sattgelebt

sattgelebt

Herbert Smetan


EUR 36,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 720
ISBN: 978-3-99130-424-1
Erscheinungsdatum: 29.02.2024
Ein Mann, gezeichnet vom Suizid seiner Ehefrau, die ihn mit in den Tod nehmen wollte, erfüllt sich einen Jugendtraum und geht auf die Reise seines Lebens … dabei findet er nicht nur sich selbst. Im Angesicht der Klimakrise findet er seine Mission.
Prolog


Rede mit mir: Stimme! Spiegel meiner Gedanken! Sag, hast du etwa zu sprechen verlernt? Du mein Gewissen, oder zumindest das, was von dir noch übrig blieb, nach so verdammt vielen Jahren, die mir vorgaukeln, mein Leben gewesen zu sein.
Rede mit mir, zum Teufel noch mal! Rede!
Es gibt niemanden sonst, mit dem zu reden es sich für dich lohnte! Rede mit mir, Stimme aus der Tiefe meiner Seele. Und du, Ausgeburt meiner Fantasie, jenseits des trüben, milchig blinden Spiegels versteckt, gibst du doch tatsächlich vor, ich sein zu wollen? Wie in aller Welt gelangtest du zu dieser geradezu aberwitzigen Annahme?
Ich bin ich – ich bin nicht du! Ich bin Jaro! Merk dir das – ein für alle Mal!
„Nur ein Wort und du glaubst, ja du glaubst, mich zu kennen?
Nur ein Blick und du glaubst, dass du weißt, wer ich bin?
Ich bin ich! Ich bin ich, auf meine Weise!“,
heißt es im Refrain eines Songs von ‚Glasperlenspiel‘. Ich kann’s gar nicht oft genug hören!
Gemach, gemach! Langsam, nur nichts überstürzen! Ignorieren wir zunächst einmal, nur des Simplifizierens wegen, dass bei uns Menschen sechs bis sieben von zehn Anteilen Wasser sind, H2O, und dieses Wasser uns nur geliehen ist! Es gehört uns nicht, und es wird uns auch niemals gehören. Bestehen wir also weiterhin stoisch darauf, dass es sich bei mir, Jaro, tatsächlich um einen leibhaftigen Zeitgenossen des Anthropozäns handele, dann sprächen wir doch immerhin von eins Komma fünf Kilo Überbleibseln nach dem Verbrennen! Über Staub, mein Lieber, über pudrigen, mausgrauen Staub, der sich gemeinhin aus den Elementen Magnesium, Natrium, Kalium, Kalzium, Schwefel, Chlor, Phosphor und so manch anderen seltenen Elementen in Spuren zusammensetzt.
Ja, ja, gemach, gemach! Ich akzeptiere es doch. Ich kenne dieses sisyphosartige Streben der Spezies Mensch nach korinthenkackerischer Genauigkeit nur zu gut. Okay, dann bedienen wir uns ganz einfach der statistischen Methodik und legen in der letzten Konsequenz eine Gauß’sche Normalverteilung über das Gewicht dieser Asche. Dann entsteht vor unseren Augen unversehens die berühmt-berüchtigte Glockenkurve, die den jeweiligen Zeitläufen und Kulturräumen geschuldet hin- und herwabert, gallertartiger Grütze gleich, oder gar aufgeregt flattert wie eine Fahne im stürmischen Wind. In guten Zeiten der x-Achse folgend, sehr weit nach rechts ausladend – in schlechten Zeiten ganz weit links wie an einen Mast an die y-Achse geschmiegt! Mit keiner noch so ausgeklügelten Forensik wird es jemals in Erfahrung zu bringen sein, ob wir es bei diesen konkreten Überresten mit denen eines einst grausamen Despoten, denen eines gemeinen Lumpen, gönnerhaften Wohltäters, mutigen Helden oder gar eines gelehrten Pioniergeists der Wissenschaften zu tun haben sollten. Weder, ob dieser graue Staub hier einst einer Frau oder einem Manne gehörte, ob es ein Farbiger oder ein Weißer, ein Jude, ein Christ oder ein Moslem war. Nichts, rein nichts davon ist von ihr noch zu erfahren. Denn vom Fleische sind wir alle gleich! Und das Fleisch ist schwach! Und vergänglich! Und unser Geist ist doch nur ein Teil von ihm.
