Pina La Straniera

Pina La Straniera

Frühlingswiese

Mirella Kennel Giacomini


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 100
ISBN: 978-3-99146-528-7
Erscheinungsdatum: 31.01.2024
Dies ist die Geschichte von Pina, die sich ihr Leben lang fremd fühlte, aber schließlich doch ihren Platz in der Welt findet. Wir begleiten Pina von der Schweiz über England nach Israel, zurück in die Schweiz und schließlich auf eine Reise der besonderen Art.
Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes sowie die darin vorkommenden Namen und Dialoge sind sämtlich erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.



Vorwort : Aus dem Band der Lyrik


An junge Frauen von einer jungen Frau
An junge Frauen von einer gesetzten Frau
An alle Frauen von Frau zu Frau

Auch Männer lesen gerne hier
Willkommen seid auch alle ihr

Hören hören auf das Herz
Weinen weinen weg den Schmerz

Immerdar und irgendwann
Laufen, springen Pause machen
Innehalten große Zeit

Lernen bei Gelegenheit
Gib nicht auf und lauf nach vorn

Sehe weit und sehe fern, nicht weit weg zeigt sich der Stern
Himmelslichter gold und gelb, helle zeigt das Licht der Welt

Alles hören, fühlen klar immerzu und immer gar

Verstand geht mit mit deinem Herz
Hand in Hand und ohne Schmerz
Alle beide sind die zwei
vereint zusammen mit dir drei

Freude herrscht dann immerzu
Endlich kommt die Seel’ zur Ruh

Menschenkind, um Himmelswillen
Danke dir, du Herrlichkeit

Vorbei der Traum in Lebenszeit
Echtheit kommt hervorgeeilt

Danke dir, du große Macht
Hast das Leben heil gemacht


Mirella Kennel Giacomini Sardinien


1964. Ein kalter Winter, so wie er eben damals noch war. Sehr viel Schnee und die Kinder hatten riesigen Spaß daran. Es konnten noch so richtig große Schneemänner und Schneehütten gebaut werden.
Wie die Kinder damals im Schnee spielten, das wusste Pina noch ganz genau. Pina schaute sehr gerne, wenn es so richtig schneite, zum Fenster hinaus. Sie beobachtete die vielen leichten Schneeflocken, die vom Himmel auf die Erde schwebten. Sie zog sich warm an und ging ins Freie. Es gab so viel Schnee, dass sogar der große, gelbe Bagger kommen musste. Ein richtiger Bagger, der den Schnee auf die Seite schob mit seiner großen Schaufel. Es gab riesige Schneeberge. Dort konnte Pina zusammen mit ihren Freunden richtige Schneehütten bauen und auf den Schneebergen herumklettern. Mit ihren Händen schaufelten sich die Kinder ein großes Loch. Schwerstarbeit für die kleinen Kinderhände. Doch diese selbst erschaffenen Schneehütten waren damals das Größte. Die Kinder konnten sich so richtig in eine andere Welt versetzen und spielen. Die Mama von Pina kam mit einer Thermosflasche, gefüllt mit warmer Bouillonsuppe. Das war ein großartiges Erlebnis. Auch bauten sich die Kinder eine eigene Eisfläche. Sie gossen aus dem Wasserhahn, der dazu gedacht war, einen Schlauch anzuschließen, um die Autos zu waschen, eine Unmenge Wasser auf den von ihnen plattgestampften Schnee. So konnten sie tatsächlich auf ihrem eigenen Eis Schlittschuh laufen. So lange, bis die Sonne kam oder der Hauswart. Dann war es vorbei mit der Kinderfreude. Der Abwart schimpfte wegen des vielen Wassers, das die Kinder verbrauchten, und die Sonne schmolz das Eis. Doch für eine kurze Zeit hatten die Kinder ihre eigene Welt erschaffen.
Es gab viele schöne Momente in der Kindheit von Pina. Immer war irgendetwas los. Sie erfanden Spiele, die sie in der freien Natur auslebten. Da gab es auch die großen Steine und Sandhaufen von der Baufirma. Im Sommer war es nicht der Schnee, der die Kinder faszinierte, es waren die vielen Stein- und Sandhaufen. Nichts war eingezäunt oder abgesperrt. Sie konnten einfach barfuß diese großen Sandhaufen hochkrabbeln und sich so richtig darin wälzen und wieder nach unten rutschen. Mit den großen Steinen bauten sie wieder Verstecke und spielten Ritter. Einmal fand Pina so eigenartige, runde, schwere Gebilde aus rostigem Eisen. Sie spielten Räuber und Hexe mit diesen kostbaren Funden. Es gab drei Tannen vor dem kleinen Birkenwald. Dort musste die Hexe diese Kostbarkeiten verstecken. Die Räuber waren beauftragt, so viele von den runden Gebilden wie möglich zu finden und zu stehlen. Die Hexe aber war immer auf der Hut. Wenn Sie einer der Räuber berührte, musste dieser ins Hexenverlies, das die Kinder zuvor gebaut hatten. Der- oder diejenige, die am meisten von diesen runden, schweren Eisendingern gesammelt hatte, durfte dann die Hexe spielen, und das Spiel ging von vorne los. Auch gab es damals noch diese Schnitzeljagden oder Pfeiljagden. Eines der größeren Kinder nahm eine Kreide oder eben Schnitzel und markierte mit einem Pfeil die Richtung, wo die Kinderbande des Weges ging. So wurde dann diese Jagd durch das ganze Dorf hindurch eröffnet. Es gab dann zwei Gruppen. Die Gruppe, die die Pfeile auf den Boden oder sonst wohin malten und die Route legten, und die Gruppe, die die Bande suchen musste. Es gab damals noch diese Dorfbanden. Die Geißer Bande oder die Schwefelhorde, wie auch immer sie hießen. Sie waren richtige Rivalen und manchmal gingen die Zerstörungen der Hütten von den einen zu den andern so richtig an die Grenzen. Die Erwachsenen mussten eingreifen. Auch spielte Pina viel mit ihrem Ball. Das 10er Spiel gefiel ihr besonders gut. Sie konnte sich stundenlang mit dem Ball und dem Spiel alleine beschäftigen.

