Narrenjahre

Narrenjahre

eine junge neugierige Frau im Jahrzehntewechsel in die achtziger Jahre

Lara Milo


EUR 24,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 262
ISBN: 978-3-99107-023-8
Erscheinungsdatum: 30.07.2020
1979 bricht Lara Milo ihre Zelte in Deutschland ab und lebt für zwei Jahre in Großbritannien: Dort in der alternativen Szene unterwegs, aber auch auf ihren Fahrradreisen durch Irland und Schottland entdeckt die Zwanzigjährige ihre persönliche Freiheit.
Die darauffolgende Fahrt gestaltete sich bergig, die Straßen wanden sich in einer dunkelgrünen Stimmung die Hügel hoch, kurz vor Bantry überholte ich einen Trauerzug. Ich bog nach Schull in eine baumarme Landschaft ab und kämpfte bei schwülem Wetter mit einer anstrengenden Steigung. Bald erreichte ich die Südküste und weiter südwestlich sogar einen Strand. Um hier unbesorgt baden zu können, bat ich Leute an einem Campingwagen, ab und zu ein Auge auf mein Fahrrad zu werfen. Daraufhin luden sie mich erst einmal zu dem üblichen Heißgetränk ein. Anschließend badete ich im Meer, sammelte einige Muscheln und schrieb Tagebuch. Als ich mein Fahrrad wieder abholte, gab mir die Frau von der Campergruppe Orangensaft und Kuchen mit auf den Weg. Derart beschenkt konnte ich mich der Herausforderung eines hügeligen Graslandes stellen, in dem ab und an einige Pferdewagen an mir vorbeizogen und Abwechslung brachten.
Als ich gerade ein Elektrizitätswerk passieren wollte, sprach mich eine Frau mittleren Alters an, die auf einer Farm gegenüber wohnte. Sie lud mich in ihr Haus zum Abendessen ein und schimpfte fürchterlich auf die EWG, sie wäre leidenschaftliche Irin und wollte nicht, dass Irland sich dieser anschlösse. Alle Preise müssten dann nämlich angepasst werden.

Irland ist dann doch 2002 EG-Land geworden. Es wird seitdem in Euro bezahlt und Entfernungen nur noch inoffiziell in Meilen gemessen.

Sie eröffnete mir auch, sie wäre Witwe und hätte drei erwachsene Söhne. Spät am Abend reichte sie mir eine Luftmatratze mit den Worten: „Damit können Sie auf der Wiese schlafen, ich finde das richtig abenteuerlich! Auch meine Söhne haben das immer so gemacht.“ Ich hatte nichts dagegen, denn das Wetter passte gut zu dem Plan. Nachts hatte ich merkwürdige Träume, wahrscheinlich wurden sie durch das Summen des Elektrizitätswerkes ausgelöst.

„Was hat die hier zu suchen? Die haben wir ja noch nie hier gesehen!? Ein gerade ausgewachsenes Menschenweibchen … vielleicht hat diese „Jungkuh“ unsere Menschenfrau hergebracht? Wirklich seltsam, dass die nicht im Steinbau schläft …“
Das mochten die Besitzer dieser vier Kuhaugenpaare denken, die im Kreis um mich herum standen und meine Wenigkeit neugierig betrachteten, ihre riesigen Köpfe über mich gebeugt. Aber diese großen gefleckten Tiere schienen friedlicher Natur zu sein, und so versank ich nach diesem Zwischenfall wieder in tiefen Schlaf. Als ich später am Morgen endgültig aufgestanden war, lud mich die Hausherrin zum Frühstück ein und entließ mich bei meinem Aufbruch mit „Slon angus benokt!“ (irischer Abschiedsgruß).
Ich gelangte erneut an die Küste, badete ein weiteres Mal und setzte meine Radtour fort, auf der ich gelegentlich am Wegesrand Walderdbeeren naschte. Kurz darauf fielen mir an der Straße nach Cork bei Clonacilty große bemalte Fenster auf, die zu einem Laden gehörten. Mich machte das neugierig, ich stieg ab und schaute hinein. Hier wurden tatsächlich Bionahrung und andere alternative Dinge angeboten. Im selben Gebäude befand sich auch die Wohnung der Besitzerin, einer jungen Frau namens Alice, die auf das Läuten hin erschien und mich freundlich begrüßte.

