Momentaufnahmen aus dem Alltag

Momentaufnahmen aus dem Alltag

Erzähltes Leben

Anna Ernst


EUR 21,90
EUR 17,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 52
ISBN: 978-3-99038-897-6
Erscheinungsdatum: 02.02.2023
Die zehn kurzen Geschichten erfassen natürlich nicht die Lebenserfahrungen als Ganzes, aber sie beleuchten manche besonderen Ereignisse von Individuen. Mit Humor und einem bisschen Ernst sollen die Erzählungen Nachdenklichkeit, Spaß und auch Freude bereiten.
Dankbarkeit


Ich gebe nicht viel auf Wettervorhersagen: blauer Himmel = Sonnenschein, grauer Himmel = Regen.
Was verrät ein ploffiger Wolkenhimmel? Egal, was kommt, das kommt.
Über der gering bewaldeten Höhe, der Himmel. Er posiert als ein dunkler Vorhang, durchlässig für ein bisschen Sonne.
Ein beeindruckendes Phänomen – ich nahm es zur Kenntnis, ohne es als Warnhinweis zu verstehen.
Mein Hund Tillie spazierte mit mir auf einem Waldweg. Ich spazierte, der Hund hopste eher herum, schnüffelte hier und da, spurte vom rechten zum linken Wegrand.
Sie fand einen Tannenzapfen, warf ihn mir vor die Füße. Sie erwartete das Lieblingsspiel: rennen, jagen, fangen. Ich wollte den „Zapf“ aufheben, wollte das Spiel eröffnen.
Da knallte – in dem Waldstück rechts vom Weg – ein Schuss, es knackten die Äste, das Gebüsch bog sich rauschend zur Seite, ein Reh rannte vor uns über den Weg.
Eine Frau in einer Neonweste kam hinterhergejagt und schrie voll gestresst: „Gehen Sie hier weg, weg hier, hier läuft eine Drückjagd, weg hier, weg hier“. Eine andere Person mit Neonwarnweste folgte der Frau, sie schrien im Duett! Man konnte es nicht ignorieren. Läuft eine was?
Laufen ja, aber gesehen habe ich nur ein Reh, das wie gehetzt sich entfernt hatte, zwei überschnappende Personen, die sich im Gekreisch überboten und meinen Hund, der sich total verschreckt davonmachte, um sich aus der Schusslinie zu bringen – mir vorweg.
Im Wald gibt’s ja noch kein Tempolimit!
Das bekam ich jetzt zu spüren, denn der momentan aufkommende Wind machte ganz großes Windkino!
Kein „sonniger“ Waldweg mehr. Die Warnwestenleute waren ins Waldstück zurück gepustet worden.
Äste brachen über mir, Blätter kamen herabgeregnet, mich trieb der Wind vor sich her, ich konnte fast mein Gleichgewicht nicht halten. Der Hund war schon über alle Berge.
Ich stürzte und spürte einen… ja, eigentlich spürte ich nichts. Mich gab es in diesem Moment nicht – so fühlte ich es zumindest.
Etwas tat sich vor meinem inneren Auge. Ein Geschehen spielte sich ab, das ich als Film erleben durfte.
Bis unters Kinn deckt mich die Decke zu. Sie kratzt mich unterm Kinn – ich jammere ein bisschen. Behutsam befreit mich eine Hand von dem kleinen Ungemach. Ich lasse die Augen zu, fühle mich aufgehoben und sicher. Die Ruckelbewegungen des Gefährtes, in dem ich eingekuschelt liege, verstärken meine Schläfrigkeit. Das weiche Kissen unter meinem Kopf mildert das Geholper des Wagens. Ich blinzele ein wenig und sehe, wie meine Mutti versucht, den Wagen vorsichtig über die Straße zu schieben – eher zu manövrieren.
Ich liege in einem kleinen Wagen, in einem sogenannten Kinderwagen, der als riesiges Osterei – oben offen, mit vier einfachen Rädchen durch die Lande fährt. Das ist damals wohl modernes Design gewesen, als ich so etwa 3 Jahre alt war.
