Nord-Abenteuer. Retro. 73

Nord-Abenteuer. Retro. 73

Ein Jugendroman

Stephan Tobolt


EUR 24,90
EUR 19,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 218
ISBN: 978-3-99131-829-3
Erscheinungsdatum: 26.01.2023
Karl, Peter, Jule, Fred und Jonny haben sich als „Kontristen“ ewige Treue geschworen. Als es darum geht, einen komplizierten Kriminalfall in ihrem Heimatort zu lösen, stürzen sie sich ins Abenteuer – und ahnen noch nicht, welche Folgen das nach sich zieht.
„Ich muss nicht alles verstehen“, murmelt Karl gerade und drückt sich aus der Hockstellung nach oben, den Kopf dabei zur Seite geneigt, als erneut der Gong ertönt.
„Ich komme, einen Moment, ich komme schon.“
Wie bereits von Jonny vermutet, steht Peter vor der Tür. Karl tritt zu Peter raus unter das Vordach, auf das der Regen einprasselt. Peters Blick schweift über das Anwesen, bleibt für einige Sekunden an dem Springbrunnen hängen, ehe er sich zu Karl dreht.
„Ich bin pitschnass geworden, ich hoffe nur, dass es sich auch lohnt.“
„Seh ich“, antwortet Karl und betrachtet Peter von oben bis unten.
„Ich meine, dass du nass geworden bist. Es regnet ja auch. Ob es sich lohnt, das musst du dann wohl selbst beurteilen.“
Karl rollt mit den Augen, allerdings hat Peter sich bereits wieder in Richtung Auffahrt und Grundstückshecke gedreht, womit er den verräterischen und auch etwas despektierlichen Hinweis des Ex-Mitschülers und gelegentlichen Trainingspartners gar nicht mitbekommt. Peter, in marinefarbenen Shorts und einem farbgleichen T-Shirt mit V-Ausschnitt, an den Füßen blau-weiße Zeha-Turnschuhe, die mit den sich zuneigenden vier Streifen an den Seiten, zeigt mit dem rechten Zeigefinger in Richtung der Stadt.
„Komisch.“
Peter fährt sich mit den Fingern der anderen Hand über den Stoppelhaarschnitt, schüttelt die Tropfen von der Handfläche und wiederholt: „Komisch.“
Karl schaut erst zu Peter, dann in Richtung der Stadt, um den Blick wieder auf Peter zu richten.
„Was meinst du mit ‚komisch‘?“
„Das ist doch eine reine Anliegerstraße hier. Ist doch so?“
Karl nickt bestätigend.
„Reine Anliegerstraße, du hast recht. Mehr Weg als Straße, wenn du mich fragst. Aber die, die hier wohnen, legen wohl auch keinen gesteigerten Wert auf vorbeifahrende Karossen. Da will jeder für sich bleiben.“
„Und doch stehen da vorn, an dem Abzweig links, wo es durch den Buchenhain geht und weiter rauf bis zur Kieskuhle, du weißt schon, zwei Wagen. Ziemlich weit, fast versteckt im überwuchernden Gestrüpp am Straßenrand. Würdest du so parken, das zerkratzt doch den Lack. Und dann mit der Schnauze in Stadtrichtung?“
Peter geht in die Hocke, zieht die knappen Shorts noch ein Stück höher. Auf seiner Stirn eine einzige, tiefgefurchte Falte.
„Und weißt du, was mich am meisten stutzig macht?“
Karl, an den die Frage gerichtet ist, schüttelt vehement den Kopf.
„Da ist etwas im Busch, das sag ich dir. Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Was macht dich stutzig? Hau es endlich raus und spann mich nicht unnötig auf die Folter.“
Karl hat sich neben Peter hingehockt und starrt wie hypnotisiert in die angegebene Richtung. Außer dem vom andauernden Regen und der bereits einsetzenden Dämmerung grau-grün verwaschenen Horizont, von dem er weiß, dass es sich um die Hecke handelt, die das Grundstück umfasst, kann Karl nichts entdecken. Rein gar nichts. Die für diese Zeit noch ziemlich hohe Temperatur sorgt mit über 20 Grad für verdunstende Feuchtigkeit, die vom Boden aufsteigt und alles noch verwaschener macht.
