Schalkowskis Bewegungen zwischen Zoppot und Asgard

Schalkowskis Bewegungen zwischen Zoppot und Asgard

Eine Zwischenerzählung

Hartmut Schalke


EUR 15,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 102
ISBN: 978-3-99131-145-4
Erscheinungsdatum: 20.01.2022
Die reale Lebensgeschichte eines Mannes aus dem ehemaligen Westpreußen verbindet sich mit der germanischen Frühzeit zu einem Strudel, in dem die Sagenwelt des hohen Nordens eine fantastische Verbindung mit dem historisch korrekten Hintergrund eingeht.
Zwischenspiel #9

„Bis hierher, jetzt ist alles vollendet“, meint Verdandi.
„Gunthár soll vom Leben ausruhen, er hat genug gelebt“, pflichtet Skuld ihr bei.
„Wer sind wir denn, nach über 80 Jahren noch immer lenken zu wollen; wir überfordern ihn und uns. Wir entstammen der Zeit, als Helden unserer bedurften, die niemals Gunthárs Alter erreichten, denen wir in ihrer kurzen Lebensspanne wenig Möglichkeiten einräumen durften, sich zu entwickeln. Das ist nun anders. Er sollte unserem Wunsch entsprechend kein Held sein. Und jetzt sehe ich es klar: Gunthár ist eine verbindende Brücke, eine Drehbrücke … – Lasst Mimir unten in seinem Winkel weiter weissagen wie seit altersher und Nidhögg nagen, wir dagegen sollten das herrliche Schloss des Schicksals neu verputzen und einen prächtigen Park anlegen zu unserer und des Menschen Freude!“
Urd schweigt erschöpft. Sie ist die älteste der drei Nornen, sehr erfahren und stets der Vergangenheit verpflichtet. Nun aber greift sie in Gegenwart und Zukunft ein. Ihr Wort wiegt schwer, und die anderen nicken.
„Wir wissen auch nicht mehr alles.“
Nichts ist mehr so, wie es war. Der sprudelnde Quell wird zum Rinnsal, ein Mensch abgenabelt.


10. Kapitel - Der Übergang zum Paradies

Der Greis taumelt. Er sieht gewaltige Bilder vor sich, träumt: ungebändigte Natur, Urnatur. Er vernimmt Fischgesänge und Möwengelächter, nordische Sirenen, die ihn locken – vor allem die dritte Dimension. Da ist noch ein Ziel, das er in seinem Leben erreichen möchte; tief im Unterbewusstsein war dieser Reisewunsch schon immer vorhanden. Nun ist es hohe Zeit, und er packt zwei kleine Koffer. Ein großer ist ihm zu schwer. Dr. Kreisel hat ihn gründlich untersucht, gut gemeinte Ermahnungen und einen Leinenbeutel voll mit Medikamenten mit auf den Weg gegeben.
Es passt gut, Heinz Günther fährt mit seiner Familie für 14 Tage in ein Ferienhaus am Limfjord in Dänemark und bringt seinen Vater ins etwas weiter nördlich gelegene Hanstholm an der Nordwestspitze Jütlands. Am Hafen besteigt Schalkowski nach einigen Formalitäten das Fährschiff NORRÖNA und richtet sich in der gemütlichen Außenkabine ein. Er nimmt das Buch „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne zur Hand, verlässt die Kabine und geht auf Erkundungstour. Die Fähre gleitet inzwischen aus dem Hafen, die See ist glatt, und am Nachmittag sind alle Wolken verschwunden. Nordisch kühl ist es; aber in der Sonne lässt es sich draußen in Lee gut aushalten. Auf dem Sonnendeck probiert Schalkowski frisch gezapftes Bier von den Färöer-Inseln: Föroya Bjór mit dem Widderkopf als Symbol. Als es merklich kälter wird, wechselt er in den Salon und nimmt an einem der kleinen Tische am großen Fenster Platz. Der Ausblick aufs Meer ist überwältigend, eine Seekrankheit nicht zu befürchten.
Schalkowski liest Jules Verne. Mit Spannung folgt er den Spuren des Professors Lindenbrock und seines Neffen Axel, die durch den Krater des isländischen Vulkans Snaefellsjökull zu ihrer abenteuerlichen Reise in die Unterwelt aufbrechen. – Als das Hungergefühl stärker und hörbar wird, erhebt er sich, noch ein wenig benommen von der Lektüre, die alten Knochen noch ein wenig ungelenk. Beinahe wäre er beim Ausgang neben der breiten Glastür gestolpert und gegen ein Regal gestoßen, wo Bücher eng Seite an Seite stehen, eins liegt quer davor: Halldór Laxness’ Roman „Weltlicht“. Dieser Titel weckt sofort sein Interesse, der große isländische Dichter ist ihm bekannt, eines seiner frühen Werke steht im Bücherschrank in Lübeck.
„Weltlicht“!
Er nimmt das Buch mit.
Nachdem Schalkowski in einem Selbstbedienungsrestaurant auf Deck 5 für sein leibliches Wohl gesorgt hat, zieht er sich in seine Kabine zurück und legt sich mit dem Laxness aufs Bett. Er stockt. Was für ein Zufall! Auch hier ist der Vulkan Snaefellsjökull mit seiner ewigen Schnee- und Eishaube eindringlich beschrieben:

