Steady as she goes

Steady as she goes

Lehrzeit an Deck

Helmut Lucka


EUR 30,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 602
ISBN: 978-3-99146-215-6
Erscheinungsdatum: 08.01.2024

Leseprobe:

Wintertörns

Es war Freitag, der 3. Januar 1969, als die MS „Fryga“ mit einer vollen Ladung Schnittholz aus Hamina ausgelaufen war. Die Eisbrecher „Murtaja“ und „Sampo“ hatten eine feste Fahrrinne zwischen Hamina, Kotka und Helsinki gebrochen, so dass Kurt Bohlken mit seinem Schiff ohne Schleppverbindung in einem Konvoi durchfahren und mithalten konnte. Jeder an Bord hatte dem Alten die Erleichterung ansehen können; kein Propellerschaden und die wegen der Eisfahrt besser dotierte Charter würde sich rechnen. Sie waren auf dem Weg nach Kings Lynn, einem Hafen an der englischen Ostküste.
Willi grämte sich im Schmerz der Trennung von seiner Martina und wurde von den beiden älteren Seeleuten entsprechend gehänselt.
„Moorphy ist verliebt!“, sangen die Alten im Chor; auch der Koch stimmte durch die Küchenklappe in den Gesang mit ein. Knallrot färbte sich vor Verlegenheit und versteckter Wut das Gesicht des schüchternen Decksjungen. Besonders dann, wenn Kumpel Fuzzy unverfroren Willis sexuelle Erlebnisse in der Oberkoje schilderte. Vier Nächte lang war der Kurze Zeuge der eifrigen Auf- und Abbewegungen über seinem Kopf gewesen, was ihn selbst unter der Bettdecke hatte aktiv werden lassen. Das verschwieg er natürlich bei der ausführlichen Berichterstattung über den hörbaren Sex seines Kammerkollegen.
„Ihr glaubt nicht, wie das über mir knarrte und knackte. Ich hab jeden Moment damit gerechnet, dass die Koje durchbricht“, ließ er zum spöttischen Gejohle der Kollegen verlauten.
Der ist doch nur neidisch, dachte Willi und hielt sich selbst zurück mit Schilderungen über seine schönsten Momente in Hamina. Schon oft hatte er im Vertrauen versucht, den Kurzen nach dessen Erfahrungen mit Frauen zu befragen, doch außer verlegenem Grinsen hatte er nie eine Antwort bekommen.
„Außer zum Pissen weißt du doch gar nicht, wozu dein Pimmel da ist!“ Willi konterte erzürnt und benutzte den allgemeinen Umgangston der Decksleute, deren freudige Stänkerei nicht nachließ.
Es ließ nach, als sie anfingen, von den eigenen Erlebnissen mit den „Spritlampen“ zu berichten. „Olga stand auf Blasen!“ Frank verdrehte entzückt die Augen und grinste frivol in seiner feuchten Erinnerung an die langen Nächte: „Die konnte das, mein lieber Scholli!“
„Sag nicht, du hast mit deiner unrasierten Fratze zischen ihren Beinen geschleckt?“, wollte Jimmy wissen und stieß dem Nebenmann freundschaftlich in die Rippen.
„Bin ich bescheuert!“, klärte Frank ihn auf: „Hast du Tripper, Syph und Schanker, bist du lange noch kein Kranker! Erst wenn die Nille dampft und zischt; dann kannst du sagen?“
Er schaute den Dicken auffordern an: „Mich hat’s erwischt!“ Die beiden lachten herzhaft über ihre schamlose Weisheit, die sie gerne den Lehrlingen vermittelten. Klaus hing in der Durchreiche und hörte mit. „Was seit’s ihr für Schweine!“, schüttelte er entrüstet den Kopf, „was für’n damisches Geschwätz.“ Er steigerte sich in Erregung: „Des war net jugendfrei! Was seit’s ihr für Vorbilder?“
Scheinbar empört schloss er die Klappe.
„Was für ein Arsch!“, machte Frank seinem Ärger Luft. „Ihr müsst den mal besoffen erleben, was der dann über seine geilen Weibergeschichten zu erzählen hat! Nicht auszuhalten!“
Die beiden Junggrade hörten gespannt zu. Wie meistens unterhielt sich die Mannschaft lebhaft beim Essen in der Messe. Vergnügt stocherten sie in ihren Tellern, die mit Kohlrouladen, Kartoffeln und Sauce bis zum Rand gefüllt waren. Sie alle vermissten Heinz in ihrer Runde.
„Schade, dass der Schmiermaxe im Urlaub ist“, sinnierte Jimmy nachdenklich, „der hätte seinen Maschinisten im Zaum gehalten!“
Der Decksmann war immer noch sauer, dass Egon ihm in Hamina die Lena zeitweilig ausgespannt hatte. „Das Schwein kommt mir nicht mehr auf Kammer!“
Er haute mit der Faust auf den Tisch zur Bekräftigung seiner Aussage; doch jeder im Raum wusste, im nächsten Hafen wär’ alles verziehen und vergessen. Zu oft hing der Leiter der Maschinenanlage beim Saufgelage im Mannschaftsdeck herum.
Nach Verlassen der Eisgrenze hatte sich die Ostsee ruhig gezeigt. Zwar war der Himmel grau und bedeckt, doch zu Willis Freude war während der ganzen Überfahrt maximal Windstärke Beaufort drei zu ertragen. Jetzt kurz vor Kiel-Holtenau briste es zwar ein wenig auf aus Südwest, doch der Landschutz zwischen Mön und Fehmarn verhinderte einen höheren Wellengang.
„Ich muss mir unbedingt bei Röschmann ein paar Seestiefel kaufen!“, sagte er zu Fuzzy, seinem Tischnachbar, „ich hatte im scheiß Schnee durchweg nasse Füße!“
„Das hätte ich dir vorher sagen können, dass dein Schuhwerk nichts taugt!“, antwortete Fuzzy überheblich. „Schlaumeier!“, erwiderte Willi. Noch immer haderte er mit dem Vorsprung des Kammerkollegen an seemännischer Erfahrung. „Mit den dicken Socken passen mir die alten Gummistiefel auch nicht. Zu eng und arschkalt an den Zehen!“
Der Kurze zeigte bedeutungsvoll auf seine Füße. „Meine Treter hier sind von Röschmann! Die sind wirklich gut mit Stahlkappe über den Zehen!“ Zum Beweis trat er kräftig mit der Hacke des rechten Fußes auf die Spitze des linken Seestiefels.