Diese eins Komma fünf Kilo Materie, die sich zusammenzufügen begannen, als ein Spermium meines Vaters die Plasmamembran der Eizelle meiner Mutter durchbrach, um mich zu zeugen! Um mich, Jaro, zu erschaffen. Wozu dann noch das aufwändige Werben? Das umständliche, zeitraubende Kopulieren? Weshalb lernt man dann auf alten Pferden reiten? Wenn es doch lediglich darum geht, eine Eizelle zu befruchten?
Und so reifte eben der Zellklumpen aus jenen Tagen zu meinem organischen Corpus heran, in einer zeitlichen Spanne, die nur einem Wimpernschlag gleicht, während das unendliche, grenzenlose Universum von einem Urknall in den nächsten taumelt. Dabei hatte ich noch großes Glück, dass das im Hier und im Jetzt geschah und nicht in grauer Vorzeit! In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges vielleicht oder in jener Apokalypse am Mekong-Delta gar vor weniger als einem halben Jahrhundert? Dann säßest du mit deinem fetten Arsch nicht hier auf diesem ergonomisch gestylten Schreibtischstuhl, mit exklusivem kalbsledernen Bezug. Du hämmertest dann nicht auf einem Möbel aus massivem Kirschholz, traumfängerische Kunde von den Bruchstellen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf die Tastatur deines Keyboards ein, während du an den erlesensten Whiskeys aus deiner penibel sortierten Sammlung nippst.
Jedoch, die Szenarien gleichen sich, bleiben austauschbar, ebenso wie diese verfluchten Zellhaufen in ihnen. Weshalb also überhaupt noch etwas selbst erfahren wollen, wenn man das meiste davon durch bloßes Ausdenken doch viel ungefährlicher rein virtuell erleben kann? Denn nur der geringste Teil dieser eins Komma fünf Kilo trockenen Staubs beherbergte einst jenes Bewusstsein, das deren gesamten Rest versklavte. Und wenn dann dieses große Ganze lichterloh brennt, so formt sich keineswegs ein Diamant aus jener Preziose, die dem Verstand für so lange Zeit Herberge war. Wenn du also nächtens wach liegst, nicht in den Schlaf findest, weil dieser doch kleinste physische Teil von dir nicht den Sinn und den Zweck des Ganzen erkennt, so verzweifelt er auch danach suchen mag, dann wird dir sehr schnell deutlich, wer in deinem Körper der Koch ist und wer nur der Kellner.
‚Eins Komma Fünf‘ ist auch der Name einer Ausstellung in der Kunsthalle zu Mainz, die dem Abstand in seiner Vielschichtigkeit huldigt: bildhaft verschiedene Formen der Interaktion über Distanzen hinweg hinterfragt, und das, was diese zu ändern vermag. So bewegen wir uns doch alle in einem dynamischen System, auf Achsen zwischen zwei Polen. Und diesen Raum, den nennen wir ganz simpel Abstand.
Jedenfalls wäre in diesem räumlichen Kontext der effektivste Weg von einem Pol zum anderen die Direttissima. Ohne Umschweife! Auch ohne nur den geringsten Schnörkel, von der Wiege über die Reproduktion bis hin zur Bahre – basta – und gleich nonstop weiter bis ins Krematorium. Nur weil der Koch für sich möglichst viel aus diesem Leben mitzunehmen gedenkt, hetzt er den Kellner und der zieht seine Kreise? Erforscht vielfältige Abweichungen von der Geraden, erfindet Umwege zu seinem perfiden Amüsement? Unversehens sind wir damit bei den eins Komma fünf Grad als Messzahl dessen angelangt, was unsere Generation gedenkt, als Fußabdruck im Lebensraum unserer Kinder auf dieser Erde zu hinterlassen. Und dann sind wir auch schon bei mir, jenem Zellhaufen namens Jaro angelangt, der eingekerkert zwischen dieser Erkenntnis und jenem sehnsüchtigen Verlangen nach Mehr durch sein Existieren irrt.
Ein jeder von uns wird durch seine unersättliche Gier nach Leben gerade in jenen finsteren Stunden bestimmt, in denen das Bewusstsein in den Schlaf zu finden trachtet. Wir werden dann zum kreativen Pläneschmied, geballt mit Verlangen. Leider versteht unsere Amygdala, die schon in grauer Vorzeit entstand, nicht, reales Leben von virtuellem zu trennen. Weshalb wir ‚Sapiens‘ – ich traue mich kaum noch, dieses Qualitativ in Bezug auf mich in die Tastatur zu dreschen – unter konsequenter Ausnutzung aller uns verfügbaren Mittel möglichst weitreichende Ausschweifungen einzubauen versuchen. Denn durch dieses Mäandern, das verkündet uns der Frontallappen unserer Großhirnrinde, dehnen wir die Distanz zwischen den beiden Polen mittels unzähliger Schleifen aufs Maximalste aus. Und erst dieses Individualisieren unserer Leben macht uns zu dessen Steuermann, macht uns zum vermeintlich Agierenden in der uns unmittelbar verfügbaren Welt. Wären da nur nicht all die anderen Akteure, die ebenso auf ein selbstbestimmtes Leben pochen. Denn sind nicht sie es, die uns zu schieren Erfüllungsgehilfen deren Agenden herabwürdigen oder uns zumindest zu ihren Konkurrenten um die Ressourcen unseres gemeinsamen Lebensraums erklären wollen?