„Wo der Gletscher aufragt, hört das Land auf, irdisch zu sein, und die Erde hat Anteil am Himmel, dort wohnen keine Sorgen mehr.“

Mehrmals liest er diesen Satz, bis er tief in ihm sitzt. Keine Sorgen! Der Übergang zum Paradies! Nun steht es fest, Schalkowski muss zum Snaefellsjökull. Bevor ihm die Augen zufallen, blättert er zurück, um einen Blick auf das Impressum zu werfen: Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung: 2000. – Wie bitte? – Heute ist der 25. Juli 1998. Halldór Laxness’ Roman „Weltlicht“ gibt es noch gar nicht auf dem deutschen Büchermarkt.
Schalkowski ist oft wach in dieser Nacht. Bilder erhellen seinen Kopf. Er steht auf, macht sich fertig für den Salon, wo es am Frühstücksbuffet um diese Zeit noch sehr ruhig zugehen wird. Das Laxnessbuch will er dann wieder zurücklegen. Doch wo ist es? Im Bett oder auf dem Tischchen daneben liegt es nicht. Vielleicht ist es unter oder neben die Koje gerutscht. Eine oberflächliche Suche führt zu keinem positiven Ergebnis. – Das Frühstück fällt reichlich aus.
Nach 30‑stündiger Fahrt nähert sich MS NORRÖNA nachmittags dem Archipel der Färöer-Inseln. Der Himmel ist stark bewölkt, die Temperatur auf 12 °C abgesunken. Die nahen dunklen Färöer liegen unter einer dichten Wolkendecke, die fast bis zum Wasser reicht; nur das felsige Fundament, gegen das die Brandung schäumt, ist auszumachen. Ein starker Wind pustet jetzt über die Backbordseite, Schalkowski wechselt nach Steuerbord. Er möchte die Einfahrt nach Tórshavn miterleben. Eine schwarze Wolke schießt in schneller Folge Blitze ab, ein Begrüßungsfeuerwerk für die Kommenden, Donnerschläge folgen. Die Anreisenden sollen erkennen, wo sie sich befinden. Zwei Drittel der Passage nach Island sind geschafft, Thors Hafen bedeutet Zwischenstopp, einige wenige Passagiere verlassen das Schiff, andere steigen hier zu. Da die Abfertigung der Kraftfahrzeuge einige Zeit in Anspruch nimmt, haben interessierte Gäste zwei Stunden Zeit, auf Landgang zu gehen, mit einer geführten Gruppe oder individuell.
Schalkowski ist allein unterwegs. Auf einem Hügel über dem Hafen thront die alte Festung Skansin mit ihrem weiß-roten Leuchtturm. Einst als Bollwerk gegen Piraten erbaut, diente sie im 2. Weltkrieg den Engländern als Hauptquartier zur Verteidigung der Inseln vor einem möglichen deutschen Angriff. Ein kühler, feuchter Wind streicht um ihre alten Mauern. Er schlägt den Kragen hoch und schaut sich die alten Holzhäuser mit ihren typischen Grasdächern auf der kleinen Halbinsel Tinganes an, an dessen äußerster Spitze sich die alte Thingstätte der Wikinger befand, wo man sich um das Jahr 1000 nach heftigen Diskussionen entschied, das Christentum anzunehmen. – Der Spaziergänger kehrt zurück auf sein Schiff, erfreut sich der Wärme, während die NORRÖNA auf Nebel- und Nachtfahrt gen Island geht.
Das traditionsreiche Hotel Borg in Reykjaviks Stadtmitte gegenüber dem Parlamentsgebäude weiß mit seinem Art‑Déco-Stil zu beeindrucken. Schalkowski ist hoch erfreut und dem kleinen Reisebüro in der Lübecker Mengstraße sehr dankbar, dies für ihn gebucht zu haben. Und seine Sorge, auf Island nichts Schmackhaftes zum Essen vorgesetzt zu bekommen, erweist sich als völlig unbegründet.
