgang zum Schulhof. Prüfend schaute er auf den Fluchtweg zum angebauten Toilettenhaus. „Verdammter Scheiß!“
Entsetzt erkannte er durch die Scheiben der schweren Ausgangstür den Hausmeister. Ein fröhliches Lied pfeifend, fegte dieser gerade das steinige Zwischenpodest, welches das hohe Hauptgebäude mit dem flachen Toilettentrakt verband. Geduldig bückte sich Herr Schreiber dann und wann im endlosen Kampf gegen mächtig verklebte Kaugummis und das überall herumfliegende Silberpapier dieser allseits so beliebten Kaumasse amerikanischer Herstellung.
Willi spürte sein Blut in die Fußspitzen sacken und erneut begannen seine Knie unkontrolliert zu zittern. Perfekt hätte seine momentane Gesichtsfarbe zu seiner schauspielerischen Darbietung vor nur wenigen Minuten im Klassenraum der 9A gepasst. Vorsichtig öffnete er die Ausgangstür.
„Guten Morgen, Herr Schreiber“, zwang er sich bleich vor Schreck zu grüßen und die Angst vor der Entdeckung seiner Freveltat übertrug sich auf seine Stimme.
Er stotterte und krampfhaft krallten sich seine Finger unter der Strickjacke in das verräterische Leder der fremden Brieftasche. Wieder atmete er tief durch.
Mit bewusst ruhigen und kontrolliert langsamen Schritten zwang er sich am Hausmeister vorbei.
Es gelang ihm, die rettende Eingangstür zu den Schülertoiletten unbehelligt zu erreichen.
„Moin, moin!“, grüßte der Hausmeister freundlich zurück, doch das hörte der Schüler nicht mehr. Ängstlich, von entsetzlicher Panik befallen, hatte Willi längst in der letzten Zelle der Toiletten die Verriegelung herumgedreht.
„Besetzt“ war auf rotem Grund mit schwarzen Buchstaben an der Dreharmatur zu lesen!
„Ruhig, bleib ganz ruhig!“ Schwer atmend lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Holztür, einen Fuß auf den Brillenrand gestellt. Das schockfarbene leuchtende Rot seines Strumpfes kam zum Vorschein. Irgendwie wirkte es etwas beruhigend auf den verwirrten Schüler. Hier in der kleinen Zelle war er sicher, hier fühlte er sich wohl, hier hatte er vor noch gar nicht langer Zeit seine erste Zigarette gepafft, schwer von Husten und Übelkeit geplagt.
Hier in dieser nach Urin stinkenden Enge hinter den hellgrauen Wänden, bemalt mit unzähligen Liebesbekundungen pubertierender Schüler, hier hinter der fest verschlossenen Tür – hier fühlte er Sicherheit in einem verschlossenen, geschützten Bereich.
„Verdammt!“ In aller Eile hat er vergessen die Nachbarzellen zu prüfen, waren die alle leer? Angespannt hielt er den Atem an, angestrengt lauschte er in die Stille. Nein, nichts war zu hören!
Keine Geräusche, keine schlurfenden Schritte, kein Abreißen von Papier, kein Klappern der blechernen Rollenhalter – nichts! Nur das Pfeifen des Hausmeisters klang leise von draußen herein.
Willi war allein im Toilettenhaus. Erleichtert ließ er die angehaltene Luft ab. Wie immer hatte er instinktiv die letzte Zelle der Toilettenreihe gewählt, die hinterste mit dem kleinen Milchglasfenster im oberen Drittel der Außenwand. Er konnte es öffnen und eindringende Frischluft überspülte den ätzenden Uringeruch. Voller Neugier untersuchte Willi in seinem Versteck die geklaute Brieftasche.
Nervös durchwühlte er die Fächer und durchsuchte den Inhalt.
„Hat sich die Aufregung gelohnt?“, fragte er leise sich selbst.
Ein Kamm steckte im vorderen Teil des Lederetuis. Eitler Fatzke, dachte Willi. Mit leicht zittrigen Händen suchte er weiter. Unter einer Klarsichtfolie steckte eine „Schüler-Monatskarte“ für die Bundesbahn! „Klasse 10B“ – konnte er gestempelt unter der Unterschrift des beraubten Schülers auf dem Fahrschein erkennen.
„Ein Pechvogel aus der Stadt!“ Sarkastische Zufriedenheit überfiel ihn. Wenigstens hatte er keinen Schulfreund aus dem Umland beklaut. Er kramte weiter in den Fächern der fremden Brieftasche.
Nicht nur die Schüler unterschieden damals noch mit penetranter Sorgfalt zwischen Land- und Stadtkindern und grenzten sich untereinander ab, sondern scheinbar auch die gesamte Lehrerschaft. „Chancengleichheit“ im Bildungssystem wurde das genannt, der sozialistische Beitrag der SPD in der Großen Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger.
Sorgfältig öffnete Willi langsam den Reißverschluss der Kleingeldbörse. Ein wenig enttäuscht, keine Geldscheine gefunden zu haben, entdeckte er dann ein großes Fünfmarkstück, ein weiteres Einmarkstück und drei Groschen.
„Eine Runde für die Jungs ist gesichert!“ stellte er zufrieden für sich fest. Vor Aufregung wäre ihm beinahe das Markstück in die Kloschüssel gefallen. Ungeniert freute er sich auf das tägliche gewohnte Treffen nach Schulschluss am nahegelegen Kiosk. Dort gab es eine gemütliche Nische mit einer alten Holzbank neben der kleinen Verkaufsklappe. Auf der Bank und weiteren Klappstühlen ließ sich mit den Freunden immer ungestört paffen und quasseln!
Mal sehen, wie die Jungs nachher abschnallen, wenn ich eine Runde schmeiße, Fluppen sind mit der Kohle auch noch drin! Seine Gedanken überschlugen sich in Vorfreude, später den großzügigen Krösus spielen zu können.
„So ein Mist!“ Mit Grausen entdeckte er einen Personalausweis im Sichtfach der Brieftasche.
Sein Respekt gegenüber behördlichen Papieren förderte erneut Schweißperlen der Angst auf seine krause Stirn. Gespannt öffnete er das amtliche Dokument.
„Sieh’ mal an, der Dickwanst aus Düsternort!“

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