Märchen und fantastische Geschichten

Märchen und fantastische Geschichten

Richard Oliver Skulai


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 207
ISBN: 978-3-99003-222-0
Erscheinungsdatum: 28.10.2010
Haben Sie schon einmal miterlebt, wie sich ein Großvater und sein Enkel Träume erzählen? Ausgehend von dieser zauberhaft geschilderten Geschichte entfaltet der Autor in seinen skurril-witzigen, unheimlich-abenteuerlichen Geschichten ein tiefgründiges Panorama menschlicher Illusion, Überheblichkeit und des Strebens nach Vollkommenheit und Glück.
Das Rätsel des Glücks

Vor fünftausendzweihundert Jahren, zu einer Zeit, deren wahrer Charakter der heutigen Geschichtsschreibung unbekannt ist, herrschte im Lande Assur der mächtige Magier Zajeng. Er galt als der Erfinder der damaligen Schießgewehre und der gefährlichen, lähmenden Druckwellenwaffen, auch Wasserkanonen genannt, die der heutigen Wissenschaft unbekannt sind und jede Art von Feuerwaffe funktionsuntüchtig machten, fliegende Kugeln in der Luft aufhielten und noch vieles mehr vermochten. Auch eine Art Atombombe besaß er, um vieles feiner als die heutigen Kernwaffen, die hie und da in örtlich begrenztem Umfang eingesetzt werden konnte, zum großen Schrecken seiner Feinde. Dieser große Magier beherrschte die Menschen mit Willkür und Grausamkeit. Man sagte, er stände mit Zurath, dem obersten Fürsten der Hölle, im Bunde. Um seinen Sadismus zu befriedigen und genügend Opfer für die Spiele seiner ausgesuchten Grausamkeit zu finden, hatte er sich etwas wahrhaft Teuflisches einfallen lassen. Er hatte eine Sphinx errichtet, in Anlehnung an die Sphinx in Ägypten, und jeder, der vorüberzog, musste ein Rätsel lösen. Gelang ihm dies, so wurde er reichlich belohnt, gelang es ihm aber nicht, so starb er unter ausgesuchten Qualen. Das Angebot erschien verlockend, da die Fragestellung allen Menschen bekannt war und jeder Zeit genug zum Überlegen hatte. Es meldeten sich Tausende, die freiwillig vorüberzogen, und doch gelang es keinem, die richtige Lösung zu finden, und sie starben alle eines grauenvollen Todes.
Bei dem Rätsel handelte es sich nämlich scheinbar gar nicht um eine schwere Aufgabe, sondern um ein Privileg. Der Vo­rüberziehende durfte drei Wünsche äußern, die, wenn sie intelligent genug waren, ihm erfüllt werden sollten. Ansonsten musste er den Tod erleiden. Die Bedingungen, denen diese Wünsche gehorchen mussten, waren folgende: Sie mussten absolut fantastisch sein, sie mussten im Rahmen des theoretisch zu Verwirklichenden liegen, sie durften sich nur auf Materielles beziehen, geistige Wünsche wie Intelligenz, Klugheit, Talent auf irgendeinem Gebiet, Liebe und Weisheit, wie sie in den Büchern der Weisen für besonders klug gehalten wurden, waren also von vornherein ausgeschlossen; wer sie dennoch zu äußern wagte, starb trotz seiner vermeintlichen Weisheit eines qualvollen Todes. Ebenso schieden alle ­Veränderungen, die sich am eigenen Körper vollziehen konnten, aus, also jegliche Verjüngung oder Alterung sowie Verwandlungen in andere Gestalten. Auch körperliche Fähigkeiten, wie Fliegen, Unter-Wasser-Atmen oder Durch-Wände-Gehen-Können, übermenschliche Kraft und Ähnliches durften nicht gewünscht werden. Die Wünsche mussten sich absolut auf materielle Gegenstände beziehen und diese Gegenstände mussten ihrem Besitzer die größtmögliche Macht verleihen. Weiterhin mussten diese Gegenstände fest umrissene Funktionen besitzen, was die Möglichkeit einer theoretischen Erklärung mit einschloss. Denn immerhin sollten sie ja auch in Wirklichkeit funktionieren, wenn auch nur die Intelligenz eines Gottes sie erschaffen haben konnte. So hatte schon manchen der Wunsch nach einem Zauberstab, mit dem man sich alle Wünsche erfüllen kann, das Leben gekostet.