Und so, wie unter uns Milliarden von Menschen, kein einziger Fingerabdruck auch nur annähernd einem zweiten gleicht, ähneln sich ebenso wenig unsere Gene. Deswegen unterscheiden sich, von Mensch zu Mensch, nicht nur die größeren Teile dieser eins Komma fünf Kilo Asche, sondern vielmehr, viel gravierender noch, der fast überschaubarere, geringere Teil, der dereinst in sich jenes Aktivitätsmuster der Synapsen barg, das wir unser Bewusstsein nannten.
Also lasst mich jetzt im Bewusstsein Jaros, zu jenem Laborversuch aufbrechen, den die göttliche Vorsehung ihm einst als sein Schicksal zugedacht hatte. Ganz ohne sein Zutun, irgendeinem völlig idiotischen Zufall geschuldet! Mag es mir als Laborratte doch wenigstens gelingen, mich letztendlich zu emanzipieren, oder triebe ich selbst als Jaro, wie jede andere Ratte auch, am Ende zwischen all den Fäkalien und all dem Unrat um mich herum, in dieser, aus dem nur grob behauenen Fels meiner Dogmen gemauerten Kanalisation gefangen, der omnipräsenten Gravitation folgend, völlig hilflos meiner unabdingbaren Bestimmung entgegen: dem Orkus?
An welcher Stelle also, soll ich, Jaro, allseits unangefochtener, unterhaltsamer Erzähler in feuchtfröhlichen Runden, meine ganz einzigartige Geschichte zu berichten beginnen?
Natürlich ganz am Anfang! Ganz am Anfang? Klar doch!
Bemüht sich nicht jeder Chronist stets um jene Singularität in der Zeit, in der einst das Geschehene seinen Ursprung nahm? Um dann am Ende, niemals ganz ohne Zweifel sein zu können, tatsächlich auch dort begonnen zu haben, wo der Nukleus seiner Geschichte, dereinst wirklich gelegen haben mag?
Springen wir also mitten hinein in das überbordende Leben dieses überaus agilen, facettenreichen und umtriebigen Mannes, dieses Tausendsassas und Generalisten, dieses eitlen Narziss und versuchen erst folglich, jenen Elementen auf die Spur zu kommen, die bei diesem Individuum prägende Bedeutung hatten? Als Getriebener? Niemals als Treibender! Gehen wir also unmittelbar an jenen Punkt zurück, an dem ich, Jaro, damit begann, mein Leben als ungeschminktes Ganzes zu begreifen. Den ganzen Wahnsinn eben, das ganze Dilemma nunmehr. An jenen Punkt meines Lebens also, an dem mein Lebenslicht, tief unter Wasser gedrückt, fast schon erloschen war.
Zu jener entzündlich infizierten Wunde also, von der ausgehend mich Höllenqualen peinigen, sobald ich sie auch nur ganz sanft berühre oder selbst nur in Gedanken streife.
„Vergeh dich ruhig, vergeh dich an dir selbst und tu dir Gewalt an, meine Seele; doch später wirst du nicht mehr Zeit haben, dich zu achten und zu respektieren. Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es aber ist für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen … Diejenigen aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.“
Aus den Selbstbetrachtungen Marc Aurels
(121 bis 180 AD)



Kapitel 1: erwachen


aus dem Jenseits

Mir ist es, als stiege ich, einem Tiefseetaucher gleich, inmitten der brodelnden Blasen meiner eigenen Atemluft aus den Tiefen des Meeres empor. Woher sonst käme wohl dieses pulsierende Dröhnen im Kopf? Woher sonst rührte bloß dieses pochende Rauschen in meinem Schädel? Er schmerzt, als könnte er jeden Augenblick bersten. In den Schläfen und tief in meinen Augenhöhlen oszilliert ein unerträglicher, stechender Schmerz. Als bohrten sich marternd Sonden tief in mein Gehirn. Und meine Netzhaut durchzucken Blitze, als blickte ich in ein heftiges Sommergewitter, das sich imposant über dem gesamten Nachthimmel entlädt. Hatte ich gestern doch die Kontrolle beim Trinken verloren?