Alice ist kaum älter als ich, dennoch schon Mutter zweier kleiner Kinder: Catriona, sechs bis sieben Jahre alt, und Lisa, ein Baby, das momentan in einer Hängematte schläft. Alice begegnet einem sehr offen, hat langes dunkelrotes Haar und eine nette Art. Wir mögen uns auf Anhieb und haben uns viel zu sagen, so erfahre ich von ihr beispielsweise, dass auch in Irland eine Anti-AKW-Bewegung ins Leben gerufen worden ist.
Ich bleibe über Nacht und male für sie ein Bild, während Alice ein feines Essen mit Reis und Pilzen zubereitet. Piet, ihr belgischer Mann, stößt später hinzu, mir fällt sofort auf, dass er schon etwas angegraut ist. Hinterher sitzen wir noch lange bis in die tiefe Nacht draußen und genießen den Sternenhimmel.
Am nächsten Tag erhoben wir uns spät aus den Federn und gönnten uns zu Alices leckerem Brot reichliche Mengen an Kaffee. Ein Engländer traf zu Besuch ein, und Piet erwähnte im Laufe
des Gesprächs mit ihm eine Rudolf-Steiner-Farm bei Wexford. Die Arbeit auf solch einer Farm wäre genau nach meinem Geschmack, verband mich doch in Karlsruhe eine Freundschaft mit Anthroposophen.

Die Teestube, in der ich in Karlsruhe viel von meiner Freizeit verbrachte, wurde von Anthroposophen geführt. Außer einem kleinen Lädchen, in dem Kunsthandwerk wie Batikschals, Tee und Zubehör verkauft wurde, gab es auch einen Raum für Vorlesungen über die Philosophie von Rudolf Steiner, Diskussionen und Dichterlesungen. Ich hatte jedoch bereits vor Karlsruhe Kontakt mit der Anthroposophie durch eine bereits erwähnte Freundin meiner Großmutter und weilte später des Öfteren bei ihr zu Besuch, wobei sie mir viel über die Ideen und Einrichtungen R. Steiners wie z. B. die Waldorfschule erzählte und von Büchern Hermann Hesses (Glasperlenspiel) schwärmte. Auch während der letzten Jahre in dem Internat, wo ich das Abitur und eine Lehre absolvierte, kam ich mit dieser Strömung in Berührung, weil einer unserer Lehrlinge vorher auf einer Waldorfschule gewesen war. Und dementsprechend groß war mein Interesse an dieser Biofarm.

Trotz Massen an Koffein kam ich erst allmählich in die Pötte und bewegte mich nach Dankes- sowie Abschiedsworten von den lieben Leuten langsam Richtung Wexford mit Zwischenstation in Cork. Zu meiner Freude wuchsen auch in dieser Gegend Massen an Erdbeeren am Straßenrand. Dafür gab es ein Stück weiter scheinbar fiese Steigungen: Die Strecke wirkte eben, aber ich kam einfach nicht vorwärts! Dabei war es an diesem Tag windstill, also hegte ich den Verdacht, in den Hügeln könnten Magnete versteckt sein, Riesenmagnete, die Metallgegenstände wie zum Beispiel Fahrräder am Fortkommen hindern. Selbst abwärts ging es schwer voran. Es war wie vernagelt!
Das Problem hatte ich auch 2011 auf der Englandtour. Ich konnte die Ursache bisher nicht ergründen. Da es nicht immer der Wind sein kann, könnte es an der Perspektive liegen.
Trotz dieser widerspenstigen Berge erreichte ich Cork und fuhr, obwohl ich die Großstadt vermeiden wollte, versehentlich in die City rein. Und dann verirrte ich mich zu meinem Ärger auch noch!
Am nächsten Tag radelte ich an Fermoy vorbei in nördliche Richtung nach Michelstown. Hier erwarteten mich ein Berg mit Schlossruine, ein toller Ausblick und weidende Schafe. Die Abendsonne warf bereits lange Schatten, da entdeckte ich bei Ballylanders eine alte Kirche ohne Dach, in der es sich ein Baum gemütlich gemacht hatte.