„Gott weiß allein, was im Bereich des Möglichen liegt, und ich bin Gott auf Erden“, hatte Zajeng geprahlt. Außerdem mussten die Wünsche einander präzise ergänzen und sinnvoll aufeinander abgestimmt sein. Wer allzu Bescheidenes wünschte, wie etwa ein Fahrzeug, mit dem man zum Mond, zum Mars oder zur Venus gelangen könne, hatte damit schon sein Todesurteil unterzeichnet. Manche glaubten, dass ein solches Fahrzeug nur ein Gott erschaffen könne, weiterhin, dass es auf diese Weise möglich sei, mit den ­Bewohnern anderer Gestirne zu verkehren. Doch sie wurden von Zajeng darüber belehrt, dass solche Maschinen durchaus von Menschen erbaut werden könnten. Die Bewohner des versunkenen Atlantis hätten sie besessen und in einigen Jahrtausenden würden sie wiederum von Menschen erfunden. Außerdem sei die Zweckmäßigkeit des Wunsches eine wichtige Regel des Spiels. Und auf anderen Gestirnen gäbe es durchaus nichts Lebendiges, das ein Mensch dieser Erde mit Augen sehen oder mit den Händen tasten könne. Derartige Belehrungen gehörten durchaus zur Fairness des Spiels und Zajeng genoss sie förmlich, bevor er seine Opfer ihren Henkern übergab.
Im Lande lebte aber auch ein Vagabund, ein Künstler und Taschenspieler, Jadan mit Namen, ein junger Mann, der einen Kopf voll mit Gedanken hatte. Aber keiner dieser Gedanken ließ sich jemals verwirklichen. Er dachte sich die unglaublichsten Dinge aus und die Leute schimpften ihn einen „Science-Fiction-Autoren“, einen jener wenig geachteten Tagediebe, die im Ansehen kaum eine Stufe über den sogenannten „Menschenlasttieren“ standen. Die „Menschenlasttiere“ aber waren eine Klasse völlig nackter, rechtloser Sklaven, die ihre Nahrung wie Ochsen in einem Futtertrog empfingen, an dem sie nachtsüber angekettet waren, und denen bei Leibesstrafe jegliche Verständigung durch menschliche Laute verboten war. Jadan aber war Achtung und Ehre egal. Er sah das Unrecht, das dadurch begangen wurde, dass man die Menschen in Klassen einteilte. Er sah das grauenvolle Unrecht, das den Lasttiermenschen widerfuhr. Und an den Wert einer menschlichen Ordnung, an den Wert einer menschlichen Ehre und eines guten Rufes glaubte er schon lange nicht mehr.