Ich beobachte alles! Es muss ein Doku-Film aus 1944 sein – im August und noch dazu aus der Region Böhmen-Mähren, wo ich das Licht der Welt erblickte.
Ich bin sicherlich auf ganz großer Tour. Eine Milchkanne baumelt an der Lenkstange des Kinderwagens und auf meinen Füßen – nein, so etwas Unmögliches – hatte der Nachttopf (den kenne ich) seinen Platz bekommen. Mutti buckelte einen Rucksack. Meine Schwester sehe ich, wie sie Trotztränen vergießend sich in den Straßengraben wirft, sich weigernd, mit uns weiterzulaufen.
Ich denke: „Diie muss doch mit.“ Ich schlafe wieder ein bisschen ein, ich wache wieder auf: Die Schwester hilft Mutti beim Schieben des Kinderwagens, ihr Rucksack liegt jetzt auf meiner Zudecke.
Die Schwester nimmt ihre Aufgabe „Mutti zu unterstützen“ mit Freude (denke ich) wahr.
Mein Wagen rollt schneller, spüre ich. Mutti hält die Schwester jetzt an der Hand. Beide legen an Tempo zu und laufen bündig am Straßenrand. Dabei muss Mutti auf den Kinderwagen achten, dass er nicht in den Straßengraben rutscht.
Tja, Pannenhilfe gibt es weit und breit nicht!
Hinter uns, jedoch nicht zu sehen, aber zu hören, ein schmerzhaftes Knallen, als würden Metallkügelchen auf eine Metallwand schnell hintereinander mit Kraft geworfen, dazwischen ein riesiges Motorengebrüll.
An einer Kreuzung hält Mutti kurz an. Ich höre ihr Stoßgebet und sehe einen Mann – massig vom Körper her – so habe ich noch keinen gesehen. Er breitet die Arme aus: Hallo, Frau, Sie bitte nicht geradeaus weitergehen, da ist Drückjagd.
Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber Mutti weiß es! „Gehen Sie hier weiter, da finden Sie Freunde und eine kleine Unterkunft“.
Der Mann deutete mit einem mächtigen Arm nach rechts, „und dann immer weiter laufen, bis ihr zu Hause seid.“
Wenig später. Ich liege auf einer dicken Matratze am Boden, zugedeckt mit einer weichen Decke. Ich bin zufrieden und am Einschlafen.
Mutti liegt neben mir, meine Schwester auch.
„Du, Mutti“, hör ich meine Schwester, „der große Mann, hatte der Flügel? Das war doch unser Schutzengel, dieser große Mann.“ „Ja“, sagt Mutti, „ich denke das auch!“ Ganz sanft streicht Mutti über mein Gesicht.
„Wir danken dir, dass du uns beschützt hast, lieber Schutzengel, wer du auch bist!“, betet sie leise.
„Die Drückjagd hat ein Ende“, höre ich.
Ich machte die Augen auf. Ein Hund wieselte mir auf der Brust herum, leckte mir das Gesicht ab.
Sein Jaulen holte mich aus meinem Traum – eher aus meinem Trauma.
Es war mein Hund Tillie.
Die Drückjagd – Leute mit ihren Neonwesten standen um mich herum.
Sie hatten ihren Allrad-Unimog vom Standquartier abgerufen durch ihre Plesshorn-Signaltöne. Das Ungetüm von einem Fahrzeug stand nun mit brummendem Motor auf dem Waldweg. Ins Krankenhaus sollte es gehen. Mein Hund wollte nicht zulassen, dass mich nur irgendjemand anfasste. Er blieb auf mir hocken.
„Ruft bitte mal bei mir zu Hause an“. Ich diktierte die Nummer.
„Danke, Leute“, langsam, mit zwei helfenden Händen, kam ich dann auf die Füße. Die Unimog-Fahrerin checkte meinen Zustand.
Schwindel: nein, Sehstörung, nein, Arme dran, Beine ein bisschen wackelig. „Ich wohne hier im Ort, fahrt mich bitte nach Hause, den Waldweg zurück bis zur Ortsmitte“.
Das Wetter war nur eine kurze aber heftige Waldranderscheinung im Wettergeschehen der Zeit.