„Erstklassige deutsche Wertarbeit!“, warf Jimmy ein, „ich hab die Gleichen!“ Er lehnte sich zurück und hob das linke Bein auf die Tischkante. „Nicht mehr die Neuesten, aber immer noch Spitze!“ Liebevoll streichelte er über den Stiefelschafft.
„Nimm deine stinkenden Schweißmauken vom Tisch“, ereiferte sich Frank und stieß das Bein des Nebenmannes vom Tisch. „Und geh endlich mal wieder duschen; die Fliegen fallen schon von der Wand!“ Jimmy strahlte Frank an und formte seine Lippen zu einem Luftkuss.
„Entzückend, wie du dich heute wieder um mich kümmerst!“ Der Dicke sprach übertrieben mit hoher, weiblicher Stimme; er ahmte einen Schwulen gemäß seiner Vorstellung nach.
Just in dem Moment wurde die Klappe wieder aufgeschoben und Reddy zeigte sein Gesicht in der Durchreiche. Brüllendes Gelächter der Mannschaft machte ihn stutzig und verunsicherte ihn. Die Augenlider klapperten nervös unter seinem roten Haarschopf als er sagte: „In der Nordsee ist Sturm angesagt, dreht bitte nochmal gründlich alle Spannschrauben der Deckslast nach! Der Alte möchte kein zweites Ostende!“
„Was weißt du denn von Ostende?“, pöbelte Decksmann Jimmy ihn respektlos an. „Du warst doch gar nicht dabei, als die Ladung verrutschte!“
„Sie, Herr Bronskij! Für Sie immer noch Sie!“, rief er dem Dicken zu und zog sich verärgert zurück. „Des kannst net machen!“ Der Koch trat an die Stelle des Steuermannes und zeigte sich hinter der Klappe. „Des is allerweil dein Vorgesetzter!“ Zweideutig grinste er aus seinem sommersprossigen Gesicht. „A bisserl mehr Respekt derf’s schon sein, gell!“
„Halt du dich da raus!“, mokierte sich der Dicke, „dreh du weiter an deinem Fleischwolf, in meiner Kohlroulade ist zu wenig Gehacktes!“
Frank lachte über den ironischen Konter seines Kumpels neben sich. Anerkennend haute er ihm auf die Schulter. „Der war echt gut!“, pflichtete er ihm bei und unterstütze so Jimmys Andeutung auf die auffällige Menge an Hackfleischgerichten der letzten Tage.
„Frikadelle am Morgen, verbrannte Gummiadler am Abend und mittags Kohlroulade!“, prustete es aus dem Matrosen raus.
„Mit ganz viel Kohl!“, ergänzte der Dicke süffisant. Beide krümmten sich vor Lachen, als der Koch wutentbrannt die Klappe zuschlug. Selbst die beiden Jungs konnten sich nun das Lachen nicht mehr verkneifen. Es war eindeutig erkennbar; das Gericht Kohlroulade gehörte nicht zu den beliebtesten aller Mahlzeiten an Bord.
Die Nordsee erwartete das Schiff mit Sturm aus West Nordwestlicher Richtung mit Stärken um die Beaufort zehn. Warum Kapitän Bohlken die „Fryga“ durch die aufgepeitschte See führte, blieb für die Mannschaft ein ungelöstes Rätsel. Allerdings hielt er den Kurs gegen die hohen Wellen der Windsee bis zum Schutz der englischen Ostküste ganz geschickt direkt von vorne anlaufend. So war die Stampfbewegung des Schiffes bei stark reduzierter Fahrt erträglich. Die Jungs fühlten sich in ihren Kojen wie in einem ewig auf und ab fahrenden Fahrstuhl. Am helllichten Tag ein fesselndes Schauspiel, die haushohen Wellen zu beobachten, wenn sie voll mit weißer Gischt durchzogen vor dem Steven anrollten. Nachts, auf der Seewache, verbunden mit viel Kraft und Geschick, sich im Ruderhaus festzuhalten. Keiner riskierte, unkontrolliert von einer Seite zur anderen durch die Brücke zu fliegen. An Decksarbeit war während der ganzen Überfahrt nicht zu denken. So wurden die beiden Junggrade tagsüber wieder überwiegend mit Messingputzen beschäftigt. Willi war mit den Fensterrahmen in der Steuermannskammer beauftragt. Er war froh, hier allein im Schutz der engen Kabine ohne Aufsicht arbeiten zu dürfen. Die Schiffsbewegung war so stark, dass ihm nicht einmal mehr schlecht wurde. Er fühlte seinen Zwiespalt aus Angst vor dem Kentern des Schiffes und der Sicherheit in der Geborgenheit dieser gemütlich dekorierten Steuermannskammer.
Links an der Außenwand befand sich ein hoher Wandschrank. Nach vorne schaute er beim Putzen durch zwei große, rechteckige Fenster gegen die Bretterenden der aufgetürmten Holzdeckslast.
Es war schummerig und dunkel im Raum durch das beschränkt eindringende Tageslicht. Rechts war die breite Koje des Steuermanns mit einem großformatigen Kalender an der Wand. Das Foto über den dicken Tagesziffern zeigte einen gut gekleideten Mann in lässiger Pose mit fettiger Haartracht. Alle vergangenen Tage auf dem Kalender waren sorgfältig schwarz oder blau von Reddy durchgekreuzt, die Willi somit als Hafen- oder Seetage unterscheiden konnte. Neugierig öffnete er vorsichtig eine Schublade unter dem Bett. Zu seiner Überraschung war die vollgestopft mit Pornoheften, wie man sie nur in Schweden kaufen konnte. Gegen den Seegang setzte er sich auf den Fußboden in die Ecke zwischen Koje und Vorderschott und blätterte in den Heften.
Jimmy hatte ja recht, stellte er erregt fest, unser Steuermann ist tatsächlich schwul!
Der Decksjunge dachte an seinen Vater, der oft genug über den Paragrafen Hundertfünfundsiebzig berichtet hatte. Von den Abartigen, die sie in der Hitlerjugend gejagt und verdroschen hatten.
Er kramte aufgeregt weiter in der Schublade, sorgsam bedacht, sich die Lage der Hefte und deren Reihenfolge einzuprägen. Es waren nur Männermagazine und einige abscheuliche Hefte über Sex mit Tieren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Alle Hefte hatten Texte in schwedischer Sprache, die er aber teilweise für sich übersetzen konnte. Viele Wörter ähnelten der deutschen Sprache.