Im weitläufigen Saal der Touristen-Information sucht Schalkowski nach Angeboten für Ausflüge ins Land. Prospektmaterial ist in großer Menge vorhanden, auch in deutscher Sprache, doch sein besonderes Ziel ist nicht dabei. Er wendet sich zum großen Tresen und spricht eine junge Frau an, die dahinter sitzt und ihn freundlich aus großen blauen Augen anschaut. Sein englischer Wortschatz ist wenig umfangreich, die Frau lächelt und spricht fließend Deutsch mit ihm. Sie wird seinen Wunsch erfüllen.
Die schneeweiße Hallgrimskirche strahlt vor dem Blau des Himmels. Ein wunderbarer kühler nordischer Morgen! Vor dem Haupteingang steht das Standbild von Leifur Eriksson, dem Entdecker der Neuen Welt rund 500 Jahre vor Kolumbus. Der Nordmann schaut nach Nordnordwest übers Meer, sieht Land am Horizont, eine flimmernde blaue Linie, und nur als Punkt den Vulkan, 100 km entfernt. Auf dem Platz vor dem Gotteshaus ist der Treffpunkt der Ausflügler und die Abfahrt des Busses zur Halbinsel Snaefellsnes. Ein buntes Völkchen hat sich an diesem Standort versammelt, Funktionskleidung in allen Farben, derbes Schuhwerk mit grobem Profil. Schalkowski dagegen sieht normal aus, so, als wäre er zu Hause auf einem seiner regelmäßigen Spaziergänge um den Lübecker Dom. Der Bus ist hochbeinig, verbeult und rostig. Die dreckverkrusteten Radkästen erlauben einen Blick auf die groß dimensionierten Federbeine, geländetauglich. Der junge Fahrer hat sein gewelltes Blondhaar mit einem roten Tuch gebändigt, strahlt seine Gäste gewinnend an und begrüßt sie auf englisch. Er heißt Pétur. Und nun geht es auch schon aus der Stadt hinaus. Auf der Nr. 1 nagelt der betagte Diesel direkt nach Norden, umfährt den malerischen Hvalfjord, um bei Bogarnes die Hauptstraße zu verlassen und Snaefellsnes im äußersten Westen Islands anzusteuern. Über sein brummendes Mikrophon gibt Pétur Erläuterungen zu Interessantem links und rechts der staubigen Piste. Am Fuße des 1 446 m hohen Kegelvulkans Snaefellsjökull stoppt der Bus, Pause, alle steigen aus. Genauso formschön wie geheimnisvoll ragt er über Lavalandschaft und Meer empor. An besonderen Stunden wirkt er aus der Ferne betrachtet unwirklich, mystisch, wenn sein Gipfel mit weißer Mütze klar sichtbar über den tiefen Wolken, die das Land verschleiern, zu schweben scheint. Er schläft. Während der Weichseleiszeit war er zum letzten Male aktiv.
Eine Flotte von kleinen allradbetriebenen Geländefahrzeugen steht bereit, die Gäste, die nicht zu Fuß unterwegs sein wollen, Richtung Gipfel zu befördern. Direkt an den Kraterrand geht es nicht; der holprige Gebirgsweg endet weit unterhalb des Gipfels. Schalkowski steigt ein; er spürt den Sog.
Der kleine graugrüne Jeep kommt nicht mehr weiter, der steinige Weg verliert sich in Geröll und schmutzigem Schnee. Der Fahrer dreht mühsam sein Gefährt und will seinen Gast nach ausreichender Pause wieder talwärts bringen; doch der Gast lehnt ab. Er versucht sich mit aller Kraft verständlich zu machen, verdeutlicht mit Gestik und Mimik seine Absicht, hier oben zu verbleiben, auch über Nacht.
