LICHTBILDER ODER KOMMST DU MIT?

LICHTBILDER ODER KOMMST DU MIT?

Peter Urech


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 274
ISBN: 978-3-903155-74-9
Erscheinungsdatum: 12.09.2018
Dr. Rasters Aufgabe ist es, seinen autistischen Klienten „Q“ zurück in die Normalität zu führen. Stattdessen überzeugt ihn „Q“ zunehmend von seinem eigenen, viel logischeren Weltbild. Für den Arzt beginnt nun eine bizarre Reise zur Erkenntnis.
DER TRAUM


«Hallo, du träumst.» Raster griff mit wulstigen Fingern nach meinem Arm, umklammerte diesen, als ob er beabsichtigte, mich wach zu rütteln.
«Weck mich!» keuchte ich. «Albin, du bist es doch, um Himmels willen, weck mich!»
Aber statt mich zu wecken führte er mich am Arm wortlos einen kahlen Gang entlang. Ich stiess ihn an, versuchte mich zu befreien, aber er war nur eine puddingelig weiche Masse. Ich versuchte, ihn aus dem Schritt zu reissen, aber er ging stoisch weiter, zog mich kraftlose Masse mit sich, stiess mich vor sich her. Sodann führte er mich in einen grossen Raum. Weiträumig, halbdunkel, leer, beinahe fensterlos. Mitten drin ein protziges Schalt-Pult. Flimmernde Lämpchen und schwach beleuchtete Knöpfe. Er drängte mich hin zu diesem metallenen Möbel.
«Hier - du hast die Wahl. Vielleicht träumst du gar nicht?» liess er sich spöttisch lächelnd vernehmen.
Ich bestarrte diese rechteckigen Knöpfe, las: TRÄUMEN. ERWACHEN. WEITER. ABBRECHEN. ZURÜCK. WARTEN. STATUS ÄNDERN und einige Wahlmöglichkeiten mehr, die ich hinterher wohl vergessen hatte.
Rechts der Knöpfe eine Mattscheibe gleich einem kleinen Monitor, auf der undeutlich etwas wie eine Zeichenfolge, ähnlich einer kurzen Formel, flimmerte. Wie zufällig schob sich Raster davor, sodass nur noch die beleuchteten Knöpfe in meinem Blickfeld verblieben.
Ohne zu zögern drückte ich ERWACHEN. Sogleich war ich wach, hellwach.
Ich streckte die Beine unter der Decke hervor, platzierte mich Sekunden später irritiert auf die Bettkante, fühlte den Teppich unter meinen Füssen, dachte angestrengt nach.
Der Traum hatte sich detailgetreu in mein Hirn eingenistet. Was hatte er zu bedeuten? Albin Raster, mein Psychiater und Mentor, in einer im Traum neuen Rolle als mein Gebieter, vielleicht mein Peiniger? Dieser kleine Monitor, den er wohl absichtlich meinen Blicken entzogen hatte. Dieses Schaltpult, diese Knöpfe - verrückt! War wirklich er es gewesen, der mich zu einer Wahl gezwungen hatte zwischen … zwischen was?
Im Traum die Möglichkeit einer Wahl, einer freien, unbeeinflussten Entscheidung?
Was wäre geschehen, wenn ich einen anderen Knopf gedrückt hätte, zum Beispiel TRÄUMEN oder ABBRECHEN oder ZURÜCK? - Wohin zurück? Was abbrechen?
Hätte ich weiter geträumt? Hätte einer der Knöpfe vielleicht gar meinen Tod bewirkt? Einen Atemstillstand zum Beispiel?
Es war einer dieser Träume, welcher die Grenze zwischen Realität und Traum verwischen. Die sich mit Realität vermengen. Die eine Bedeutung vortäuschen, etwas wie Mystik erzeugen oder zumindest erahnen lassen.
Vorbote vielleicht? - Vermutlich nichts von all dem. Nichts hatte der Traum zu bedeuten. Banale Unterhaltung, Spiel. Es gibt ja so unendlich viele verschiedene …
Meine Gedanken waren wirr, drehten sich im Kreis. Ich fühlte mich unfähig, das heisst es gelang mir nicht, zu ordnen und klare Fragen zu formulieren.