Er konnte nicht glauben, was er zu sehen und zu lesen bekam. Die Zeit verging so wie im Fluge.
Zum Glück wusste er den Steuermann auf Seewache im Ruderhaus, zu der er mit ihm zusammen für die Nachmittage eingeteilt war. Das gab ihm Sicherheit und weiter ausreichend Gelegenheit, hochgradig erregt in der interessanten Lektüre zu blättern. Er konnte kaum abwarten, den Kurzen zum Wachwechsel zu wecken und ihm seine Entdeckung mitzuteilen. Beim Abendbrot in der Messe platzte es dann aus Fuzzy heraus. Nachdem er sich zweimal versichert hatte, dass die Klappe zur Kombüse auch fest geschlossen war, sagte er: „Ihr hattet Recht, der Steuermann ist tatsächlich schwul!“ Er grinste mit hochrotem Kopf den Älteren zu. Im Flüsterton berichtete er ausführlich, was sein Kumpel ihm erzählt hatte. Willi ergänzte hier und da mit präziser Beschreibung über den hoch brisanten Inhalt der Schublade unter Reddys Bett.
„Lasst Euch bloß nicht erwischen!“, warnte Frank die Jungs eindringlich. „Und vor allen Dingen Schnauze halten; dass ist kein Spaß hier, dafür kann der Mann in den Knast gehen!“
Zur Bekräftigung nickte Jimmy beipflichtend mit gerunzelter Stirn. „Ich hab’s doch gewusst! Dieser Speckdeckel auf dem Kopf, die Lederjacke! So laufen die Schwulen auf’m Kiez in Hamburg rum!“
Die See draußen wurde merklich ruhiger; MS „Fryga“ lief in die Bucht „The Wash“ ein und die Mannschaft freute sich auf die Ankunft in Kings Lynn. Schon am nächsten Morgen ging es vom Ankerplatz nach einer kurzen Flussfahrt in eine Schleuse, deren Ansteuerung, wie in England üblich, quer zum Strom lag. Dem Kapitän wurde wieder einmal volle Konzentration abverlangt, sein Schiff ohne Beulen dort hineinzumanövrieren. Nach der Schleuse fuhren sie durch zwei hintereinander liegende Hafenbecken, die durch eine enge Durchfahrt verbunden waren.
Zwei Klappbrücken mussten dabei passiert werden, deren stählerne Unterkonstruktion Willi mit Skepsis betrachtete.
„Schaut Euch den ganzen Rost an“, rief er den beiden Mitstreitern auf der Back zu, „ein Wunder, dass die überhaupt hochfuhren!“
„Bloß schnell durch, bevor die uns auf den Kopf fallen!“, meinte der Steuermann witzig zu sein. „Hier im zweiten Becken soll unser Liegeplatz sein!“
Sie passierten ein großes Seeschiff mit schwarzem Rumpf und vielen Doppelmasten.
„Magarete Bolten, schau dir den Klopper an. Ein Wunder, dass die den hier reingekriegt haben!“ Frank war beeindruckt. Der Steuermann kannte das Schiff.
„Das ist ein Autotransporter, der kann in den Luken flache Autodecks als zusätzliche Zwischendecks riggen!“ Er zeigte auf den Schornstein an dem sichtbar groß das VW‑Emblem zu sehen war.
„Die bringen VW‑Käfer in die USA und kommen meistens mit Kohle zurück! Scheißarbeit für die Matrosen!“
Reddy stand mit seinen hellen Lederhandschuhen in die Hüften gepresst. Er schien erfreut, den Jungs auf der Back was Neues erzählen zu können. Augenklimpernd fuhr er fort: „Ich hab aber keine Ahnung, was der Dampfer hier in Kings Lynn zu suchen hat!“
„Kohle löschen und Autos laden!“, erwidere Frank knapp, als er den Greifer vom Landkran aus der Luke Vier des Schiffes auftauchen sah. „Da klötern noch ein paar Brocken an Deck!“
Willi hörte begeistert zu. Er freute sich über jede Ablenkung; denn es war kalt und diesig und die Gebäude um das Hafenbecken wirkten auf ihn alt, vermodert und verwittert.
„Diese vergammelten roten Backsteinbauten sehen aus wie aus dem letzten Jahrhundert“, gab er seinen Eindruck preis.
„Das ist aus dem letzten Jahrhundert!“, klärte ihn der Steuermann auf. Reddy war sonst eigentlich sehr wortkarg. Lag es an seiner sexuellen Ausrichtung oder an seinen Minderwertigkeitskomplexen? Mit seiner untersetzten Figur und dem auffälligem Bierbauch war er eher zurückhaltend mit einer Beteiligung an Gesprächen. Frank konnte den „Neuen“, wie er ihn immer noch nannte, überhaupt noch nicht einschätzen. Allerdings genoss er das Vertrauen des Vorgesetzten beim Festmachen. Im Gegensatz zu Parnemann ließ der Rothaarige ihm freie Hand bei der Handhabung der Leinen.
Nach dem Festmachen hielt sich Willi noch eine Weile bei Klaus in der Kombüse auf. Er schaute dem Koch gerne über die Schulter. Er war vom Ankerplatz bis vor die Schleuse mit dem Steuern des Schiffes beschäftigt gewesen. Er war seit Beginn seiner Wache um Mitternacht auf den Füßen. Die kurze Zeit bis zum Mittagsessen hatte er somit Gelegenheit, bei Klaus eine Brühe abzustauben. Der Decksjunge mochte den Bayern. Für ihn verkörperte er den einzig Gebildeten der Mannschaft neben den Herren der Schiffsleitung. Selbst beim Chief hatte er sich schon öfters die Frage gestellt, wie Maschinist Egon eigentlich zu seinem Patent gekommen war. Insgeheim sprach er ihm völlig die Befähigung als Führer der Maschinenanlage ab. Für Willi verhielt der sich einfach asozial, was die vielen Saufgelage zusammen mit den beiden Decksleuten bewiesen. Der Koch war das Gegenteil, vielseitig interessiert und zurückhaltend beim Alkoholkonsum. Zwar beteiligte auch der sich ab und an an Feiern in Franks Kabine, doch er war dort nie ausfallend gewesen. In der Regel haute er frühzeitig ab und verabschiedete sich in die Koje. Nun war er ja auch jeden Morgen der Erste, der aufstehen und die frischen Brötchen backen durfte. Auf dem Herd brodelte der Samstag-Eintopf und der Koch rührte fleißig in einer tiefen Blechschüssel.