Nikolas


Der Autoverkehr hat zugenommen hier auf der B durch den kleinen, ländlich umkuschelten Ort: Weinberge den Hang hinauf, der hin zur B von Büschen und einem Miniwäldchen gesäumt ist. Einen beschaulichen Lifestyle hier zu finden, ist wohl eher eine Illusion.
Die Büsche und Wäldchen gelten eigentlich als „Gebiete“ für unsere Sänger wie Meisen, Rotkehlchen, Zilpzalps oder Amseln, die ein morgendliches Wecken auf ihre Art zwitschern. Seit die B-Durchgangsstraße schön ausgebaut und plan gemacht wurde, haben sich Sänger und Gesang verändert: Lastwagen brausen, kleine, große glitzernde Alu-Felgen, lackierte Fahrzeuge sind zu hören, viel Lärm, der erst am Feierabend zwischen 17 und 18 Uhr abebbt und morgens in der Frühe wieder loslegt.
„Nikolas, auf zur Schule, wir haben nicht endlos Zeit“, ruft mich meine Mama. Ich steige ins Auto, Tür zu, ich sitze angeschnallt auf dem Rücksitz, mein Rucksack neben mir. Ich kontrolliere das Frühstück, das ist okay.
Mama kennt meinen Geschmack: 2 Schokoriegel – Tomate – Joghurt, süß mit Himbeeren – also noch 3 belegte Brote mit Wurst und Käse und eine Flasche mit Tee. Alles da: Im Turnbeutel meine neuen Turnschuhe mit der richtigen Marke.
Ich schaue auf die Straße, die Fahrt stockt etwas. Autos warten an der Ampel – ein Haufen Fahrzeuge – Lärm und auch Abgas – wie immer.
Mama mosert ein bisschen rum. „Wir hätten zwei Tick früher wegfahren sollen.“ Ich bin wieder schuld – denke ich! Aber Mama musste ja auch noch ihren Einkaufszettel suchen! Ich jedenfalls denke an die Schule.
Zur 2. Stunde jedenfalls wollte ich nicht zu spät kommen! Förster Heinreich besucht uns nämlich im Unterricht. Er will mit uns über den Wald und seine Tiere reden und Fotos zeigen. Da freue ich mich schon drauf. Ob er uns auch ein präpariertes – so nennt man das wohl – Wildschwein mitbringt? Das wird einen Spaß geben, denke ich.
Mama bremst ein bisschen zu hart. Ich ruckel ein wenig nach vorn an den Vordersitz und schaue auf die Fahrbahn. „Mama“, ruf ich, „halt mal an, da ist was mitten auf der Straße. Alle Autos fahren drauflos und vorbei: „Mama, halt mal an“. Ich habe das Vögelchen gesehen: Schwarz, den Schnabel aufgesperrt, die Flügelchen zittrig bewegt.
„Ach, eine Amsel, eine junge Amsel, die hat sich wirklich verflogen“, meinte Mama.
„Die kann doch nicht anders, Mama, lass’ mich aussteigen, ich hol’ sie ins Auto“.
„Nikolas“, schreit mich Mama an, „du bleibst sitzen“. Da, nun war es schon passiert, mit dem Vogel. Die Autos fuhren weiter, niemand konnte ausweichen oder anhalten und helfen.
„Mama, glaubst du, die Vogelmutter hat im Gebüsch gehockt und alles mitangesehen? Sie konnte nichts machen, oder?“
„So war es wohl, Nikolas! Hast du deine Sachen alle?
Wir sind da, aussteigen. Tschüss, mein Schatz. ich komme heute etwas später von der Arbeit, ich gehe noch einkaufen. Du fährst ja mit Maxis Mutter nach Hause. Sei brav Nikolas, bis später dann“.
Mittagszeit, die Schule ist zu Ende. Mit Maxi habe ich mich verabredet für heute Nachmittag – aber klaro, nach den Hausaufgaben!