„Ich hab’s gut“, sprach Jadan eines Tages, „denn ich darf mir etwas wünschen. Drei Maschinen oder Geräte darf ich mir wünschen, die nur ein Gott erschaffen kann! Nun – dann lass uns einmal überlegen. Mein Wünschen muss an erster Stelle stehen, nicht das Grübeln über die technischen Raffinessen oder den Gedankenreichtum eines Gottes oder da­rüber, was bei Menschen und was bei Göttern möglich oder unmöglich ist. Schon immer war es des Menschen Wunsch – und ist es auch meiner –, Raum und Zeit zu beherrschen, im Bösen oder im Guten. Alles Gold der Erde aber kann uns eine solche Herrschaft nicht einbringen. Darum scheidet eine Goldmaschine schon mal aus; denn das Gold wäre nur Mittel zum Zweck, der Zweck aber ein von jeher zweitrangiger, unvermögend, wahre Macht zu verleihen. Die Herrschaft über die Zeit zum Beispiel – durch welches Mittel könnten wir sie erringen? Vergangenheit und Zukunft beherrschen und kontrollieren! Ich denke da an eine Zeitmaschine, wie sie von vielen Science-Fiction-Autoren bedenkenlos prophezeit wird. Aber die Paradoxe, die sich daraus ergeben würden, sind unüberwindlich, zumindest bei den Reisen in die Vergangenheit. Und wer in die Zukunft reiste, der könnte nicht mehr zurück. Aber ist die Zeit vielleicht nur Illusion, da wir sie fälschlich als Gegenwartspunkte betrachten, an die wir gebunden sind? Ist die Zeit nicht in uns selbst? Und herrschen wir nicht über sie, indem wir sie gestalten? Da ist es mit dem Raum schon eine andere Sache. Wer wünschte sich nicht, den Raum zu durcheilen ohne irgendeinen Zeitverlust, an jeden beliebigen Ort zu gelangen?
Aber wie den Raum überbrücken? Etwa durch eine Art Flugzeug? Flugzeuge gibt es ja schon, die fliegenden Vimanas sind bekannt und werden hie und da noch gebaut. Ich muss mir eine Maschine wünschen, die meine Atome durch den Raum sendet und mich am gewünschten Ort wieder erscheinen lässt. Oder besser noch: Eine Maschine, die einen Dimensionswechsel herbeiführen, das heißt, Partikel des Körpers in ihren Urzustand zurückversetzen kann, der keinem Raum und keiner Zeit unterworfen ist, und sie sodann an dem gewünschten Ort in die Sichtbarkeit zurückverwandelt. So würde ich der vorübergehenden Zerstörung meines Körpers vorbeugen, bei welcher die Seele herausspringen könnte – wenn die Anhänger der Lehre von der unabhängigen Seele Recht haben. Ja – ich glaube, das ist die richtige Lösung! So erspare ich mir das Gehen durch Wände, das Fliegen, das ja doch nur ein Vergnügen ist, das übermäßig schnelle Fahren, denn all diese Tätigkeiten erfordern Zeit. Mit meiner Teleportmaschine dagegen verlöre ich keine Sekunde!
Schön! Nun muss ich aber auch von Dingen Kunde erhalten, wo sich mein Körper hinbewegen kann, ohne sein Leben zu gefährden. Der Grund des Meeres zum Beispiel oder die fernen Gestirne, deren Luft- und Lebenssphäre eine andere ist. Auch der mikroskopische Bereich ist angesprochen. So will ich erfahren können, wie es im unendlich Kleinen aussieht. Schon mancher hat sich von Zajeng ein Gerät gewünscht, mit dem man sich auf eine beliebige Größe verkleinern könne. Aber er wurde darüber belehrt, dass er bereits in der Größe einer Spitzmaus keine fünf Minuten überleben könne – wegen der veränderten physikalischen Verhältnisse – und es hat ihn den Kopf gekostet. All die genannten ­Bereiche körperlich aufzusuchen, ist also völlig unzweckmäßig. Aber ein Wissen darüber gibt Macht. So würde mir, um meine Neugier diesbezüglich zu befriedigen, eine Kristallkugel völlig genügen, die mir jeden gewünschten Ort des Universums vorführen könnte. Auch müsste sie die Fähigkeit haben, mir den Aufenthaltsort jedes beliebigen Menschen, an den ich denke, zu zeigen, weiterhin jeden Gegenstand, der in ihr erscheint, ins Unendliche vergrößern können. Hier wäre es nun auch am Platze, die Zeit mit einzubeziehen. Das heißt: Ich muss jedes gewünschte Ereignis in der Kristallkugel sehen können, jedes vergangene und – soweit es vorhersehbar ist – auch künftige Geschehen.