Immerhin die plötzliche Einsicht, dass mich die Deutung meines irritierenden Traums nicht interessiert. Dass bereits der Versuch einer Traumdeutung unsinnig sein würde. - Nein, aber die Struktur, die Quelle, die Entstehung, die Aufgabe dieses Traums, eigentlich aller Träume, forderten meine Wissbegierde heraus. Dieser Traum entpuppte sich bei ruhigem überdenken in vielen Belangen als geheimnisvoll hintergründig wie auch rätselhaft. Aber so unmittelbar nach dem Erwachen war ich unfähig, konzentriert zu Analysieren.
Und überhaupt - weshalb ich? - Lasst mich in Ruhe! Lasst mich unbehelligt schlafen! Ich habe mir keinen Traum, keine Unterhaltung, nichts herbei gewünscht!
Ich holte Luft, zerrte die Bettdecke erneut über meinen Kopf, verschaffte mir eine künstliche Dunkelheit, in der ich mich verbergen konnte. Sie erleichterte mir, mich etwas ruhiger mit meinem rätselhaften Traum zu befassen. Mit dieser Wahl, die mir Raster in Form eines Schaltpultes zur Verfügung gestellt hatte. - Raster? - Weshalb Raster?
Jetzt waren Verstand und Logik gefragt. Mein Verstand und meine Logik. Ich suchte nach einer logischen Erklärung, dachte, dass ich den Traum, diese seltsame Bildfolge, etwas später jedenfalls analytisch angehen sollte, um die Hintergründe zu verstehen. Vielleicht wie folgt:
Fakt ist, dass ein Traum vorwiegend eigene Erlebnisse und Wahrnehmungen widergibt. Oftmals aber präsentiert er scheinbar irgendwelche zufällig gespeicherte, ungeordnete Informations-Fragmente. Möglicherweise bedeutende, meistens aber banale, manchmal jüngere, ein anderes Mal weit zurück liegende. Jedenfalls aus nachträglich kaum mehr eruierbaren Quellen.
Das eben geträumte Geschehen hatte sich beim ersten spontanen Überdenken als Gemisch von Realitäten und Fiktionen erwiesen. Raster ja, Schaltpult ja, aber Raster an einem Schaltpult? Nein, geradezu absurd! Das entspricht keiner je erlebten oder wahrgenommenen Realität. Eben, Fiktion! Da sind in meinem Traum mehrere voneinander unabhängige Faktoren zu einer Fantasie-Begebenheit verquickt worden.
Nur, wie entsteht eine solche Sequenz? Sie konnte ja nicht gespeichert sein, weil ich sie so weder je gesehen noch je erlebt hatte. Sie konnte nicht einem Speicher in meinem Gehirn entnommen sein!
War sie somit während des Träumens entstanden, oder unmittelbar vor dem Start des Traums. War alles Zufall? Nach dem «Prinzip Kaleidoskop», das mit relativ wenigen farbigen Glas-Bruchstücken unzählige Farb- und Bildkompositionen zu erzeugen vermag? Faszinierend.
Weiter!
Weiter zum Traumobjekt Albin Raster. Ein mir recht genehmer Mensch und insofern eigentlich naheliegendes und logisches Traumobjekt. Somit ist anzunehmen, dass es auch unlogische Traumgestalten gibt, und sodann auch ebensolche Träume? Hatte ich nicht schon öfters von mir gänzlich fremden Menschen geträumt? Menschen, die ich in der Wirklichkeit nie gesehen hatte. Darüber hinaus aber auch von Fantasiewesen, von Gespenstern und schwarzen Phantomen.
Das Nachdenken in meiner künstlichen Dunkelheit liess nicht nach: Wo im Hirn sind meine unzähligen Wahrnehmungen gespeichert? Alle oder vielleicht lediglich Teile davon? Welche? Gibt es Beweise?
Hallo, die Verblüffung ist gross:
Es gibt keine echten Beweise.
Synapsen? Synapsen sollen Speichereinheiten sein? Haha. - Versuchen wir diese doch an einen Drucker anzuschliessen und das Gespeicherte auszudrucken.