„Des wird’s an Hefeteig! I back morgen a Torten für die Bagasch!“ Er hörte auf zu rühren und deckte die Schüssel mit einem feuchten Geschirrtuch ab: „Jetzt kann er a bisserl wachsen auf der Nacht; so an Teig muss aufgehen, verstehst’s?“
Willi nickte zustimmend: „Kenn ich von meiner Mutter, die backt auch liebend gerne!“
Er nahm einen Schluck aus der Mugg mit der Brühe: „Nur mein Vater, der mag überhaupt keinen Kuchen! Für den gibt’s nur Kartoffel und Schmunzelsupp, damit meint er die braune Bratensauce!“ Klaus öffnete den Deckel vom größten Topf auf dem Herd: „Hier hab I Knochen und Rippen für a Suppenfond gezogen! I pack a bisserl in an extra Topf und frier des ein. Des braucht’s für eure Brühe zum Smoketime, kochst einfach noch amoal auf und fertig iss!“
Er schmiss noch geschälte Zwiebeln und allerlei Kräuter mit in den Topf, die Willi zum Teil kannte. „Gehst heute Abend mit an Land?“ Der Decksjunge war neugierig und er würde sich gerne dem Koch anschließen. „I waas net so recht! Schauen mer mal!“
„Frank und Jimmy wollen auch los, weil Samstag ist und morgen noch nicht gelöscht wird!“
„Passt scho!“, erwiderte Klaus unwirsch, „nur I muss arbeiten; sei froh, dass koa Koch wirst!“
Nach dem Abendbrot war es dann so weit! Der Steuermann hatte der gesamten Decksmannschaft frei gegeben; er selbst würde an Bord bleiben. Egon wollte eigentlich mit, doch da sein Schmierer fehlte, verhinderten nicht aufschiebbare Wartungsarbeiten im Maschinenraum seinen Landgang.
Zu fünft marschierten sie durch das Hafentor. Selbst Klaus hatte sich erbarmt und Willis Drängen nachgegeben, die Truppe zu begleiten.
„Erst links, dann immer rechts halten! Es ist nicht so weit, bis zum Pub kommen wir zu Fuß!“
Frank kannte den Weg, zusammen mit Jimmy hatten sie hier schon öfters „getagt“, wie er stolz verkündete. „Hoffentlich erkennt uns der Wirt nicht wieder! Beim letzten Mal wollte der Dicke nach ‚Time please’ das Lokal nicht verlassen!“
„Du doch auch nicht!“, protestierte Jimmy. Er schwankte leicht und sprach bereits mit schwerer Zunge. „Soll mich wundern, wenn sie den Dicken überhaupt noch irgendwo reinlassen!“, flüsterte der kleine Horst seinem Kumpel zu. Willi runzelte nachdenklich die Stirn, auch er hatte Bedenken! Er selbst fühlte sich erhaben in seiner schwarzen Mao-Look-Jacke mit dem stolzen Stehkragen, die er von Heinz geschenkt bekommen hatte. Nur der Koch konnte mit seinem hellen, dreiviertel langen Trenchcoat in ansehnlicher Bekleidung mit ihm mithalten. Nach dem Regen des Tages mussten sie über unzählige Pfützen im beschädigten Asphalt der Seitenstraßen springen. Dann näherten sie sich einem weit offenen Platz. Ringsherum standen dunkle Häuser, in denen nur vereinzelt bunte Lichter von Geschäften zu sehen waren. Im diesigen Dunkel des Abends erschien ein Gebäude am anderen Ende des Platzes etwas heller. Frank lief zielstrebig darauf zu. Alle Fenster der Kneipe waren mit kleinkarierten bunten Glasscheiben versehen. Sie gewährten keinen Einblick in das Innere des Pubs. Der tiefe dumpfe Bass von Musik im Rhythmus eines Schlagzeugs wummerte einladend durch die Wand. Kein muskulöser Türsteher versperrte den Zutritt durch eine schwere Eichentür. Über dem pompösen Eingang war in großen Buchstaben „Market Place Inn“ zu lesen. Weiblicher Gesang, musikalisch von einer Hammondorgel begleitet, empfing die Seeleute in dem schummrig beleuchteten Raum. Zur Linken war ein u‑förmig gestalteter Tresen erkennbar mit einem Barkeeper dahinter. Zu Jimmys Entzücken war der mit dem Zapfen von etlichen Gläsern Bier beschäftigt! Lässig spielte er mit seiner Zigarette im Mundwinkel und musterte die Neuankömmlinge argwöhnisch. „Der kennt uns nicht! Das ist nicht der Typ vom letzten Mal!“ Frank war erleichtert und teilte seine Beobachtung dem Dicken mit, indem er dem Kumpel hinter vorgehaltener Hand direkt ins Ohr sprach. Er versuchte so, die laute Musik zu übertönen. Willi staunte über den muffig verqualmten Geruch in dem Pub. Ihn verwunderte die plüschige Einrichtung mit einem Gemisch aus Sofas, Sesseln und Stühlen, die um vereinzelte flache Tische standen. Die Kneipe war gut besucht an diesem Samstagabend. Einige begeisterte Zuhörer jubelten der Sängerin zu, die auf einer kleinen provisorischen Bühne im hinteren Teil des Raumes ihr Bestes gab. Willi rümpfte die Nase beim Klang ihrer Version von Mary Hopkins Lied „Those were the days my friend …“
Er hatte den Song an Bord öfters im englischen BBC gehört. Er war momentan wohl sehr populär.
Nichtsdestotrotz, sie sorgte für Stimmung in dem Pub. „Da singt ja meine Mutter besser!“, raunte er dem kleinen Horst zu, der wie gewohnt erst einmal zur Zigarette griff. Die zierliche Person hörte auf zu singen und mischte sich unter die Leute. Scheinbar war sie allen bekannt, denn alles wirkte sehr familiär. In einer weiträumigen Sofaecke saß eine Gruppe junger Frauen, die überschwänglich lustig die Sängerin angefeuert hatten. Mit geschultem Blick musterte Frank die Damen und meinte sogar, einige wiederzuerkennen.