Meine Kehle ist trocken und mein Rachen brennt wie Feuer, wenn ich würgend schlucke:
„Nein, ich will jetzt nicht wach werden, um gar keinen Preis. Ich kenne das, wenn ich zu viel getrunken habe; mein Kopfschmerz war dann immer ähnlich dumpf und pochend, aber noch niemals auch nur annähernd dermaßen unerträglich. Sobald ich die Augen öffne, sticht mir das Licht bestimmt die Augen aus! Ich kenne diesen Schmerz, von durchzechten Nächten! Grelles, gleißendes Licht! Nein, ich will jetzt nicht die Augen öffnen, auf gar keinen Fall. Nein, ich will nicht wach werden! Ich will weiter schlafen. Ich bin sehr, sehr erschöpft. Warum schmerzt mir nur der Rücken so sehr? Warum liege ich überhaupt auf dem Rücken? Vielleicht sollte ich doch besser bäuchlings schlafen, wie ich das für gewöhnlich immer tue? Doch wenn ich mich jetzt herumwälze, dann werde ich womöglich wach! Nein, ich will jetzt nicht wach werden. Nein, noch nicht jetzt! Ich will weiterschlafen, ganz einfach nur weiterschlafen, bis all diese Schmerzen irgendwann einmal vorbei sein werden!“
Die Chimären sind so plastisch, als wären sie Realität, und meine Fantasie belebt sie aufs Neue, wann immer ich einen klaren Gedanken zu fassen versuche.
„Was ist das nur für ein Traum? Ich sitze am Steuer eines Düsenflugzeugs, das immer und immer wieder in den Sturzflug übergeht und sich gen Boden schraubt. Was ist das nur für ein Höllenlärm! Meine Ohren dröhnen. Vielleicht rührt mein Kopfweh daher? Ich zerre und reiße immer wieder verzweifelt am Steuerhorn und dennoch rotieren alle Instrumente wie die Zeiger einer hysterischen Pendüle, deren Perpendikel fehlt. Alles rotiert um mich, wie in einem sich wild drehenden und kopfüber purzelnden Kirmeskarussell!“
Mir ist kotzübel, doch inzwischen hat der Druck in meinem Schädel leicht nachgelassen. Ich höre jetzt ein Piepsen und Klingeln wie in einer Spielhalle.
Ich hasse das, wenn alle möglichen Geräte hinter mir her fiepen, bimmeln und piepsen, mich andauernd an etwas erinnern wollen, an irgendwas ermahnen. Ich bin doch schließlich kein Kind! Sogar das Auto bimmelt, wenn ich zum Pinkeln aussteige und dabei die Zündung anlasse. Öffne ich während der Fahrt nur kurz den Gurt, so klingelt es aus dem Panel wie ausgelassene Messdiener aus der Sakristei zu Beginn der Heiligen Messe. Dies hier ist aber nicht mein Auto.
Plötzlich fiept es wie bei der Ankündigung eines Papierstaus im Drucker.
Bin ich am Schreibtisch eingeschlafen? Oder piepst da vielleicht mein Smartphone? Das piept doch ununterbrochen, bei allen möglichen aufgeregten Eilmeldungen der Tagesmedien tut es das. Immer wieder aufs Neue bei jeder noch so banalen Trivialität! Wegen jedes Sackes Reis, der vielleicht in China umgefallen sein könnte, rühren sie die Trommeln, als sei höchste Alarmbereitschaft vonnöten. Oder hat mir jemand eine Nachricht geschickt? Die sind doch im Geiste meist noch schlichter. Kaum eine davon ist dringend oder gar wichtig, geschweige denn beides. Meistens nur Datenmüll für mein inzwischen nach Entschleunigung gierendes Gehirn. Ich will endlich meine Ruhe, ich will doch nur schlafen! Oder bimmelt da jetzt etwa doch der Wecker? Klingt aber eher, als stünde der Kühlschrank in der Küche offen oder die Kühltruhe daneben? Doch das Geräusch gleicht eher dem eines Rauchmelders. Brennt es etwa, dann kämen die Kopfschmerzen doch wohl vom Rauch und Kohlenmonoxid? Und jetzt dringt auch noch unverständliches Stimmengewirr dumpf zu mir durch! Die Feuerwehr? Dann werde ich jetzt wohl aufwachen müssen? Aber ich bin doch noch immer so müde und erschöpft. Ich will nicht aufstehen! Ich spüre, wie meine Halsschlagadern wild pochen und irgendein Piepen hat sich jetzt sogar noch mit deren Rhythmus synchronisiert. An meinem linken Handgelenk spüre ich meine Smartwatch oder was sonst könnte es noch sein? Weckt sie mich etwa gleich mit irgendwelchen haptischen Signalen? Es ist doch noch viel zu früh, um aufzustehen, ich will nicht aufwachen! Nicht jetzt. Weshalb konnte ich überhaupt die ganze Nacht hindurch schlafen, ohne auch nur ein einziges Mal zur Toilette gegangen zu sein? Mein Herz tut weh, sticht, ein beklemmender Schmerz, der bis in die Schulter strahlt. Ich werde jetzt wohl dringend wach werden müssen. Sonst sterbe ich am Ende noch. Was klebt denn da überhaupt auf meinem rechten Handrücken? Ich öffne jetzt doch besser die Augen, langsam und vorsichtig.