Einfach diese klare, kalte Winternacht, die hat sie immer wieder vor Augen. Ganz klar, so klar, als ob es heute wäre. Es schneite und die Nacht war sternenklar. Irgendetwas musste geschehen sein. Pina und ihr Bruder wurden aus dem Schlaf geholt. Warme Kleider, Handschuhe und Mützen, auch ihre warmen Stiefel sollten sie sich anziehen.

Was vorher geschah, das hatte die Kleine vergessen, oder sie wollte es einfach nicht mehr wissen. Pina durfte auf dem Lindauer Holzschlitten sitzen. Auch ihr Bruder sollte das tun. Doch der Bruder lief an der Hand der Mutter in die Nacht hinein. Er bemerkte, dass die Mutter nicht genug Kraft zum Ziehen hatte, wenn beide Kinder auf dem Schlitten saßen. Also lief er tapfer neben der Mutter her. Pina hatte einen kurzen Moment Mitleid mit ihrem Bruder. Doch sie freute sich zu sehr, in der dunklen Nacht auf dem Schlitten zu sitzen, gezogen zu werden und die Schneeflocken zu beobachten. Mit der Zunge versuchte sie immer wieder einige zu fangen, um dann die Kälte und das feine Nass, das auf der Zunge einen kurzen Moment innehielt, zu genießen.

Die Mutter von Pina war eine französisch sprechende Schweizerin, aber der Vater war ein Kind von einer Familie, die schon vor langer Zeit von Norditalien in die Schweiz gezogen war. Schon vor vielen Jahren zog der Urgroßvater von Pina in die Schweiz. Damals waren es die Italiener, die Secondos, die die Arbeiten machten, die die Schweizer nicht machen wollten. Später machten das andere Nationalitäten und die Italiener rückten zu ihrer Erleichterung etwas in den Hintergrund. Die Tschinggen, wie sie damals genannt wurden, auch heute kennt man dieses Wort noch sehr gut, waren zum Arbeiten gut, ansonsten wurden sie ausgegrenzt. Nicht offiziell, aber es gab genug Leute, die die Italiener nicht mochten. Die bringen Schmutz in die saubere Schweiz. Die nehmen den Schweizer Männern die Frauen weg. Damals waren bei den jungen und auch älteren Frauen die feurigen Italiener sehr gefragt. Die Italiener verstanden es, den blonden Schweizerinnen den Schmaus zu bringen.
Auch dass die italienischen Männer den Frauen nachschauten und sogar nachpfiffen, gefiel vielen Männern und älteren Menschen in der Schweiz nicht. Das gehörte sich nicht. Doch manche Frauen fühlten sich geschmeichelt ob der Beachtung dieser Männer. Für die Italiener war das normal. Nichts Negatives oder Schmutziges. Nein, sie liebten einfach die Schönheit der Frau und wussten, wie sie damit umzugehen hatten. Manch sturer, brachialer Schweizer hätte sich eine Scheibe abschneiden können. Die Melodie der Italiener klang durch die Schweiz. Das Fremde, das Neue begann Formen anzunehmen.