„Da sitzt doch ‚Tripper Ellie’„, flüsterte er leise dem Dicken zu. Der grinste die bekannte Dame bereit lüstern an. Die Seeleute verteilten sich um den Tresen und nahmen auf den hohen Barhockern Platz. Weltmännisch gewandt bestellte Klaus lässig beim Wirt: „Three Pints of Lager!“

Wintertörns

Es war Freitag, der 3. Januar 1969, als die MS „Fryga“ mit einer vollen Ladung Schnittholz aus Hamina ausgelaufen war. Die Eisbrecher „Murtaja“ und „Sampo“ hatten eine feste Fahrrinne zwischen Hamina, Kotka und Helsinki gebrochen, so dass Kurt Bohlken mit seinem Schiff ohne Schleppverbindung in einem Konvoi durchfahren und mithalten konnte. Jeder an Bord hatte dem Alten die Erleichterung ansehen können; kein Propellerschaden und die wegen der Eisfahrt besser dotierte Charter würde sich rechnen. Sie waren auf dem Weg nach Kings Lynn, einem Hafen an der englischen Ostküste.
Willi grämte sich im Schmerz der Trennung von seiner Martina und wurde von den beiden älteren Seeleuten entsprechend gehänselt.
„Moorphy ist verliebt!“, sangen die Alten im Chor; auch der Koch stimmte durch die Küchenklappe in den Gesang mit ein. Knallrot färbte sich vor Verlegenheit und versteckter Wut das Gesicht des schüchternen Decksjungen. Besonders dann, wenn Kumpel Fuzzy unverfroren Willis sexuelle Erlebnisse in der Oberkoje schilderte. Vier Nächte lang war der Kurze Zeuge der eifrigen Auf- und Abbewegungen über seinem Kopf gewesen, was ihn selbst unter der Bettdecke hatte aktiv werden lassen. Das verschwieg er natürlich bei der ausführlichen Berichterstattung über den hörbaren Sex seines Kammerkollegen.
„Ihr glaubt nicht, wie das über mir knarrte und knackte. Ich hab jeden Moment damit gerechnet, dass die Koje durchbricht“, ließ er zum spöttischen Gejohle der Kollegen verlauten.
Der ist doch nur neidisch, dachte Willi und hielt sich selbst zurück mit Schilderungen über seine schönsten Momente in Hamina. Schon oft hatte er im Vertrauen versucht, den Kurzen nach dessen Erfahrungen mit Frauen zu befragen, doch außer verlegenem Grinsen hatte er nie eine Antwort bekommen.
„Außer zum Pissen weißt du doch gar nicht, wozu dein Pimmel da ist!“ Willi konterte erzürnt und benutzte den allgemeinen Umgangston der Decksleute, deren freudige Stänkerei nicht nachließ.
Es ließ nach, als sie anfingen, von den eigenen Erlebnissen mit den „Spritlampen“ zu berichten. „Olga stand auf Blasen!“ Frank verdrehte entzückt die Augen und grinste frivol in seiner feuchten Erinnerung an die langen Nächte: „Die konnte das, mein lieber Scholli!“
„Sag nicht, du hast mit deiner unrasierten Fratze zischen ihren Beinen geschleckt?“, wollte Jimmy wissen und stieß dem Nebenmann freundschaftlich in die Rippen.
„Bin ich bescheuert!“, klärte Frank ihn auf: „Hast du Tripper, Syph und Schanker, bist du lange noch kein Kranker! Erst wenn die Nille dampft und zischt; dann kannst du sagen?“
Er schaute den Dicken auffordern an: „Mich hat’s erwischt!“ Die beiden lachten herzhaft über ihre schamlose Weisheit, die sie gerne den Lehrlingen vermittelten. Klaus hing in der Durchreiche und hörte mit. „Was seit’s ihr für Schweine!“, schüttelte er entrüstet den Kopf, „was für’n damisches Geschwätz.“ Er steigerte sich in Erregung: „Des war net jugendfrei! Was seit’s ihr für Vorbilder?“
Scheinbar empört schloss er die Klappe.
„Was für ein Arsch!“, machte Frank seinem Ärger Luft. „Ihr müsst den mal besoffen erleben, was der dann über seine geilen Weibergeschichten zu erzählen hat! Nicht auszuhalten!“
Die beiden Junggrade hörten gespannt zu. Wie meistens unterhielt sich die Mannschaft lebhaft beim Essen in der Messe. Vergnügt stocherten sie in ihren Tellern, die mit Kohlrouladen, Kartoffeln und Sauce bis zum Rand gefüllt waren. Sie alle vermissten Heinz in ihrer Runde.
„Schade, dass der Schmiermaxe im Urlaub ist“, sinnierte Jimmy nachdenklich, „der hätte seinen Maschinisten im Zaum gehalten!“
Der Decksmann war immer noch sauer, dass Egon ihm in Hamina die Lena zeitweilig ausgespannt hatte. „Das Schwein kommt mir nicht mehr auf Kammer!“
Er haute mit der Faust auf den Tisch zur Bekräftigung seiner Aussage; doch jeder im Raum wusste, im nächsten Hafen wär’ alles verziehen und vergessen. Zu oft hing der Leiter der Maschinenanlage beim Saufgelage im Mannschaftsdeck herum.
Nach Verlassen der Eisgrenze hatte sich die Ostsee ruhig gezeigt. Zwar war der Himmel grau und bedeckt, doch zu Willis Freude war während der ganzen Überfahrt maximal Windstärke Beaufort drei zu ertragen. Jetzt kurz vor Kiel-Holtenau briste es zwar ein wenig auf aus Südwest, doch der Landschutz zwischen Mön und Fehmarn verhinderte einen höheren Wellengang.
„Ich muss mir unbedingt bei Röschmann ein paar Seestiefel kaufen!“, sagte er zu Fuzzy, seinem Tischnachbar, „ich hatte im scheiß Schnee durchweg nasse Füße!“
„Das hätte ich dir vorher sagen können, dass dein Schuhwerk nichts taugt!“, antwortete Fuzzy überheblich. „Schlaumeier!“, erwiderte Willi. Noch immer haderte er mit dem Vorsprung des Kammerkollegen an seemännischer Erfahrung. „Mit den dicken Socken passen mir die alten Gummistiefel auch nicht. Zu eng und arschkalt an den Zehen!“
Der Kurze zeigte bedeutungsvoll auf seine Füße. „Meine Treter hier sind von Röschmann! Die sind wirklich gut mit Stahlkappe über den Zehen!“ Zum Beweis trat er kräftig mit der Hacke des rechten Fußes auf die Spitze des linken Seestiefels.