Diese Kirche stand abseits des Dorfs und ziemlich allein da, ein, vielleicht auch mehrere Bäume ragten aus dem Schiff heraus. Das Dach war wohl schon länger verwittert und zusammengebrochen, die Natur erhob Anspruch auf das „Gottesgebäude“. Mich faszinierte dieser uralte, von noch älteren Mächten zurückeroberte Ort! Ob da wohl Menschen innerhalb dieser Mauern und zwischen diesen Bäumen noch gefeiert hatten? Mir war so etwas noch nie begegnet und ich habe es nie wieder vergessen!

Ungefähr fünf Jahre danach, im Jahr 1984, begann ich, Bilder nicht nur mit Farben zu erschaffen, sondern stattdessen Stoffreste zu verarbeiten. Diese Arbeitsweise wurde mit der Zeit immer ausgefeilter, und ich ließ zudem einige Eindrücke von meiner Reise einfließen. So fand sich schließlich auch jene Kirche auf einem dieser Werke.
Viele Jahre später, 2012, besuchte ich mit einer Gruppe von Leuten, die sich für alte Steine interessierten, die Ruine und vor allem diese alte Kirche, ich erkannte sie sofort wieder, obwohl sie zu dem Zeitpunkt schon so zugewachsen war, dass von den Wänden kaum mehr etwas zu sehen war.

Ich verbrachte die Nacht inmitten von Heu unter dem Giebel einer Scheune bei Tipperary und träumte irrsinnigerweise an diesem feuergefährdeten Ort, Zigaretten zu rauchen. Ich hatte jedoch Glück, die glühende Traumzigarette griff nicht auf das reale Stroh über, außerdem war das Wetter am folgenden Tag zu feucht für solche Sperenzien. Ich musste mich dafür die ganze Strecke durch Wind, Regen und Kälte quälen! In der Gesellschaft von ein paar Holländern wärmte ich mich in Cashel bei einem heißen Tee auf und rastete dann nicht weit von Killenaule entfernt unter einer großen Eiche. Ein starker Wind leistete dem Baum lebhafte Gesellschaft und spielte mit Eindringlingen wie mir ein frivoles Spiel, sodass ich mich schließlich sehr bald aufmachte und weiter durch das widerliche Wetter in die Pedale trat.
Zu allem Überfluss biss mich ein Hund ins Bein, der an einer Farm, wo ich mich nach einer Unterkunft erkundigen wollte, Wache hielt und auf mich zugerast kam. Die Besitzerin keuchte direkt hinter ihm her – „Hat er Ihnen was getan?“ – und wies das Tier zurecht, der Biss indes stellte sich als harmlos heraus. Dessen ungeachtet entschuldigte sich die Farmerin tausendmal wegen der Beißattacke und lud mich in ihr Haus ein, wo ich baden und über Nacht bleiben durfte.

Bei so einem Schietwetter kommt solch eine Einladung besonders gut. Mich erinnerte das später immer an eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury, die von der Venus handelt, wo es zwar heiß ist, aber ein Unwetter das andere jagt. Die Expeditionsteilnehmer, die sich durch den Dschungel quälen, suchen nach sogenannten „Sonnentempeln“, treffen jedoch immer nur Ruinen an. Nachdem die Hälfte der Leute dem Wahnsinn verfallen ist und aufgegeben hat, rettet sich die restliche Mannschaft endlich in ein intaktes Haus. Dort können sie heiß duschen und es sich in trockenen Klamotten bei Kaffee und Rosinenbrötchen gemütlich machen. So krass habe ich es nie erlebt, aber dieses nicht nur herzerwärmende Gefühl, von der Nasskälte in die trockene Wärme aufgenommen zu werden, durfte ich auf der Tour oft genießen. Die Iren sind ausgesprochen gastfreundlich, und auch die Schotten stehen ihnen darin nicht nach. Sogar 2012 auf meiner Wanderung um einen See in Irland wurde mir des Öfteren eine Mitfahrgelegenheit oder Tee angeboten.
Gastfreundschaft stellt eine uralte Sitte dar, die schon im Altertum – bei Homer in der Odyssee zum Beispiel – praktiziert wurde und als heilig galt. Sie gestaltete sich wie ein Handel: Ein Mensch wird aus einer misslichen Lage gerettet, in ein Haus eingeladen und als Gast regelrecht umsorgt. Dafür gibt er seine Geschichte zum Besten, die für die Gastgeber mehr als willkommen ist, weil es ansonsten wenig Möglichkeiten gibt, etwas von der Welt zu erfahren, und so bildet die Situation für sie auch eine Abwechslung. Heutzutage sind wir dermaßen von Informationen überflutet und überfordert, dass zumindest dieser Aspekt wegfällt, es ist aber spannend, Nachrichten aus erster Hand zu erfahren, und es tut auch gut, einem Menschen zu helfen (und ihn dabei kennenzulernen).