Unversehens blicke ich in das unscharf flirrende Antlitz eines Engels.
„Ich wusste überhaupt nicht, dass Engel so arabisch wirkende Gesichtszüge haben. Ach ja, sie waren ja einst in Palästina zu Hause, bevor sie Engel geworden waren, damals zu Christi Geburt, im Stall von Bethlehem!“
„Jaro? Jaro!“, sagt die engelsgleiche Gestalt sehr leise und mit behutsamer Stimme. „Wachen Sie jetzt auf?“, wobei sie mich mit beiden Händen an den Schultern ergreift, um meinen Kopf leicht zu schütteln. Und dann wieder, mit einem Tonfall, als wolle sie mit einem reichlich ungehorsamen Jungen schimpfen: „Wir waren schon in Sorge, dass wir Sie auch noch verlieren würden!“
Ich lese in ihren Augen wie in einem offenen Buch und scheine dort ihre übergroße Zufriedenheit mit der Situation erkennen zu können. Mit ihren Worten bestätigt sie mir meine Einschätzung: „Aber jetzt sind Sie ja da!“, und fügt lapidar hinzu: „Bleiben Sie so, ich hole jetzt den Doktor! Bleiben Sie wach!“, während die engelsgleiche Gestalt schon wieder eilenden Schrittes und wehenden Kittels flugs von dannen eilt.
Ich spüre die Schläuche am rechten Handrücken, wo ein intravenöser Zugang, eine Venenverweilkanüle, gelegt ist. Und dann das Gewirr von Kabeln auf der Brust! Und auf meinem Kopf! Überall Kabel, Kathoden, Schläuche, Kanülen und piepende Geräte. Alles blau, die Instrumente, die Wände, die Bettwäsche und der Mantel des Engels auch … alles himmelblau.
„Bin ich im Himmel angekommen? Nur das Gesicht des Engels sah etwas besorgt aus, kreidebleich, übernächtigt und seine Haare waren rabenschwarz. Engel sind doch blond, mit langen Locken? Und fröhlich frohlockend. Trotzdem, ich scheine tot und im Himmel zu sein!“
Und da kommt schon eine andere, blau gekleidete Erscheinung. Mit ihrem langen Bart und dunklem Teint sieht sie Jesus Christus gleich, so wie auf dem Altarbild in der Kirche Sankt Martin. Sicherlich treten jetzt gleich noch Petrus und der Liebe Herrgott hinzu, um mir alle meine Sünden vorzutragen. Jedoch tritt nur Jesus alleine an mein Bett, gefolgt vom besorgten Engel.
Jesus spricht mit sorgenvoller Stimme zu mir: „Kann er mich hören, versteht er mich?“, während er meine Wangen ziemlich heftig zwickt und tätschelt, links und rechts und links und wieder rechts.
„Jesus scheint ganz offensichtlich mich zu meinen!“, und so versuche ich zu nicken. Als er bestätigt sieht, dass ich offensichtlich ansprechbar bin, fährt er, jetzt mich siezend, fort:
„Sie haben sehr, sehr lange geschlafen“, und fügt nach einer kurzen rhetorischen Pause hinzu: „Wie fühlen Sie sich?“
Nur mit größter Mühe gelingt es mir, zu antworten: „Als hätte ich eine Nacht durchgezecht!“, gleichzeitig jedoch, drängen sich mir bereits die ersten Fragen auf: „Hatte ich einen Unfall? Oder einen Infarkt, etwa einen Schlaganfall?“, meine Sprache stockt, ist abgehackt, verwaschen und ich entnehme ihr ein Lallen.

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