Viele Italiener kamen aus dem Norden. Sie arbeiteten als Mineure am Gotthardtunnel. Die Bauarbeiten begannen am 13. September 1872 am Südportal und am 24. Oktober im Norden. Es gab damals schon große technische Schwierigkeiten. Immer wieder gab es Wassereinbrüche und die Beschaffenheit der Gesteinsschichten wechselte manchmal alle paar Dutzend Meter. Auch die Temperatur im Tunnel stieg stellenweise auf 33 °C. Damals erschwerte eine unzureichende Lüftung das Atmen im mit Sprenggasen gefüllten Tunnel. Diese harte Arbeit war damals noch alles andere als lukrativ.
Für die Mineure, die im Gotthardtunnel arbeiteten, war das Schwerarbeit bei großer Hitze, tropischer Feuchtigkeit, permanentem Lärm. Überall war Staub und dichter Werkverkehr. Ohne diese jahrelange, gefährliche Arbeit der Norditaliener wäre ein solches Bauwerk unvorstellbar gewesen. Es gab immer wieder tödliche Unfälle. Oft durch den Werkverkehr, da immer wieder Arbeiter von den Maschinen eingeklemmt wurden. Oder es gab Hitzeerkrankungen. Auch verstarben Arbeiter. 1875 kam es zu einem Streik der Mineure. Sie verlangten einen Franken mehr Lohn pro Tag. Niemand von den Norditalienern ging damals zur Arbeit in den Tunnel. Der Tunneleingang wurde blockiert. Eine überforderte Polizeieinheit schoss in die Menge der Italiener. Vier italienische Arbeiter kamen dabei zu Tode. Mehrere Männer wurden schwer verletzt. Nach dem Vorfall reisten 80 Italiener ab und verließen diese gefährliche Arbeitsstelle. Sowieso mussten die Italiener das meiste von dem verdienten Geld für ihr Essen und die spärliche Unterkunft abgeben. Es blieb fast nichts übrig. Damals verdiente ein Mineur in einer Achtstundenschicht etwa 3,90 Franken. Die für die Arbeit notwendigen Lampen und das Öl mussten die Mineure selbst bezahlen: Dafür wurden ihnen 30 Rappen täglich abgezogen. Es wurden den Männern auch fünf Franken monatlich für ihre Kleidung und zwei Franken für ihre Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz abgezogen. Zwei Drittel von dem kleinen Lohn ging an Essen und die Unterkunft. Eine Frechheit war, dass ein Teil des Verdienstes in Coupons ausbezahlt wurde. Die Norditaliener konnten diese Coupons nur in den betriebseigenen Geschäften einlösen. Für die Arbeiter wurden Quartiere eingerichtet. Es gab kleine, dumpfe Zimmer, in denen sich Betten an Betten reihten. Als Matratze dienten halb verfaulte Strohsäcke. Es gab überall schlechte Luft in den Räumen. Neben den Betten musste gekocht werden, und es herrschte Mangel an frischem Wasser. Der Gestank der Öllampen war unerträglich. Es war schmutzig und es herrschten miserable hygienische Zustände. Viele Arbeiter erkrankten an Silikose, die sie sich im Tunnel durch den omnipräsenten Granitstaub zugezogen hatten. Es gab auch Wurmkrankheiten, Durchfall und Typhus. Die bedenklichen Zustände kamen irgendwann ans Licht, es wurden bessere Bedingungen gefordert. Diese Bedingungen wurden damals nie durchgesetzt. Niemand fühlte sich für diese Sache, diese Menschen zuständig.

Noch heute erinnert ein Monument auf dem Friedhof in Göschenen an Favre (Initiant des Tunnelbaus) und die Opfer. Das Monument besteht aus einer Büste Favres und aus einem Mineur, der davor am Boden sitzt. Die Inschrift erinnert an die Opfer der Arbeit.
Im Tunnel selbst wurden die Orte mit weißer Schrift markiert, und die Daten und Namenskürzel der Opfer des jeweiligen Todesfalles festgehalten.