Nun habe ich mir unbegrenzte Bewegungsfreiheit verschafft und fast unendliches Wissen in Dingen, die Menschen durch ihre Sinne erforschen können. Es fehlt noch materieller Reichtum, materielle Macht. Wie sie beschaffen?
Irgendeinen beliebigen Gegenstand aus der Luft herstellen, das können wohl Engel oder Götter, die sich einen solchen Gegenstand bis in die feinsten Atome vorzustellen vermögen, aber keine noch so ausgeklügelte Maschine. Eine Maschine, die so etwas könnte, bräuchte ein Vorbild, eine Vorlage, nach der sie gestaltet. Ein Verdoppelungsgerät also, ein Duplikator, nicht größer als ein langer Kasten, in dem einige wenige Menschen Platz finden, das wäre das Richtige. Außerdem sollte es eine Eigenschaft dieser Maschine sein, einen beliebig kleinen Gegenstand durch Strahlenprojektion vergrößern zu können, sagen wir – bis auf die Größe eines Hauses. So kann ich überall, wo ich hinreise, meinen Palast mitnehmen und meinen materiellen Besitz ohne größeren Zeitverlust ins Unermessliche vermehren. Nun, ich glaube, das wär’s.“
Frohen Mutes zog Jadan zum Tempel der steinernen Sphinx. Er sang ein fröhliches Lied. Die Tempelhüter nahmen die Mützen ab, wie Trauergäste zu tun pflegen, und einer von ihnen flüsterte: „Schon wieder so ein Idiot, dem sein Leben nichts wert ist!“
„Nun ja“, sagte sein Nachbar, „einen Vorteil hat ja die Einrichtung unseres Herrn.“
„Und der wäre?“
„Sie nimmt mutlosen Selbstmördern ihre Entscheidung ab. Es kostet schon einen Heldenmut, den Schemel wegzustoßen, wenn man die Schlinge um den Hals hat.“
„So?“, fragte spöttisch der andere. „Und warum hast du dich dann noch nicht hinrichten lassen?“
„Ich vertrage eben keine Schmerzen“, hauchte verlegen der erste.
„Mein lieber Freund – wenn es nur das ist! Ich kenne da einen gewissen Arzt aus Arkha, der Operationen am Rückenmark durchführt. Gänzliche Schmerzlosigkeit ist die Folge. Und ein weiterer Vorteil: Sein Verfahren ermöglicht es, dass stattdessen bei Verletzungen das Lustzentrum im Gehirn aktiviert wird. Schon manchem Verbrecher wurde dadurch die Hinrichtung zu einem Genuss.“
„Muss ich mir merken.“
Der Mann zog ein Wachstäfelchen hervor und schrieb sich die Adresse auf.
Jadan aber trat in die große Halle, in der die Sphinx stand. Jeder Vorüberziehende, auch der Unvorbereitete, musste die Halle betreten. Tat er es nicht freiwillig, so wurde er von den Tempelhütern, die Handfeuerwaffen besaßen, dazu gezwungen. Aber die meisten kamen freiwillig. Sie brannten förmlich darauf, ihre Wünsche loszuwerden. Nur in der letzten Zeit hatte der Zustrom der Pilger ein wenig nachgelassen, da die vielen Todesopfer doch zu denken gaben.