„Ein Wartburg mit CA-Nummernschild und … ein Westwagen. Was sagst du jetzt?“
Peter wartet nicht auf Karls Antwort.
„Du musst schon zugeben, dass diese Kombination, CA-Nummer und Westberliner Nummer mit B-Kennzeichen einen stutzig werden lässt. Hier bei uns in Lüttensee und dann an dieser Stelle.“
Peter springt auf, packt Karl an den Schultern und zieht ihn hoch.
„Ich sage dir, da ist etwas im Busch, da ist etwas faul und zwar so faul, dass es stinkt. Ich kann es förmlich riechen.“
Karl tritt einen Schritt nach hinten, steckt die Hände in die Taschen seiner Cordhose und schüttelt den Kopf.
„Ich rieche nichts. Ich weiß nicht, Peter, meinst du nicht auch, dass du da ein wenig übertreibst? Was soll denn deiner Meinung nach da ablaufen?“
„Weiß ich doch nicht. Weiß ich nicht, aber wenn die Kacke am Dampfen ist, ist es zu spät. Wir sollten die Wägen im Auge behalten. Übrigens, der Westwagen ist ein VW K 70.“
Peter schaut Karl herausfordernd an.
„Ein VW K 70, sagt dir denn das gar nichts?“
In der Zwischenzeit hat sich Jonny auf die Suche nach Karl gemacht. Jonny muss nur den Stimmen, die vom Hauseingang ins Zimmer dringen, folgen. Er zieht die Haustür noch ein Stück weiter auf, bleibt jedoch im Flur stehen.
„Hab ich’s mir doch gedacht.“
„Was hast du dir gedacht, Jonny?“
Peter sieht Jonny fragend an.
„Ach, nicht so wichtig. Komm lieber rein, die neusten Infos warten schon.“
Peter winkt ab.
„Jonny, hier, unser Karl kennt den VW K 70 nicht, kannst du dir das vorstellen?“
Karl zuckt entschuldigend, jedoch nicht sehr überzeugt, mit den Schultern.
„Ja, Peter, Karl ist eben Karl, das ist mal klar.“
Kleine Kunstpause, in der Jonny unter das Vordach tritt, eine Runde um Karl herum dreht und ihn gespielt mitleidig betrachtet.
„Karl, Karl, Karl, du kennst also den VW K 70 nicht. Schlimm, schlimm, schlimm.“
Jonny stößt Peter mit dem rechten Ellenbogen in die Seite. Beide feixen sich an und Karl scheint das geeignete Subjekt ihres Scherzes in diesem Moment zu sein.
„Wenn das nun eine Prüfungsfrage beim Abi gewesen wäre, auweia. Du hättest ziemlich alt ausgesehen. Stimmt doch, Peter, oder?“
Peter grinst und nickt zustimmend.
„Und in welchem Fach hätte diese bescheuerte Frage gestellt werden können?“
Karl ist genervt von den Albereien seiner Kameraden, hat sich jedoch entschlossen, dieses Kinderspiel mitzuspielen.
„Ja, da müsst ihr erst einmal überlegen, ihr Deppen.“
Jonny benötigt eine kurze Denkpause, fasst sich mit den Fingern der linken Hand an sein Kinn, zwirbelt einen nicht vorhandenen Ziegenbart. Dabei beugt er sich leicht nach vorn und schielt für einen Moment zu Peter hoch. Dieser nickt ihm unterstützend zu.
„Ich denke“, Jonny tänzelt weiter um Karl herum, „ich denke, das wäre im Fach Deutsch, deutsche PKW-Geschichte, der Fall gewesen. Natürlich, so ist es.“
Jonny bleibt stehen, richte sich auf und droht Karl triumphierend mit dem Zeigefinger.
„Fünf, Karl, fünf. Sie enttäuschen mich. Setzen.“
Karl ist das Verhalten von Peter, besonders jedoch von Jonny, dann doch zu kindisch, er dreht sich um, in der Absicht, zurück in den Partykeller zu gehen. Peter jedoch lehnt sich nach vorn und fasst ihn blitzschnell am Arm und hält Karl so zurück.
„Komm schon, sei kein Spielverderber. Und du, Jonny, erzähl uns etwas über den VW K 70. Aber jetzt ernsthaft und ohne Scheiß.“
Karl bleibt stehen, dreht sich um und lehnt sich mit dem Rücken an die Hauswand, das rechte Bein angezogen.