Giuseppe, Pinas Vater erzählte viele Geschichten von damals. Er sprach noch nicht Schweizerdeutsch und musste in die erste Klasse gehen. Für diesen kleinen, hübschen Jungen war das nicht einfach. Er verstand kein Wort und wurde sofort ausgegrenzt von den anderen Kindern. Das Schlimmste war für ihn jeden Tag der Schulschluss. Er musste nach Hause gehen, doch drei ältere Jungs, die bereits in die Sekundarschule gingen, machten ihm das Leben schwer. Sie passten ihn jeweils auf dem Schulhausplatz ab, zerrten ihn in den Gang der Unterführung. Sie drohten ihm, ihn anzuzünden. Sie schlugen ihn und bespuckten ihn. Er getraute sich nicht, jemandem etwas zu sagen. Auch zu Hause nicht; seinen Eltern konnte er das nicht anvertrauen. Die hätten ihm sowiso nicht geglaubt und sogar noch mit ihm gescholten, wegen seiner Schuld.
Der Schulhauswart war die Rettung. Er beobachtete eines Tages per Zufall dieses Vorgehen. Die drei älteren Jungs wurden zur Rechenschaft gezogen. Von da an hatte der kleine Ausländerjunge seine Ruhe.
Das erste Mal, als er mit einem richtigen Auto fahren konnte, vergaß Giuseppe nie. Giuseppe hatte einen sehr langen Schulweg. Es war ein kalter Winter und der Junge lief im Schneesturm nach Hause. Ein alter VW (Käfer) hielt neben ihm an. Es war der Herr Doktor vom Dorf. Damals gab es nur sehr wenige Leute, die ein Auto fuhren. Dieser Herr Doktor fragte: „Na, kleiner Junge, wo wohnst Du denn? Ich nehme Dich gerne ein Stück mit.“ Giuseppe ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Er stieg in das Auto vom Herrn Doktor und saß das erste Mal in seinem Leben in einem richtigen Fahrzeug. Der Herr Doktor fuhr langsam weiter. Der kleine Junge staunte wegen all der Bäume, Häuser, Sträucher und Menschen, die draußen an ihm vorbeihuschten. Er genoss diese Fahrt ganz aufgeregt und still. Wie in einem Traum fuhr der kleine Junge im Auto vom Herrn Doktor mit. Erst als der Doktor fragte, wo er denn nun wohne, reagierte Giuseppe. Sie waren schon lange an dem Haus, wo Giuseppe wohnte, vorbeigefahren. Der Herr Doktor hielt an und sagte ihm, dass er nicht wenden könnte, er hätte einen Arzttermin. Also stieg Giuseppe aus dem Auto und hatte noch viel länger zurückzulaufen als der Schulweg gewesen wäre. Das war Giuseppe aber so etwas von egal. Er jubelte innerlich und tanzte durch das Schneegestöber. Er hatte eine solche Freude in sich, diese Fahrt erlebt zu haben.
Giuseppes Mutter nähte viele schöne Kleider für ihre Kinder. Auch strickte sie alles Mögliche selbst. Giuseppe erinnerte sich noch, dass er eine Wollmütze gestrickt bekam. Diese Wollmütze hatte einen riesigen Pompon obendrauf. Die Mutter von Giuseppe gab sich so richtig Mühe, dass ihre Kinder saubere und schöne Kleidung trugen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihre Kinder mit schmutzigen, verlumpten Kleidern sah. Jedenfalls Giuseppes Mutter kam aus gutem Hause.
Einmal, auf dem Nachhauseweg, hielt Giuseppe eine Frau am Ärmel zurück. Sie fragte den Jungen, ob sie diese wunderschöne Strickmütze einen Tag ausleihen könne. Sie wolle sich das Muster abschauen. Schüchtern und wohlerzogen gab der Junge ohne Zögern die Strickmütze dieser Frau. Obwohl er grosse Angst hatte, ohne Mütze nach Hause zu gehen. Doch die Mutter von Giuseppe bemerkte nichts. Am anderen Tag, als Giuseppe wieder auf dem Nachhauseweg von der Schule war, stand die Frau wieder am selben Ort vor ihm. Sie gab ihm die Mütze zurück. Als Dank bekam Giuseppe vier Schokoladenköpfe: einen für Giuseppe und die anderen für seine drei Schwestern. Diese Schokoladenköpfe waren mit einer feinen, weißen Zuckermasse gefüllt. So etwas hatte Giuseppe noch nie bekommen. Er dachte nicht daran, den Schwestern etwas abzugeben. Die hatten keine Mütze ausgeliehen. Es war einzig und allein seine Strickmütze gewesen. Also beschloss Giuseppe, alle vier Schokoladenköpfe allein zu essen. Und wie diese ihm schmeckten! Einfach köstlich.

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