„Bitte keine Diskussion!“, energisch auf Englisch hervorzubringen, gelingt. Der Isländer ist ratlos. Er darf den alten Mann doch nicht seinem Schicksal überlassen in dieser unwirtlichen Natur und der aufkommenden Kälte; trocken wird es bleiben. Andererseits, was soll er machen? Gewalt wird er nicht anwenden. Der Mann kommt ihm auch nicht irre vor, eben anders, etwas unüblich für Touristen. Auf Island dagegen leben viele sonderbare Gestalten, das ist Alltag. Schulterzuckend und mit ungutem Gefühl verlässt er seinen Gast, ruckelt bergab und bespricht sich ausführlich mit Pétur, der die Ausflügler nach und nach in seinem Bus zur Rückfahrt nach Reykjavik versammelt.
Schalkowski schaut sich um, die Aussicht über Halbinsel und Küste ist grandios. Weit unter sich sieht er markante, die Phantasie anregende Lavaformationen am steinigen Strand. Tief atmet er reine Luft und pochende Stille ein, die zeitweise unterbrochen wird vom Rauschen des Windes um festen Fels und Geröll. Bäume und raschelnde Blätter gibt es hier nicht. Er friert nicht, er schwitzt nicht, fühlt keinen Schmerz in den knackenden Gelenken. Die nördliche Sonne steht hoch über ihm, erinnert an Mittag. Er verspürt keinen Hunger. Die Gebäckteilchen, die er sich beim Frühstück beiseitelegte und in Servietten einwickelte und in seiner Jackentasche verstaute, sind am Mann; aber er hat sie vergessen. So gut es irgend geht, bahnt er sich einen Weg über Jahrtausende altes Lava- und noch älteres Tuffgestein. Der Kratergipfel über ihm ist weit und steil, den wird er nicht erreichen können. Der Eingang in eine andere Welt vom Krater aus wird weniger anziehend, der Expedition unter Führung des Professors Lindenbrock wird er nicht folgen. Sein Ziel ist ein anderes.
Der alte Mann kann an einer Stelle mit aufrechtem Gang nicht mehr weiter steigen. Er fällt auf die Knie und überwindet einen scharfkantigen schwarzen Felsen auf allen Vieren. So wird einem möglichen Sturz vorgebeugt, ein Abrutschen gemildert. Er bewegt sich in exponierter Lage, hier ist es zwar steinig, aber trocken. Im Schatten dagegen liegt Schnee. Ein putziger Papageientaucher sitzt auf einer nahen Felsnadel und beobachtet interessiert das ihm fremde Wesen. Als der Alte hinter einem Steinhaufen, der niemals eine ordnende Hand spürte, langsam verschwindet, streicht der Vogel ab ins Weite, vom Meer und seinen Fischen träumend.
Hinter der Geröllhalde gut sichtbar klafft eine Lücke im Bergmassiv, ein schmales, schwarzes Loch, vielleicht der Neugier weckende Eingang zu einer Höhle.
Schalkowski zwängt sich durch den Spalt. Wohlige Wärme umfängt ihn, nicht Licht noch Laut. Mit vorsichtig gesetzten Schritten tastet er sich voran, orientiert sich an rauen handwarmen Felswänden. – Ist dort hinten ein Licht? Oder haben sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und können sie nun durchdringen?