„Na, dann schieß los.“
Karl wedelt träge mit der linken Hand und zwinkert Jonny zu.
„Okay, also ernsthaft. Der VW K 70 ist der erste Volkswagen mit Frontantrieb. Der wird ab 1970 auf dem Markt, natürlich auf dem westdeutschen Markt, aber das ist ja wohl jedem von uns klar, verkauft.“
Jonny sieht nacheinander Karl und dann Peter an, so als erwarte er von beiden den Segen, zumindest jedoch den verdienten Beifall.
„Sehr gut, Jonny“, schnalzt dann auch Peter.
„Und es ist der Beginn einer neuen Ära.“
„Ganz klar, bis zu diesem Wagen wurden nur Autos mit Motoren im Heck, luftgekühlt, gebaut“, ergänzt Jonny.
„75 PS“, schiebt er noch hinterher.
„Alles klar und helfen uns nun diese Informationen in irgendeiner Art und Weise weiter, Peter?“
Jonny versteht nicht so ganz, was da zwischen Karl und Peter vor sich geht.
„Könnt ihr mich mal aufklären, was hier los ist?“
„Weißer Wartburg, Kratzer am rechten Kotflügel, CA-Nummer. bronzefarbener VW, Westberliner Kennzeichen“, fasst Peter zusammen.
Karl nickt.
„Alles klar, wir bleiben am Ball.“
„Genau, Peter, wir bleiben am Ball.“
„Könnte ja tatsächlich eine größere Sache dahinterstecken“, ergänzt Peter.
„Kann mich bitte jemand mal aufklären?“
Jonny wirkt tatsächlich irgendwie verzweifelt. Karl überwindet sich und erzählt Jonny kurz und dennoch präzise von Peters Beobachtungen und der Vermutung, dass da etwas mit einem VW K 70 und einem Wartburg faul zu sein scheint. Jonny ist sofort Feuer und Flamme. Karl und Peter müssen ihn hinsichtlich der Reihe von Vermutungen, die in Jonnys Hirn Purzelbaum schlagen, bremsen. Am liebsten wäre Jonny umgehend zu den Wagen gelaufen, um die Autokennzeichen, von denen sich Peter nur die Buchstaben, nicht jedoch die Ziffern gemerkt hatte, aufzuschreiben. Mit Hilfe des Fotoapparats seines Vaters, von dem Jonny weiß, wo er aufbewahrt wird, müssten sie unbedingt Fotos von den verdächtigen Fahrzeugen schießen. Vielleicht können sie durch die Seitenfenster der Wagen irgendetwas Verdächtiges im Innern entdecken. Peter ist es, der Jonny zur Seite zieht und zur Karls Verwunderung auf ihn einredet.
„Lass uns erst mal deine Aktion heute Abend durchziehen. Dann sehen wir weiter. Wenn wir zur Kieskuhle hochwandern, dann müssen wir an den Wagen vorbei. Wir sollten nichts übers Knie brechen. Vielleicht ist an der ganzen Sache gar nichts dran. Wahrscheinlich sogar, dass da nichts läuft. Aber wir bleiben dran, versprochen. Und zu Jule und Fred kein Wort. Noch nicht.“
Jonny denkt einen Moment nach und nickt dann zaghaft, jedoch irgendwie auch unzufrieden.
„Machen wir, aber wir behalten die Sache im Auge.“
Karl ist noch immer nicht so völlig klar, von was für einer Sache erst Peter und dann auch jetzt noch Jonny redet. Plötzlich schreckt er unvermittelt zusammen. Im Halbdunklen der bevorstehenden Nacht und mit Blick auf die düsteren, sich übereinander auftürmenden, zum Teil bereits schwarz gefärbten Wolkenberge, die mehr und mehr zu einer einzigen, bedrohlich erscheinenden Wolkenbank zusammenwachsen, streicht etwas Undefinierbares seine Unterschenkel. An manchen Stellen am Himmel tauchen hell aufleuchtende Blitze auf. Den Reflex unterdrückend, nach der Ursache dieser Berührung zu schlagen, mault er Jonny leise, fast flüsternd an, dass dieser doch endlich mal die Beleuchtung anknipsen möge.