Am folgenden Morgen wollte ich auf einem nahe gelegenen Bauernhof Milch kaufen, bekam sie jedoch netterweise geschenkt und wurde auch noch zum Tee eingeladen.
Die Landschaft wurde wieder hügeliger, ich ließ mir daher Zeit und naschte mich durch die Erdbeeren am Straßenrand, später genoss ich sie auch mit Eis in einem Café. An einer Ruderregatta vorbei gelangte ich nach Arthurstown und traf auf der Weiterfahrt am folgenden Tag sowohl Deutsche als auch sehr nette Franzosen, mit denen ich zusammen einen Kaffee trank und auf deren Empfehlung hin Johnstown Castle aufsuchte, das an einem sehr schönen See das Auge erfreute. Schließlich erreichte ich Wexford, eine Stadt, die ich eigentlich umfahren wollte.
Der Gedanke an die biodynamische Farm, von der Piet gesprochen hatte, ließ mich nicht los und da ich schon mal in der Nähe war, fragte ich einen alternativ aussehenden Passanten nach diesem Bauernhof. Er schickte mich zum hiesigen Bioladen, dessen bärtiger Inhaber Martin die Farm zwar kannte, aber deren Adresse nicht im Kopf hatte.
Der Tag war bereits fortgeschritten, und als ich mich mit einem reiselustigen Iren unterhielt, gab der mir unter anderem bei einer Tasse Tee den Tipp, dass man in einem Garten eines leerstehenden Hauses außerhalb der Stadt gut übernachten könnte, was ich dann auch tat.
Am folgenden schönen Sommermorgen fuhr ich wieder nach Wexford hinein und stellte fest, dass es doch ein hübsches Städtchen war, nämlich nicht zu groß und direkt am Meer gelegen. Ich bummelte durch die Stadt, setzte mich in eine Bar und ertrank dort fast in schwarzem Tee. Im Bioladen gab mir Martin nach erfolgreicher Suche die Adresse dieser biologisch-dynamischen „Fairymount Farm“ bei Carlow, die nicht allzu weit nordwestlich von Wexford lag, und einer Handwerkerkommune bei Arcklow, welche sich Richtung Dublin befand.
Da ich in einigen Tagen ohnehin in dieser Großstadt sein musste, um das Rad zurückzubringen, beschloss ich, zunächst zur Farm zu trampen. Ich stellte das Rad bei Martin unter und bevor ich den Daumen raushielt, lernte ich auf einer Baustelle den Arbeiter Jack kennen, einen Typen mit rotem Zopf. Er war in der irischen Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert und machte mich auf ein Meeting am selben Abend aufmerksam.

Bereits in Karlsruhe wurde über Atomkraft diskutiert. Mein Freundeskreis innerhalb des Teestuben -Zirkels war selbstverständlich dagegen, die meisten meiner Kollegen in den Fabriken hingegen für Kernkraft. Das größte Problem bei dieser ohnehin schon gefährlichen Form der Energiegewinnung ist die Beseitigung bzw. Lagerung des Atommülls, weil alle Behälter irgendwann korrodieren und die Halbwertzeit der strahlenden Elemente in keiner Relation zur Dauer eines Menschenlebens steht.