„Erstklassige deutsche Wertarbeit!“, warf Jimmy ein, „ich hab die Gleichen!“ Er lehnte sich zurück und hob das linke Bein auf die Tischkante. „Nicht mehr die Neuesten, aber immer noch Spitze!“ Liebevoll streichelte er über den Stiefelschafft.
„Nimm deine stinkenden Schweißmauken vom Tisch“, ereiferte sich Frank und stieß das Bein des Nebenmannes vom Tisch. „Und geh endlich mal wieder duschen; die Fliegen fallen schon von der Wand!“ Jimmy strahlte Frank an und formte seine Lippen zu einem Luftkuss.
„Entzückend, wie du dich heute wieder um mich kümmerst!“ Der Dicke sprach übertrieben mit hoher, weiblicher Stimme; er ahmte einen Schwulen gemäß seiner Vorstellung nach.
Just in dem Moment wurde die Klappe wieder aufgeschoben und Reddy zeigte sein Gesicht in der Durchreiche. Brüllendes Gelächter der Mannschaft machte ihn stutzig und verunsicherte ihn. Die Augenlider klapperten nervös unter seinem roten Haarschopf als er sagte: „In der Nordsee ist Sturm angesagt, dreht bitte nochmal gründlich alle Spannschrauben der Deckslast nach! Der Alte möchte kein zweites Ostende!“
„Was weißt du denn von Ostende?“, pöbelte Decksmann Jimmy ihn respektlos an. „Du warst doch gar nicht dabei, als die Ladung verrutschte!“
„Sie, Herr Bronskij! Für Sie immer noch Sie!“, rief er dem Dicken zu und zog sich verärgert zurück. „Des kannst net machen!“ Der Koch trat an die Stelle des Steuermannes und zeigte sich hinter der Klappe. „Des is allerweil dein Vorgesetzter!“ Zweideutig grinste er aus seinem sommersprossigen Gesicht. „A bisserl mehr Respekt derf’s schon sein, gell!“
„Halt du dich da raus!“, mokierte sich der Dicke, „dreh du weiter an deinem Fleischwolf, in meiner Kohlroulade ist zu wenig Gehacktes!“
Frank lachte über den ironischen Konter seines Kumpels neben sich. Anerkennend haute er ihm auf die Schulter. „Der war echt gut!“, pflichtete er ihm bei und unterstütze so Jimmys Andeutung auf die auffällige Menge an Hackfleischgerichten der letzten Tage.
„Frikadelle am Morgen, verbrannte Gummiadler am Abend und mittags Kohlroulade!“, prustete es aus dem Matrosen raus.
„Mit ganz viel Kohl!“, ergänzte der Dicke süffisant. Beide krümmten sich vor Lachen, als der Koch wutentbrannt die Klappe zuschlug. Selbst die beiden Jungs konnten sich nun das Lachen nicht mehr verkneifen. Es war eindeutig erkennbar; das Gericht Kohlroulade gehörte nicht zu den beliebtesten aller Mahlzeiten an Bord.
Die Nordsee erwartete das Schiff mit Sturm aus West Nordwestlicher Richtung mit Stärken um die Beaufort zehn. Warum Kapitän Bohlken die „Fryga“ durch die aufgepeitschte See führte, blieb für die Mannschaft ein ungelöstes Rätsel. Allerdings hielt er den Kurs gegen die hohen Wellen der Windsee bis zum Schutz der englischen Ostküste ganz geschickt direkt von vorne anlaufend. So war die Stampfbewegung des Schiffes bei stark reduzierter Fahrt erträglich. Die Jungs fühlten sich in ihren Kojen wie in einem ewig auf und ab fahrenden Fahrstuhl. Am helllichten Tag ein fesselndes Schauspiel, die haushohen Wellen zu beobachten, wenn sie voll mit weißer Gischt durchzogen vor dem Steven anrollten. Nachts, auf der Seewache, verbunden mit viel Kraft und Geschick, sich im Ruderhaus festzuhalten. Keiner riskierte, unkontrolliert von einer Seite zur anderen durch die Brücke zu fliegen. An Decksarbeit war während der ganzen Überfahrt nicht zu denken. So wurden die beiden Junggrade tagsüber wieder überwiegend mit Messingputzen beschäftigt. Willi war mit den Fensterrahmen in der Steuermannskammer beauftragt. Er war froh, hier allein im Schutz der engen Kabine ohne Aufsicht arbeiten zu dürfen. Die Schiffsbewegung war so stark, dass ihm nicht einmal mehr schlecht wurde. Er fühlte seinen Zwiespalt aus Angst vor dem Kentern des Schiffes und der Sicherheit in der Geborgenheit dieser gemütlich dekorierten Steuermannskammer.
Links an der Außenwand befand sich ein hoher Wandschrank. Nach vorne schaute er beim Putzen durch zwei große, rechteckige Fenster gegen die Bretterenden der aufgetürmten Holzdeckslast.
Es war schummerig und dunkel im Raum durch das beschränkt eindringende Tageslicht. Rechts war die breite Koje des Steuermanns mit einem großformatigen Kalender an der Wand. Das Foto über den dicken Tagesziffern zeigte einen gut gekleideten Mann in lässiger Pose mit fettiger Haartracht. Alle vergangenen Tage auf dem Kalender waren sorgfältig schwarz oder blau von Reddy durchgekreuzt, die Willi somit als Hafen- oder Seetage unterscheiden konnte. Neugierig öffnete er vorsichtig eine Schublade unter dem Bett. Zu seiner Überraschung war die vollgestopft mit Pornoheften, wie man sie nur in Schweden kaufen konnte. Gegen den Seegang setzte er sich auf den Fußboden in die Ecke zwischen Koje und Vorderschott und blätterte in den Heften.
Jimmy hatte ja recht, stellte er erregt fest, unser Steuermann ist tatsächlich schwul!
Der Decksjunge dachte an seinen Vater, der oft genug über den Paragrafen Hundertfünfundsiebzig berichtet hatte. Von den Abartigen, die sie in der Hitlerjugend gejagt und verdroschen hatten.
Er kramte aufgeregt weiter in der Schublade, sorgsam bedacht, sich die Lage der Hefte und deren Reihenfolge einzuprägen. Es waren nur Männermagazine und einige abscheuliche Hefte über Sex mit Tieren. So etwas hatte er noch nie gesehen. Alle Hefte hatten Texte in schwedischer Sprache, die er aber teilweise für sich übersetzen konnte. Viele Wörter ähnelten der deutschen Sprache.