„Man kann ja kaum noch die Hand vor Augen sehen.“
Karl bückt sich vorsichtig, die Augen krampfhaft auf den bedrohlich erscheinenden Himmel gerichtet, immer auf der Hut, einen Anschlag auf sich abzuwehren. In diesem Moment leuchten die Lampen im Flur, unter dem Vordach und entlang der Einfahrt zum Haus in einem warmen, gelblichen Ton auf.
„Na, was machst du denn hier?“
Karl fasst erleichtert nach der Katze, die sich an seine Beine drückt und laut schnurrt. Er hebt sie auf Brusthöhe und streichelt das mokkafarbene Fell des verängstigten Tieres. „Jonny, ich wusste gar nicht, dass ihr eine Katze habt.“
Jonny betrachtet das Tier in Karls Armen.
„Haben wir auch nicht. Das ist ‚der Katz‘ von unseren Nachbarn zur linken Hand. Busselts, beide Architekten. Sie hier in Lüttensee, er in Rostock.“
Peter, dem ‚der Katz‘ und Katzen im Allgemeinen egal sind, stiefelt an Jonny und Karl vorbei ins Haus. Draußen fällt ein feiner, beständiger Regen.
Da kommt noch was, das ist es noch nicht gewesen, denkt Karl und schiebt kopfschüttelnd ‚den Katz‘ in Jonnys Arme. Er folgt Peter und hofft, dass sie nun endlich in Richtung Kieskuhle aufbrechen können. Jonny setzt ‚den Katz‘ ins feuchte Gras.



6. Kapitel
Plötzlich dringt ein Mark und Bein erschütternder Schrei durch die Finsternis …


Freitag, 03.08.1973, 21:00 Uhr bis Sonnabend,
04.08.1973, 08:44 Uhr

Nachdem Jonny, von seiner Idee immer noch begeistert, sein Haenel-Geheimnis gelüftet hat, klärt er Jule, Peter und Fred ausführlich über die geplante, abendliche Kieskuhlenaktion auf. Anschließend verteilt er Munition, Schießscheiben, eine Taschenlampe, einen Einkaufsbeutel mit leeren Flaschen und eine zusammengerollte, graue, ziemlich schwere Plane an die ehemaligen Mitschüler. Das Gewehr, gut verstaut in der ledernen Gewehrtasche und eine Varta-Stabtaschenlampe behält er für sich. Außer Jonny ist keiner der sonst Anwesenden so richtig begeistert von dem Vorhaben, allerdings widerspricht auch keiner von ihnen Jonnys Plan.
So trotten sie dann im feinen Regen und bei einsetzender Dunkelheit bis zum Abzweig in Richtung Buchenhain. Straßenlaternen wurden bisher nicht am Wagnerweg aufgestellt. Jonny ist immer vorne, und leuchtet mit dem tatsächlich ziemlich kräftigen Lichtkegel den vor ihnen liegenden Weg aus. Die zweite Taschenlampe, die Jonny Jule ausgehändigt hat, besitzt bei weitem nicht so eine Leuchtkraft wie die, die Jonny in der Hand hält. Das ändert sich auch nicht, nachdem Fred die vier Batterien im Inneren der Lampe in ihrer Reihenfolge gewechselt hat. Auch ein mehrfaches Klopfen mit der Lampe gegen seine Oberschenkel hilft nicht. Sie müssen sich auf Jonnys Lampe ganz vorn konzentrieren. Fred findet das ziemlich unfair und meckert zudem in einer Tour über seine Römerlatschen, in denen er keinen richtigen Halt findet. Bereits zwei Mal hat er sich wegen dieser Latschen und natürlich wegen Jonnys zweiter Taschenlampe, deren Lichtkegel kaum den Boden erreicht, geschweige denn bis zu Jonny an der Spitze der Gruppe leuchtet, hingelegt.
Peter zieht Karl, als sie die Abzweigung erreicht haben, neben sich und bleibt stehen.
„Die sind weg.“
„Das sehe ich. Und was schlussfolgerst du daraus?“
Peter zuckt mit der Schulter. Das Schulterzucken nimmt Karl gegen das Taschenlampenlicht, das sich mit den anderen jetzt allerdings auf den Weg nach rechts in den Buchenhain verabschiedet, gerade noch so wahr.
„Was weiß ich. Los, lass uns dranbleiben. Wir brechen uns sonst noch alle Knochen. Bescheuerte Idee.“
Peter zerrt an Karls Arm, der daraufhin beinahe gestolpert wäre.