Wir wollen zusammen mal zu Fuß zum Fußballplatz durch den Wald marschieren.
Förster Heinreich will in der nächsten Woche mit der Klasse eine Wanderung machen und uns seinen Wald zeigen.
Nikolas klingelt an der Haustür. Keiner da. Er kramt seinen Hausschlüssel hervor, schließt die Tür auf, Mama ist noch nicht da. Egal, das macht nichts. Ich esse das Pausenbrot, der Tee aus der Thermos von heute Morgen ist auch noch warm. Er geht in die Küche. Er findet es gemütlich, so am Küchentisch zu sitzen. Was interessante Sachen hier so herumstehen: rote, gelbe Marmeladen, Pflaumenmus, die Butterschale mit Butter wie Creme und ein Untersetzer mit dem kleinen schwarzen Vögelchen, wie es auf einem Zweig hockt.
Mama ist noch nicht mit dem Handycall zu erreichen. Nikolas weiß, wenn Mama einkauft, dann dauert es länger. Langsam meldet sich Hunger. Er wartet auf das Mittagsessen. Es ist schon 2 Uhr!
Wenigstens den Tisch decken, das könnte er doch schon mal machen.
Er greift nach einem weißen Set mit feiner Bambusstruktur, legt es vor sich auf den Tisch. Der Untersetzer mit dem Vogel liegt vor ihm. Das Glas Pflaumenmus kommt wie von selber auf ihn zu, stellt sich vor das Set.
Nikolas schraubt es auf, holt sich mit zwei Fingern den Pflaumenbrei heraus: Schwarz – eher braun – egal. Es plumpst eine kleine Menge vom Finger auf das weiße Set. Eine neue Fingerfarbe hat Nikolas erfunden.
Er nimmt mehr Mus aus dem Glas und verschmiert es auf der Unterlage zu einem groben runden Fleck, zieht an der einen Seite einzelne Striche heraus – „Federn“, sagt sich Nikolas – und holt sich noch mehr Material vom Pflaumenmus. „Flügel“, das sind die Flügel und hier: „Köpflein“.
Er schraubt das Glas mit der Aprikosenmarmelade auf und schmiert mit der neuen Farbe weiter.
„So, das ist der Schnabel, weit auf ist der Schnabel so, und so und so“, begleitet Nikolas seine Zeichenkunst mit Worten. „Und jetzt Blut, ganz viel Blut“.
Er schmiert ganz viel Erdbeermarmelade um den tiefbraunen Fleck, bis vom Set nichts Weißes mehr übrig bleibt.
Nikolas Eifer ist fast nicht mehr zu bremsen. Dann holt er ein Heft aus dem Schulrucksack, reißt eine Seite heraus und schreibt mit klebrigen Fingern: Liebe Mama, du bist noch nicht da. Ich habe den Fogel gemalt.
Der kleine Fogel ist tot. Ich gehe zu Maxi. Du brauchst auf den Fogel nicht aufzupassen, er fliegt nicht weg. Dein Nikolas! Nikolas legt das Briefchen neben sein Bild und geht zu seinem Freund Maxi.
Seine Mama kommt zehn Minuten später nach Hause. Auf dem Küchentisch findet sie die „Bescherung“.
„Du liebes bisschen, was eine Sauerei“, schimpft sie ärgerlich. „Nikolas, komm mal her, was soll das?“
Dann liest sie das Briefchen und ärgert sich nochmal: Vogel mit „F“, was lernen die Kinder heutzutage in der Schule?
Ob die Tasse Kaffee, die sie sich nun zubereitet, helfen wird, sich geeignete Gedanken zu machen?

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