Nach dieser Begegnung wurde ich sogleich von zwei sehr gesprächigen Jungs mitgenommen und wir steckten schnell in einer Diskussion um die Kernspaltung. Ich versuchte, ihnen halbwegs erfolgreich begreiflich zu machen, wie gefährlich die Nuklearenergie ist. So verging die Zeit wie im Fluge und die Biofarm war schnell erreicht. Colin, ein junger Typ mit gnomigen Gesichtszügen, der zufällig am Eingang stand, führte mich sofort auf der Farm herum. Das Gelände entpuppte sich als ausgesprochen weitläufig: Felder, Obstgärten, ein beeindruckendes Wohnhaus mit mehreren Flügeln, sogar einige Kotten und Wohnwagen gehörten dazu. Während der Besichtigung trafen wir auf einen freundlichen, hageren, älteren Herrn mit Pferdegesicht und Brille, den mir Colin als den Besitzer Tony Dayton vorstellte. Er lebte und arbeitete hier mit seiner Familie, Helfern und Gästen. Als Gast bewirtet zu werden und hier mit anzupacken, kostete ein Pfund pro Nacht, und so beschloss ich, diesen Hof im Spätsommer aufzusuchen.
Auch auf dem Rückweg kam ich gut weg und fand nach einer kurzen Suche in Wexford den Ort, wo das Treffen stattfinden sollte. Es erwies sich als sehr informativ und spannend. Obwohl die politische „Situation“ in Großbritannien und in Deutschland unterschiedlich war, ähnelten sich die Probleme der Briten und Deutschen. Auch hier wurde die Gefahr nicht ernst genommen und immer wieder versucht, über die Köpfe der Leute hinweg zu entscheiden. Daher plante die No-Nukes-Bewegung, also Bewegung gegen Kernkraft, ein Festival am Carnsore Point nahe Wexford, wo die Regierung das AKW bauen lassen wollte.
Nach dem Meeting kehrten Jack, weitere Leute und ich in ein Pub ein – für mich Premiere – und genehmigten uns ein Guinness. Eine ehemalige Schulfreundin aus dem Internat, die bereits öfters Ferien in Irland verbracht und immer wieder von diesem Gebräu geschwärmt hatte, fiel mir dabei ein. Jetzt durfte ich dieses Getränk selbst genießen: Es hatte eine dunkelbraune Farbe, mit viiiel Schaum schmeckte es bitter, kräftig und etwas malzig – besonders halt. In der Kneipe traf ich unter anderem einen Deutschen, der hier schon zehn Jahre lebte, was mich sehr beeindruckte. Unser Weg führte uns danach durch die Stadt bis zu einem Haus mit jungen Leuten, in dem ich auch die Nacht verbringen durfte. Bei einem der Jungs, die hier lebten, fiel mir auf, dass er irre gut zeichnete.
Mit diesem Zeichner hockte ich morgens bei einem Kaffee in einer Bar zusammen. Eigentlich hätte ich es nett gefunden, mit ihm gemeinsam Richtung Dublin zu radeln, er hatte aber in Cork etwas zu erledigen und schlug daher die entgegengesetzte Richtung ein. Nach angenehmer Fahrt erreichte ich gegen Mittag die Handwerkerkommune „Askamore House“. Eine hässliche Fabrik, die ich einige Meilen zuvor passiert hatte, verhunzte die ursprünglich schöne Landschaft und wirkte sich auch auf die umstehenden Bäume verheerend aus. Das Gehöft der Kommune hingegen machte einen einladenden Eindruck auf mich.
Ein schlaksiger Brillentyp namens Daniel führte mich zu einer der Hütten, die in einer dorfähnlichen Struktur um ein größeres Gebäude angesiedelt waren, wo einige Wohnwagen das idyllische Bild vervollständigten. In diesem Häuschen lebte eine junge Korbmacherfamilie, die ihre Waren im Dorf veräußerte, bestehend aus Jill, Peter und ihrem Baby Billy. Zurzeit waren die Eltern mit einem Babykorb aus Peddigrohr für ihren kleinen Sohn beschäftigt. Während meines Aufenthaltes bei ihnen erfuhr ich, dass Daniel im chinesisch-japanischen Stil auf Holz malte, seine Bilder konnte er allerdings schwer unter die Leute bringen. Ich übernachtete in einem der Caravans, während draußen ein herrlicher Sternenhimmel prangte.
Am nächsten Morgen servierten meine Gastgeber zum Frühstück Ziegenmilch, die sehr gewöhnungsbedürftig schmeckte, nämlich nach Ziege. Ich unterstützte Jill und hütete den Kleinen, damit die Mutter sich der Hausarbeit widmen konnte, dabei plauderten wir. Beim Abschied und als Dank ließ ich ihr zwei meiner Kleider da, die ihr gut gefielen. Auch bei dieser Kommune nahmen sie ein Pfund die Nacht, bei solchen Preisen würde ich gerne nochmal für eine Weile vorbeischauen.
An jenem schönen Sommertag führte mein Weg direkt nach Dublin. Der Wald, der zwischendurch für etwas Abkühlung sorgte, hätte es mit Mittelerde aus „Herr der Ringe“ aufnehmen können. Seine Bäume mit ihren krummen, starken Stämmen konnten bestimmt bereits eine beachtliche Anzahl von Jahresringen aufweisen, ihre verschlungenen Zweige erweckten den Eindruck von Eigenleben, aber nur verstohlen, wenn man gerade nicht hinschaute.