„Langsam. Lass mal los. Ich komm dir nach.“
Karl schiebt Peter vorsichtig nach vorn.
„Nach rechts.“
„Ach nein, was du nicht sagst.“
Peter und Karl haben die anderen nach ein paar Minuten eingeholt. Der Weg durch den Buchenhain ist beschwerlich. Fred hat sich von Jule die Lampe geschnappt und zielt damit immer einen Meter vor sich auf den unebenen, matschigen und somit glitschigen Untergrund.
Zahlreiche Pfützen, die sich durch den anhaltenden Regen gebildet haben, zwingen die Fünf wiederholt von links nach rechts, von rechts nach links oder einfach geradeaus nach vorn zu springen.
„Jonny, du kannst auch mal nach hinten auf den Weg leuchten. Nicht nur immer für dich nach vorn. Das ist doch Mist!“
Fred ist trotz seiner Funzel erneut gestolpert und kniet in einer Pfütze. Der Lichtkegel aus Jonnys Lampe zielt jetzt direkt auf ihn.
„Ich zieh die Latschen aus. Das reicht mir.“
Fred fummelt mit einer Hand an den Verschlüssen der Sandalen.
„Was kann ich dafür, dass gerade heute so ein Mistwetter ist. Wir müssen nur noch durch das Tiefe Holz und dann geht es über die Straße direkt hoch zur Kieskuhle. Wir schaffen das schon. Reiß dich mal ein wenig zusammen.“
Jonnys Mitgefühl für den Kameraden hält sich also deutlich in Grenzen. Auch er hat sich den Abend ein wenig anders vorgestellt.
„Jonny, es reicht wirklich. Gib mir mal jetzt deine Lampe“, fordert Jule, die neben Jonny springt und ohne dessen Antwort abzuwarten, ihm die Taschenlampe aus der Hand reißt.
„Trag du mal dein Gewehr. Ich leuchte den anderen. Du kannst ja die Lampe von Fred nehmen.“
Jonny ist irritiert, hält sich angesichts der Gegebenheiten jedoch zurück.
„Von mir aus, wenn du meinst. Fred, deine Lampe, lass sie mal rüberwachsen!“
Fred, der sich gerade die Hosenbeine seines Trainingsanzuges hochkrempelt, sträubt sich allerdings unerwartet und entschieden.
„Kommt gar nicht infrage. Jule zeigt auch dir den Weg. Die Lampe behalte ich.“
Fünfzehn Minuten später haben sie die Kieskuhle endlich erreicht.
Jonny hatte recht, die an manchen Stellen völlig zugewachsene, steinige und recht steile Auffahrt zur Kuhle meistern sie ohne größere Probleme.
Jetzt stehen die fünf vor der ehemaligen Kiesgrubeneinfahrt, die fast völlig zugewachsen ist, zwischen meterhohen Birkenstämmchen und weit ausladenden Akazien, deren untere Zweige durch den Regen bis auf den völlig durchnässten Boden gedrückt werden.
„Wir hätten eine Machete mitnehmen müssen“, frotzelt Peter, um so gleich als erster einen Weg durch die stachligen Zweige der Büsche zu treten.
„Ihr müsst immer nahe der Birken vorbei, bleibt einfach hinter mir, die Akazien sind sehr stachelig, da kann man sich den ein oder anderen Ratscher holen. Also, Vorsicht. Bleibt dicht hinter mir. Und Fred, zieh besser deine Latschen wieder an.“
Die anderen haben Peter verstanden und folgen ihm der Reihe nach, ohne zu murren, zuerst Jule, ganz zum Schluss Karl. Die Einfahrt erstreckt sich über mindestens zwanzig Meter, wie Karl für sich feststellt. Jule leuchtet mit der Stablampe in der Hand die restlichen Meter durch Akaziengestrüpp, Ginsterbüschen und vorbei an den schwankenden Birkenstämmchen und Ebereschen, die bereits die ersten roten Früchte tragen. Unbeschadet erreichen sie das Innere der Kuhle, die in früheren Jahren, als Kiesgrube, vom ortsansässigen VEB „Aufstieg“ genutzt wurde. Hier wurden Kies, Schotter und auch Sand für die großen Baufirmen im nördlichen Teil der Republik abgebaut, bis zu dem Tag, an dem am nordöstlichen Teil der Grube, die insgesamt eine Breite von circa fünfzig Meter und eine Länge von mehr als zweihundert Meter maß, infolge eines Erdrutsches mehr als zwanzig Meter der Abbaugrube innerhalb weniger Sekunden im anliegenden Lüttenseer See verschwand. Das muss so vor vier oder fünf Jahren gewesen sein und war Gesprächsstoff für mehrere Wochen. Und das nicht nur in Lüttensee, zumal mehrere Bagger und anderes Räumgerät mit in die Lüttenseer Seetiefe gerissen wurden. Zum großen Glück kam damals kein einziger der Arbeiter zu Schaden. Allerdings wurde die Grube, die bis zu zehn Meter in die Tiefe getrieben wurde, nach zahlreichen Gesprächen auf Kreis- und Bezirksebene, vier Wochen nach dem Unglück geschlossen.