Die Sphinx brüllte, aber es war die Stimme Zajengs, die durch eine Sprechanlage mit veränderter Klangfarbe sprach: „Mein Sohn, du stehst im Angesicht des Todes. Denn leicht scheint, was ich fordere, doch ist es schwer. Wünsche dir ­etwas! Doch überlege es dir gut! Drei Wünsche hast du frei, aber es müssen die besten sein, die je gestellt werden können. Sie müssen dem Menschen verleihen können: das größte Wissen, die größte Macht, den größten Besitz. Aber nur Gegenstände darfst du dir wünschen, dies ist die Bedingung. Wenn du aber etwas in diesen drei Wünschen zu nennen vergisst, das dir möglicherweise eine noch größere Macht einräumen könnte, ein größeres Wissen, einen größeren Besitz, so sollst du gar nichts mehr besitzen. Dann bist du dem Tode geweiht – und dieser wird qualvoll sein! Nun wünsche, doch sei auf der Hut, mein Sohn, auf dass der Tod nicht auf den Fersen folge!“
„Nichts leichter als das“, erwiderte Jadan. „Ein Teleportationsgerät für jeden beliebigen Ort auf der Erde, eine Kristallkugel, die mir gegenwärtige, vergangene und künftige Ereignisse an jedem beliebigen Ort und Dinge in jeder gewünschten Größe zeigt, und einen Duplikator, mit der zusätzlichen Fähigkeit, auf Wunsch und besonderen Knopfdruck jeden beliebigen Gegenstand, der in die Maschine passt, unterschiedlich groß zu reproduzieren.“
Da brüllte die Sphinx in einem wilden Schreckensschrei auf. Und eine andere Stimme – die wirkliche Stimme Zajengs – rief wutentbrannt: „Weißt du, was du getan hast? Du hast mich ruiniert. Du hast mir das schönste Spiel meines Lebens genommen, ungestraft Menschen quälen und hinrichten zu dürfen, die sich mir sozusagen freiwillig dazu zur Verfügung stellen! Ich gratuliere! Mich bedauere ich! Soeben bist du neben mir zum mächtigsten Mann der Welt geworden. Nie hätte ich geglaubt, dass meine Spielzeuge, diese Spielzeuge eines Gottes – von mir selbst erbaut – in fremde Hände gelangen. Nun gut, du sollst deinen Wunsch erfüllt bekommen. Aber sei gewiss, dass ich dich verfolgen werde, wo immer der Arm meiner Macht hinzureichen imstande sein wird. Denn das Recht, das mir Entwendete zurückzuholen, habe ich mir vorbehalten. Freies Geleit sollst du haben bis zu den Mauern der Stadt. Darüber hinaus sieh dich vor! Denn von nun an bist du vogelfrei!“
Die Priester Zajengs erschienen und führten Jadan zu einer steinernen Nische. Sie zogen den Vorhang beiseite und Jadan sah all die Geräte.
Die Teleportmaschine bestand in einer silbernen Kugel, groß wie eine Faust. Auf der Oberfläche dieser Kugel waren alle Kontinente der Erde abgebildet. Sie dienten zur gröberen Ortsbestimmung. War diese mit Hilfe eines durch einen Schalter verschieblichen Lichtpunkts getroffen, so erschien auf der Kugel ein vergrößertes Abbild der Landschaft, auf dieser konnte nun ein noch kleineres Abbild fixiert werden und so fort.
Die Duplikatormaschine hatte die Größe einer heutigen Telefonzelle. Die vordere Scheibe war durchsichtig und in der Mitte war sie durch eine schwarze Metallwand in zwei Kammern unterteilt. In der hinteren Kammer sollte auf Betätigung eines Hebels das Duplikat des in der vorderen Kammer befindlichen Gegenstandes erscheinen. Einige Tasten und Knöpfe an den Wänden dienten der vergrößernden Strahlenprojektion. Auch die hintere Kammer war mit einer Glastür versehen.
Die Kristallkugel hatte die Größe eines menschlichen Kopfes und reagierte bereits auf die feinsten Gedankenschwingungen, so empfindlich war sie.
Die Priester überreichten Jadan, Trauer in der Stimme, die Bedienungsanleitung der Geräte. Sie trauerten mit ihrem Herrn, dessen Geheimnis sie gehütet hatten, denn Kostbarstes ging ihm verloren. Zajeng aber war der Gott ihres Herzens.
„Nur her mit den Dingern, nur immer her damit!“, rief Jadan.
Jadan nahm die beiden Kugeln in seine Ledertasche, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing. Die Duplikatorzelle karrte er auf einem Metallgestell mit Rädern vor sich her. So verließ er – fröhlich pfeifend – den Tempel.