Ebenso an Mittelerde erinnerten mich Hinweise in Südengland (2011), die besagten: „Attention! Plants crossing the street!“ Da mich dort an vielen Straßen auf beiden Seiten Hecken begleiteten, hätte es durchaus vorkommen können, dass sich mir eines dieser mannshohen Gewächse in den Weg stellte oder ein Brombeerstrauch, sehr zum Ärger für Radfahrer, langsam über die Straße kroch. Leider wurde mir diese fantastische Illusion durch einen britischen Bekannten zunichte gemacht, der mir erklärte, dass mit „plants“ auch Planierraupen bezeichnet werden. Ganz unrealistisch ist diese Vorstellung jedoch nicht. Bei idealen Bedingungen können einige Rankgewächse eine gehörige Kriechgeschwindigkeit hinlegen.
Derart können auch seltsame Berge wie die vor Cork die Fantasie in Schwung bringen, aber dazu später.
Zu der Zeit, als ich Großbritannien bereiste, waren Bücher wie „Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien ausgesprochen populär, jeder Zweite, den ich kannte, las und liebte (einige allerdings hassten) sie. Aber auch „Der König von Camelot“, „Momo“ von Michael Ende oder „die Brautprinzessin“ wurden gern gelesen. Die Figuren waren in diesen Geschichten nicht so schwarz-weiß dargestellt und in Gute und Böse getrennt, die Handlung war außerdem etwas verfremdet. Heutzutage liest man dagegen vorzugsweise Krimis. Die Beschreibung der Figuren regte damals ständig meine Vorstellungskraft an: Er oder sie war so unglaublich schön, das hatte die Welt noch nie gesehen … da kann sich jeder Schönheit nach eigenem Geschmack vorstellen. Und die „Schwarzen Reiter“ z. B. sind Wesen, die Grauen verursachen, die Vorstellungen variieren und man sucht in der Realität Vergleichbares, was dem Beschriebenen annähernd entspricht. Es steckt meiner Meinung nach immer ein Kern Realität in Fantasien und Mythen. Drachen sind zum Beispiel solch ein Mythos, sie sind wahrscheinlich durch die Verbindung von Sauriern und Vulkanen entstanden, die einen sehr alt, die anderen sehr gewaltig, beide furchterregend, aber irgendwie besitzen sie auch eine besondere Schönheit, wie die archaischen Drachen bei „Game of Thrones“, die chinesischen Glücksdrachen oder „Fuchur“ aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. Die Fantasy-Erzählungen haben sicher viel mit Psychologie zu tun, mit Archetypen und Orten wie dem Paradies oder Atlantis am Ursprung der Geschichte. Wenn ich z. B. eine besonders eindrucksvolle Landschaft gesehen habe, habe ich sie immer mit irgendeinem mythologischen Ort aus der Zeit, als die Erde noch sehr lebendig war, verglichen. Ein Beispiel ist dieser Wald, in dem Bäume unterschiedlichen Alters und verschiedener Arten zusammenleben dürfen, im Gegensatz zu den heute oft scheintoten und stereotypen Wäldern mit nur einer Baumart, welche dieselbe Anzahl an Jahren „auf dem Buckel“ haben.

Langsam, aber sicher näherte ich mich Dublin. Ich plante, nachdem ich das Fahrrad dem Verleih zurückgegeben haben würde, direkt nach England überzusetzen, um entweder nach London zu trampen oder eine „Sightseeingtour“ durch Schottland zu unternehmen.
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