Er findet sich in einer großen Halle wieder, hoch über ihm vermutet er eine steinerne Decke. Von irgendwoher fallen Lichtstrahlen ein, in denen kleine Staubkörnchen tanzen. Er kennt einige Höhlen, Tropfsteinhöhlen sind die interessantesten, weil sie noch leben. Doch diese hier im Vulkan erscheint tot, kein Wässerchen plätschert, kein Tropfen fällt. Das Schmelzwasser vom Gipfel dringt hier nicht ein. Vorsichtig geht er voran, langsam weiter und weiter, einem Lichtstrahl folgend. Der Mensch muss Flüssigkeit zu sich nehmen, ein alter erst recht; zwei bis drei Liter am Tag hat Dr. Kreisel empfohlen. Er hat keinen Durst. Die kleine Plastikflasche mit Mineralwasser steckt ungeöffnet in der linken Jackentasche. Aus der Halle führt ein schmaler Gang ins absolut Dunkle, sechseckige glatte Basaltsäulen weisen den Weg. Dann ist alles schwarz. Er fühlt sich am Gestein entlang, hört sich konzentriert um, vernimmt nur die eigenen mit Bedacht geführten Schritte. Der Boden scheint einigermaßen eben. Er legt seine Jacke ab, die braucht er nicht mehr. – Alles geht seinen Gang. Es gibt nur den einen Weg. Er geht ihn.
Die Zeit verliert an Bedeutung. Warum ist sie eigentlich immer so wichtig gewesen? Schalkowski weiß es nicht mehr. Wie lange ist er hier schon unterwegs, Minuten, Stunden, Tage? Zeitlos schlurft er dahin. Seine Sinne haben ihn jedenfalls nicht verlassen: Er sieht weit vor sich ein kleines Licht, das sich langsam vergrößert, je näher er ihm kommt. Nun hat er die Dunkelheit überwunden, die gleißende Helligkeit schmerzt, seine Pupillen sind überfordert. Vor ihm öffnet sich der Berg, ein Tor, gebildet aus endlos hohen schwarzen Steinsäulen, die glänzen, als seien sie mit Klavierlack überzogen. Er kneift die Augen zusammen. Ein Schwindel zwingt ihn zu Boden, und er streckt sich aus.
Die Distanzen sind unfassbar. Weit schwingen sie aus und hoch in die Luft, Erden überschauend. Ihrem Herrn sind sie verpflichtet, Bericht zu erstatten, was sich tut hier und da. Nun lassen sie sich in die Tiefe fallen, durchstoßen die Aufwinde über der warmen Erde Midgards, gelangen an die Grenze, und ihre Augen notieren das Bild eines liegenden Mannes.
„Einen Menschen habe ich dort noch nie gesehen. Mir scheint, von ihm geht keine Gefahr aus.“
„Trotzdem muss Meldung erfolgen.“
Hugin und Munin kreisen über dem Platz und gleiten dann in die helfenden Hände der Winde.
Allvaters Dasein knickt ein, seine alles bewirkende Kraft schwindet. Er nimmt sich zusammen, richtet sich einatmend wieder auf zu mächtiger Größe. Die Raben nehmen auf seinen Schultern Platz, den Schnabel zum Ohr.
„Bringt den Menschen in Sicherheit! Nach Asgard darf er nicht. Fragt mal bei den viel wissenden Frauen nach! Dann werden wir weitersehen.“
Gunthár erwacht, reibt sich die Augen, die Helligkeit ist gedämpft, Balsam für die gereizten Sehnerven, und er schaut sich um. Ein weißes Zimmer mit hoher Decke, Wände und Teile des Bodens im festen Griff von trockenem Wurzelgeflecht. Er erhebt sich, geht zu einer Fensteröffnung, die einen weiten Blick ins Freie erlaubt. Drei Frauen sitzen auf einer niedrigen Mauer, die zum Haus hin ein Gewässer begrenzt, in das ein schmaler Bach mündet. Sie sind ins Gespräch vertieft, ihre weißen Hände unterstreichen stark Gesagtes. Er tritt zu ihnen.
„Ich wusste, dass du uns irgendwann besuchst. Sei uns willkommen, Gunthár!“
„Es war ein steiniger Weg, du hast ihn bezwungen.“
„Ich lese dir jetzt zu deiner Orientierung einige Verse aus unseren uralten Schriften vor. Höre gut zu! So sagte es einst eine Seherin:

Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün steht er über Urds Brunnen.
Davon kommen Frauen, vielwissende,
Drei aus dem See dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine, die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose, das Leben bestimmen sie
Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.“

Als Urd die vergilbten Papiere raschelnd zur Seite legt, erkennt Gunthár auf dem Deckblatt den Titel der Papiere: Edda.
„Stäbe aus Buchenholz schnitzen wir nicht, auch Lose legen wir längst nicht mehr. Es bricht ein neues Alter an; wir werden vergehen.“
„Das werden wir; aber Menschengenerationen werden bis dahin noch sein; einen Wandel spüre auch ich wohl.“
„Der Wandel ist da: Die Schuld der Menschen zog nicht Vergebung und Sühne nach sich, sondern neue Schuld, Auge um Auge. So war es eine lange Zeit, und es war düster und fatal. Alles war festgelegt, gutes und böses Tun, Krieg und Frieden. Wie leicht können wir dann das Schicksal voraussagen, das Schicksal des Menschen, das die Götter oben in Asgard oder wir drei hier unten bestimmten, nachdem wir die Buchenstäbe geworfen hatten. Der Dimensionen sind heute mehr, unsere Eingriffe rar, exemplarisch vielleicht; denn der Mensch lernt allmählich, Verantwortung zu übernehmen, für sich und andere, mühsam zwar, aber wir werden langsam überflüssig. Unsere Konzentration sei jetzt darauf gerichtet, den Wandel zum Guten zu beeinflussen, also des Menschen Unmündigkeit weiterhin überwinden zu helfen.“
„Ich danke dir, Skuld, für diese wichtigen Worte zur Aufklärung. War nicht auch unser Gast Gunthár einer, der Verantwortung lernte und lebenslang ausübte?“
„Dass er überhaupt hier bei uns ist, zeigt aber auch, wie brüchig unsere Welt geworden ist. Wer hat ihn geführt? – Ich fürchte ein Chaos, in dem es zu den entscheidenden Kämpfen kommen wird – erst zwischen Lichtelben und Schwarzalben, am Ende zwischen Asen und Riesen. In unserer Nachbarschaft nagt der Drache Nidhögg am Fundament der Welt. Der Fenriswolf fletscht die Zähne und zerrt an der Kette. Und Allvater ist schwach geworden“, gibt Verdandi zu bedenken.
„Solange Menschen noch an uns glauben, wird es uns auch geben.“
Urd beendet die Unterhaltung, ein Hoffnungsschimmer streift ihre Gesichter. Gunthár versteht die Nornen. Sein Geist ist da, doch mischt er sich nicht ein in das Gespräch. Was hätte er auch sagen sollen?
Die drei Frauen gehen an die Arbeit. Mit blitzenden Eimern schöpfen sie Schlamm und Wasser aus ihrem See und tragen die vollgefüllten Gefäße hinter das Gebäude. In hohem Bogen fliegt der Inhalt dann durch die Luft und klatscht auf den trockenen Boden aus Erde und Wurzelwerk, neue Nahrung für die Weltesche Yggdrasil. Ohne zu ermüden, arbeiten die Frauen, seit Ewigkeiten.

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