Er konnte nicht glauben, was er zu sehen und zu lesen bekam. Die Zeit verging so wie im Fluge.
Zum Glück wusste er den Steuermann auf Seewache im Ruderhaus, zu der er mit ihm zusammen für die Nachmittage eingeteilt war. Das gab ihm Sicherheit und weiter ausreichend Gelegenheit, hochgradig erregt in der interessanten Lektüre zu blättern. Er konnte kaum abwarten, den Kurzen zum Wachwechsel zu wecken und ihm seine Entdeckung mitzuteilen. Beim Abendbrot in der Messe platzte es dann aus Fuzzy heraus. Nachdem er sich zweimal versichert hatte, dass die Klappe zur Kombüse auch fest geschlossen war, sagte er: „Ihr hattet Recht, der Steuermann ist tatsächlich schwul!“ Er grinste mit hochrotem Kopf den Älteren zu. Im Flüsterton berichtete er ausführlich, was sein Kumpel ihm erzählt hatte. Willi ergänzte hier und da mit präziser Beschreibung über den hoch brisanten Inhalt der Schublade unter Reddys Bett.
„Lasst Euch bloß nicht erwischen!“, warnte Frank die Jungs eindringlich. „Und vor allen Dingen Schnauze halten; dass ist kein Spaß hier, dafür kann der Mann in den Knast gehen!“
Zur Bekräftigung nickte Jimmy beipflichtend mit gerunzelter Stirn. „Ich hab’s doch gewusst! Dieser Speckdeckel auf dem Kopf, die Lederjacke! So laufen die Schwulen auf’m Kiez in Hamburg rum!“
Die See draußen wurde merklich ruhiger; MS „Fryga“ lief in die Bucht „The Wash“ ein und die Mannschaft freute sich auf die Ankunft in Kings Lynn. Schon am nächsten Morgen ging es vom Ankerplatz nach einer kurzen Flussfahrt in eine Schleuse, deren Ansteuerung, wie in England üblich, quer zum Strom lag. Dem Kapitän wurde wieder einmal volle Konzentration abverlangt, sein Schiff ohne Beulen dort hineinzumanövrieren. Nach der Schleuse fuhren sie durch zwei hintereinander liegende Hafenbecken, die durch eine enge Durchfahrt verbunden waren.
Zwei Klappbrücken mussten dabei passiert werden, deren stählerne Unterkonstruktion Willi mit Skepsis betrachtete.
„Schaut Euch den ganzen Rost an“, rief er den beiden Mitstreitern auf der Back zu, „ein Wunder, dass die überhaupt hochfuhren!“
„Bloß schnell durch, bevor die uns auf den Kopf fallen!“, meinte der Steuermann witzig zu sein. „Hier im zweiten Becken soll unser Liegeplatz sein!“
Sie passierten ein großes Seeschiff mit schwarzem Rumpf und vielen Doppelmasten.
„Magarete Bolten, schau dir den Klopper an. Ein Wunder, dass die den hier reingekriegt haben!“ Frank war beeindruckt. Der Steuermann kannte das Schiff.
„Das ist ein Autotransporter, der kann in den Luken flache Autodecks als zusätzliche Zwischendecks riggen!“ Er zeigte auf den Schornstein an dem sichtbar groß das VW‑Emblem zu sehen war.
„Die bringen VW‑Käfer in die USA und kommen meistens mit Kohle zurück! Scheißarbeit für die Matrosen!“
Reddy stand mit seinen hellen Lederhandschuhen in die Hüften gepresst. Er schien erfreut, den Jungs auf der Back was Neues erzählen zu können. Augenklimpernd fuhr er fort: „Ich hab aber keine Ahnung, was der Dampfer hier in Kings Lynn zu suchen hat!“
„Kohle löschen und Autos laden!“, erwidere Frank knapp, als er den Greifer vom Landkran aus der Luke Vier des Schiffes auftauchen sah. „Da klötern noch ein paar Brocken an Deck!“
Willi hörte begeistert zu. Er freute sich über jede Ablenkung; denn es war kalt und diesig und die Gebäude um das Hafenbecken wirkten auf ihn alt, vermodert und verwittert.
„Diese vergammelten roten Backsteinbauten sehen aus wie aus dem letzten Jahrhundert“, gab er seinen Eindruck preis.
„Das ist aus dem letzten Jahrhundert!“, klärte ihn der Steuermann auf. Reddy war sonst eigentlich sehr wortkarg. Lag es an seiner sexuellen Ausrichtung oder an seinen Minderwertigkeitskomplexen? Mit seiner untersetzten Figur und dem auffälligem Bierbauch war er eher zurückhaltend mit einer Beteiligung an Gesprächen. Frank konnte den „Neuen“, wie er ihn immer noch nannte, überhaupt noch nicht einschätzen. Allerdings genoss er das Vertrauen des Vorgesetzten beim Festmachen. Im Gegensatz zu Parnemann ließ der Rothaarige ihm freie Hand bei der Handhabung der Leinen.
Nach dem Festmachen hielt sich Willi noch eine Weile bei Klaus in der Kombüse auf. Er schaute dem Koch gerne über die Schulter. Er war vom Ankerplatz bis vor die Schleuse mit dem Steuern des Schiffes beschäftigt gewesen. Er war seit Beginn seiner Wache um Mitternacht auf den Füßen. Die kurze Zeit bis zum Mittagsessen hatte er somit Gelegenheit, bei Klaus eine Brühe abzustauben. Der Decksjunge mochte den Bayern. Für ihn verkörperte er den einzig Gebildeten der Mannschaft neben den Herren der Schiffsleitung. Selbst beim Chief hatte er sich schon öfters die Frage gestellt, wie Maschinist Egon eigentlich zu seinem Patent gekommen war. Insgeheim sprach er ihm völlig die Befähigung als Führer der Maschinenanlage ab. Für Willi verhielt der sich einfach asozial, was die vielen Saufgelage zusammen mit den beiden Decksleuten bewiesen. Der Koch war das Gegenteil, vielseitig interessiert und zurückhaltend beim Alkoholkonsum. Zwar beteiligte auch der sich ab und an an Feiern in Franks Kabine, doch er war dort nie ausfallend gewesen. In der Regel haute er frühzeitig ab und verabschiedete sich in die Koje. Nun war er ja auch jeden Morgen der Erste, der aufstehen und die frischen Brötchen backen durfte. Auf dem Herd brodelte der Samstag-Eintopf und der Koch rührte fleißig in einer tiefen Blechschüssel.