Heute fördert der VEB-‚Aufstieg‘ den gefragten und in der ganzen Republik begehrten Rohstoff in einem Kiestagebau nahe Rostock. Für einen überschaubaren Zeitraum nutzte die GST die Grube zum Schießtraining, bei höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Aber das ist lange her. Seit mehr als drei Jahren ist dieser Platz der Natur überlassen worden, der von den Bewohnern von Lüttensee nur Kieskuhle genannt wird. Die riesigen Verbotsschilder, die damals an der Auffahrt zur Grube und direkt am Eingang zur planen, jetzt zugewachsenen Grubenebene in den Kiesboden getrieben wurden, sind in der Zwischenzeit vermodert. Die ehemals schwarze Aufschrift mit den drei überdimensionalen Ausrufezeichen hinter den Worten „Betreten verboten“ ist kaum noch lesbar.
Während Jule und Fred die Gegend mit ihren Lampen regelrecht abtasten und Jonny erst jetzt zugibt, dass er für die Funzellampe noch extra Batterien eingesteckt hat, zieht Peter Karl zur Seite.
„Hast du den weißen Wagen unten am Straßenrand Richtung Lüttensee gesehen?“, fragt Peter.
„Als wir über die Straße rüber sind, habe ich ihn entdeckt.“
Karl schüttelt den Kopf.
„Ne, tut mir leid, ich habe nichts gesehen.“
„Ich könnte wetten, dass dort der Wartburg von vorhin geparkt hat. Den Westwagen habe ich allerdings nicht ausmachen können. Es ging ja auch alles so schnell.“
Peter holt tief Luft.
„Da ist was faul, ich bin mir jetzt sicher.“
„Aber hast du den Wagen denn wirklich erkannt? Ich meine, dass es derselbe Wagen vom Wagnerweg ist?“
Peter überlegt einen Moment.
„Nein, natürlich nicht. Auf die Entfernung und dann auch nur für einen kurzen Augenblick im Lichtschein der Lampe. Aber ich bin mir fast sicher. Wer sonst sollte in einer solchen Nacht und bei dem Wetter hier draußen seinen Wagen abstellen? Das können nur die Typen mit der Westkarre und dem Wartburg sein.“
Karl weiß immer noch nicht so recht, was er von den Beobachtungen und Vermutungen Peters halten soll. Trotzdem neigt er dazu, dem Ex-Mitschüler zu glauben. Aber was würde die Beobachtung Peters in der Schlussfolgerung dann eigentlich bedeuten? Zwei Wagen, wahrscheinlich zwei Männer, vielleicht auch mehr, wohl kaum eine Frau, hecken hier in Lüttensee eine Schweinerei aus? Worum geht es? Was ist hier in der Nähe der Kieskuhle zu holen? Diese Frage stellt er auch Peter.
„Was zum Teufel sollte für Ganoven, gehen wir einmal davon aus, dass wir es hier mit Ganoven der übelsten Sorte zu tun haben, von Bedeutung sein? Zumal in so einer Nacht, bei diesem Schietwetter?“
Peter fasst Karl an die Schulter und drückt ihn in die Hocke.
„Das ist der Punkt. Ganz genau. Was könnte so wichtig oder was so verlockend sein, um in dieser Nacht einen Ausflug an den Lüttenseeer See zu unternehmen. Gehen wir mal ganz rational vor.“

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