Der Tempelhüter – als er sah, dass das Geheimnis bekannt und das Rätselraten in Zukunft abgeschafft war – zerriss in namenloser Wut, laut fluchend, das Täfelchen mit der Adresse des Arztes und streute die Fetzen über den Stufen des Tempels aus. Jadan aber verließ die Mauern Attakonas, der Hauptstadt des Zajeng-Reiches, und machte sich auf den Weg nach seinem Heimatort Grengoria.
Jadan war ein Einzelgänger, weil ihn die Menschen im Allgemeinen unsäglich anödeten und langweilten. Da ihm nichts gut genug war und ihn fast alles anwiderte, hatte er sich stets in seine Fantasie geflüchtet, die in ihrem unermesslichen Gedankenreichtum ihm alles versprochen – und nichts davon gehalten hatte. Die Werte der Zielsetzungen der Menschen galten ihm nichts und er fühlte sich als Fremder unter Fremden. Er fühlte sich wie ein Wesen von einer anderen Welt, aber er fragte sich, ob es ihm auf einem anderen Planeten jemals anders ergangen wäre als hier. In Reichtum, Wollust, ausschweifenden Gesellschaften, in der Erfüllung aller Genüsse sah er nur tödliche Langeweile, absolute, quälende Leere und den baldigen geistigen Tod.
Jadan fürchtete sich vor dem Leben solcher Menschen, die einer geregelten Arbeit nachgingen, jeden Tag dasselbe taten und sich freudlos abmühten, nur, um die genannten Wünsche zu befriedigen, in denen er nichts weiter sehen konnte als das Grab für einen Lebenden. Dabei war der leibliche Tod das Allerletzte, was er fürchtete. Denn er sagte sich: „Wenn der Tod das Nichts bedeutet, wie sollte ich ihn fürchten? Wie sollte ich ein absolutes Nichts befürchten, das mich nichts angeht und das ich niemals erfahren kann? Verglichen mit dem Leben hier auf der Erde wäre ein solches Nichts ja eine absolute Erlösung! Und es graut mir ja auch nicht, wenn ich an jene Zeit zurückdenke, da ich noch nicht existierte. Im Gegenteil: Ich ersehne sie als einen unvergleichlich besseren Zustand zurück. Bedeutet der Tod aber eine Fortexistenz, so kann diese auch nicht schrecklicher sein, als das Leben der meisten Menschen ohnehin ist, das diese aber so unvergleichlich hoch schätzen.“
Obwohl Jadan im Allgemeinen ein Menschenverächter war, so sehnte er sich doch nach der Gemeinschaft mit bestimmten Menschen, die er lieb gewonnen hatte. Aber diese Menschen waren über alle Gebiete der zivilisierten Welt zerstreut.
Bindungsfähig war Jadan nicht. Es gab kein Mädchen, mit dem er hätte zusammenleben können und das alle seine ausgefallenen Ideen geteilt und ernst genommen hätte. Und kein Mädchen, das ihm gefiel, hätte er einem anderen, ebenfalls lieb gewonnenen Mädchen vorziehen können. An körperlicher Liebe fand Jadan kein Interesse und seine Fantasie sah voraus, dass sie ihn anöden würde. Die Ehe betrachtete er als eine überaus dumme Einrichtung, deren einziger Sinn darin bestand, den Nachwuchs zu sichern. Hinzu kam: Jadan hasste größere Gesellschaften. Vergnügungen, welche die meisten Menschen interessant fanden, Schauspiele mit anschließender Prostitution, Kampfspiele zwischen Tieren und Menschen stießen ihn ab. Mit Mädchen plauderte er am liebsten über seine Einfälle und wissenschaftliche und metaphysische Probleme und interessierte sich für ihre Stellungnahme. Er erfreute sich an ihrer Schönheit, an Natur und Schöpfung. Alles andere fand er langweilig.

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