„Des wird’s an Hefeteig! I back morgen a Torten für die Bagasch!“ Er hörte auf zu rühren und deckte die Schüssel mit einem feuchten Geschirrtuch ab: „Jetzt kann er a bisserl wachsen auf der Nacht; so an Teig muss aufgehen, verstehst’s?“
Willi nickte zustimmend: „Kenn ich von meiner Mutter, die backt auch liebend gerne!“
Er nahm einen Schluck aus der Mugg mit der Brühe: „Nur mein Vater, der mag überhaupt keinen Kuchen! Für den gibt’s nur Kartoffel und Schmunzelsupp, damit meint er die braune Bratensauce!“ Klaus öffnete den Deckel vom größten Topf auf dem Herd: „Hier hab I Knochen und Rippen für a Suppenfond gezogen! I pack a bisserl in an extra Topf und frier des ein. Des braucht’s für eure Brühe zum Smoketime, kochst einfach noch amoal auf und fertig iss!“
Er schmiss noch geschälte Zwiebeln und allerlei Kräuter mit in den Topf, die Willi zum Teil kannte. „Gehst heute Abend mit an Land?“ Der Decksjunge war neugierig und er würde sich gerne dem Koch anschließen. „I waas net so recht! Schauen mer mal!“
„Frank und Jimmy wollen auch los, weil Samstag ist und morgen noch nicht gelöscht wird!“
„Passt scho!“, erwiderte Klaus unwirsch, „nur I muss arbeiten; sei froh, dass koa Koch wirst!“
Nach dem Abendbrot war es dann so weit! Der Steuermann hatte der gesamten Decksmannschaft frei gegeben; er selbst würde an Bord bleiben. Egon wollte eigentlich mit, doch da sein Schmierer fehlte, verhinderten nicht aufschiebbare Wartungsarbeiten im Maschinenraum seinen Landgang.
Zu fünft marschierten sie durch das Hafentor. Selbst Klaus hatte sich erbarmt und Willis Drängen nachgegeben, die Truppe zu begleiten.
„Erst links, dann immer rechts halten! Es ist nicht so weit, bis zum Pub kommen wir zu Fuß!“
Frank kannte den Weg, zusammen mit Jimmy hatten sie hier schon öfters „getagt“, wie er stolz verkündete. „Hoffentlich erkennt uns der Wirt nicht wieder! Beim letzten Mal wollte der Dicke nach ‚Time please’ das Lokal nicht verlassen!“
„Du doch auch nicht!“, protestierte Jimmy. Er schwankte leicht und sprach bereits mit schwerer Zunge. „Soll mich wundern, wenn sie den Dicken überhaupt noch irgendwo reinlassen!“, flüsterte der kleine Horst seinem Kumpel zu. Willi runzelte nachdenklich die Stirn, auch er hatte Bedenken! Er selbst fühlte sich erhaben in seiner schwarzen Mao-Look-Jacke mit dem stolzen Stehkragen, die er von Heinz geschenkt bekommen hatte. Nur der Koch konnte mit seinem hellen, dreiviertel langen Trenchcoat in ansehnlicher Bekleidung mit ihm mithalten. Nach dem Regen des Tages mussten sie über unzählige Pfützen im beschädigten Asphalt der Seitenstraßen springen. Dann näherten sie sich einem weit offenen Platz. Ringsherum standen dunkle Häuser, in denen nur vereinzelt bunte Lichter von Geschäften zu sehen waren. Im diesigen Dunkel des Abends erschien ein Gebäude am anderen Ende des Platzes etwas heller. Frank lief zielstrebig darauf zu. Alle Fenster der Kneipe waren mit kleinkarierten bunten Glasscheiben versehen. Sie gewährten keinen Einblick in das Innere des Pubs. Der tiefe dumpfe Bass von Musik im Rhythmus eines Schlagzeugs wummerte einladend durch die Wand. Kein muskulöser Türsteher versperrte den Zutritt durch eine schwere Eichentür. Über dem pompösen Eingang war in großen Buchstaben „Market Place Inn“ zu lesen. Weiblicher Gesang, musikalisch von einer Hammondorgel begleitet, empfing die Seeleute in dem schummrig beleuchteten Raum. Zur Linken war ein u‑förmig gestalteter Tresen erkennbar mit einem Barkeeper dahinter. Zu Jimmys Entzücken war der mit dem Zapfen von etlichen Gläsern Bier beschäftigt! Lässig spielte er mit seiner Zigarette im Mundwinkel und musterte die Neuankömmlinge argwöhnisch. „Der kennt uns nicht! Das ist nicht der Typ vom letzten Mal!“ Frank war erleichtert und teilte seine Beobachtung dem Dicken mit, indem er dem Kumpel hinter vorgehaltener Hand direkt ins Ohr sprach. Er versuchte so, die laute Musik zu übertönen. Willi staunte über den muffig verqualmten Geruch in dem Pub. Ihn verwunderte die plüschige Einrichtung mit einem Gemisch aus Sofas, Sesseln und Stühlen, die um vereinzelte flache Tische standen. Die Kneipe war gut besucht an diesem Samstagabend. Einige begeisterte Zuhörer jubelten der Sängerin zu, die auf einer kleinen provisorischen Bühne im hinteren Teil des Raumes ihr Bestes gab. Willi rümpfte die Nase beim Klang ihrer Version von Mary Hopkins Lied „Those were the days my friend …“
Er hatte den Song an Bord öfters im englischen BBC gehört. Er war momentan wohl sehr populär.
Nichtsdestotrotz, sie sorgte für Stimmung in dem Pub. „Da singt ja meine Mutter besser!“, raunte er dem kleinen Horst zu, der wie gewohnt erst einmal zur Zigarette griff. Die zierliche Person hörte auf zu singen und mischte sich unter die Leute. Scheinbar war sie allen bekannt, denn alles wirkte sehr familiär. In einer weiträumigen Sofaecke saß eine Gruppe junger Frauen, die überschwänglich lustig die Sängerin angefeuert hatten. Mit geschultem Blick musterte Frank die Damen und meinte sogar, einige wiederzuerkennen.
„Da sitzt doch ‚Tripper Ellie’„, flüsterte er leise dem Dicken zu. Der grinste die bekannte Dame bereit lüstern an. Die Seeleute verteilten sich um den Tresen und nahmen auf den hohen Barhockern Platz. Weltmännisch gewandt bestellte Klaus lässig beim Wirt: „Three Pints of Lager!“

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