LICHTBILDER


Die Weisheit Ninas ist atemberaubend, der geahnte Klang in ihrer Stimme ebenso. Sie erlauben keinen Zweifel, kein Hinterfragen.
Wie zum Beweis tritt sie aus dem Bild, ist nicht mehr zu sehen. Gleichzeitig droht mir, den Halt zu verlieren.
«Nina!»
Wir gehen an Ort, setzen Fuss vor Fuss in harmonischem Gleichschritt. Sie schaut zu mir herüber.
«Die Formel birgt alle Geheimnisse und auch jede Erklärung!»
Dann ruht die Landschaft und wir setzen unsere Wanderung allmählich fort auf diesem Weg mit seinen bizarren Steinen, der uns Klarsicht und Weisheit verspricht und dort vorn auf der Kuppe mit seinen Gebilden endet - und dann weiter führt.
«Es gibt keine Wirklichkeit, nicht wahr? Es wird immer wieder anders sein».
Sie nickt, lächelt mich verständnisvoll an, belächelt mich. Versucht, mein Bewusstsein zu erweitern. Bewusstsein? Sie scheint meine Gedanken zu durchschauen.
«Wir sind unterwegs. Das wolltest du doch? Du alleine verstehst nicht. Du benötigst mich, um zu verstehen. Zusammen verstehen wir.»
Du alleine verstehst nicht, aber zusammen … Seltsame Aussage. Sie scheint zu bestätigen, dass ich … dass ich sie träume … dass es sie gar nicht gibt … und mich selbst auch nicht? Nein nein, kein Zweifel, sie begleitet mich ja.
«Nina, was weisst du über Menschen? Wir waren doch selbst welche, oder?».
«Menschen? - Du meinst Phantome?»
Sie mustert mich scheinbar belustigt, was mich irritiert und zusätzlich verunsichert. Ich weiss nicht…
«Mag sein, dass angebliche Träume dir vortäuschten, du seiest Lebewesen, Geschöpf, Mensch. Aber es waren nicht Träume, es waren Lichtbilder, in Bewegung gesetzte Lichtbilder.»
Jetzt lacht sie. Hintergründig. Tonlos.
«Es war deine Wahrnehmung und so hast du auch mich wahrgenommen. Aber du warst Phantom und es trieben sich Phantome umher, Denkmuster, Omen, Ahnungen, ohne erkennbaren Sinn. Verstehst du? - Ach, du weisst wohl.»
Nein, ich weiss nicht! - Mag sein? - Dann mag auch sein, dass sich derzeit Erinnerungen dieser Wesen herumtreiben und versuchen, uns zu beeinflussen, uns einen Irrweg zu weisen, mich von Nina zu trennen?
«Du, ich glaube mich zu erinnern …»
«Du glaubst?. Glaub nicht! Wir nehmen wahr. Glaube ist Täuschung.»
Sogleich wird mir bewusst, weshalb sie «mag sein» sagte. Ihr Wortschatz weist Begriffen wie «Glaube», «Zeit», «Mensch», «Erinnerung» und vielen weiteren eine mir unbekannte Bedeutung zu. Eine, die mir fremd ist oder die ich noch nicht verstehe.
Nina lehrt: «Wo Glaube ist, können auch Zeit und Erinnerung ihr Unwesen treiben.»
Ihre mit Bedacht gewählten Gesten und ihre in diesem Moment klare Stimme dulden keinen Widerspruch.
«Deine vermeintlichen Erinnerungen täuschen dich, machen dich verletzlich. - Lass sie fallen.»
Etwas beschämt senke ich den Blick, spüre wie sich meine Lippen bewegen, sehe formlose Worte zu Boden fallen, die vielleicht Erinnerungen sein könnten - … zuhause am Fluss … deine ausgetretenen Schuhe … der Stein … deine nackten Füsse … verschiedene Wege genommen …
Worte fallen, fallen lautlos und entschwinden in die bizarre Landschaft hinaus.
«Hast du sie fallen gehört?» Nina bejaht. Ich meine, ihr beruhigend über das Haar zu streichen. «Spürst du?» Sie weicht aus, spürt vermutlich nichts, schweigt, geht weiter, voran über jetzt ansteigendes, bisweilen steiles, unwegsames Gelände, den kahlen Hügel empor.
Dichte Nebelschwaden senken sich herab, verhindern die weitere Sicht nach oben. Wieder halten wir inne, sehen uns an, sehen uns in die Augen. Ihre Pupillen öffnen sich weit, lassen mich hindurch treten …
Mein Bewusstsein entgleitet auf die Traumebene einer Blumen-Wiese. Darin, genau dreissig Schritte entfernt von mir, eine Löwenfamilie. Nina tollt mit den jungen herum während die alten dem Treiben misstrauisch zusehen. Die Löwenmutter zeigt zunehmende Unruhe. Sie nähert sich Nina von hinten, schnappt plötzlich nach ihrer Hand. «Ninaaa» schreie ich und spüre gleichzeitig den Schmerz eines Raubtierbisses an meiner Hand. Sie blutet. Nina kommt her, holt mich über einen Zaun zurück. «Du blutest. Das ist gut. Siehst du, so eins sind wir».
Ich finde mich wieder am Hügel. «Komm, sie erwarten uns.» Nina geleitet mich weiter den Berg hinan.
Eine plötzliche Turbulenz zerreisst den verhüllenden Nebel. Unvermittelt und direkt vor uns erheben sich drei kunstvoll geschmiedete, genietete und geschweisste Eisenplastiken, die um eine kreisrunde, genau siebzehn Schritte Durchmesser aufweisende Eisenplatte herum in den Boden verankert sind und uns etwa um das Fünffache überragen. Sie scheinen uns zu erwarten, scheinen uns zu begrüssen.
Nina schiebt mich sanft auf die runde Bodenplatte mitten zwischen die Eisenwesen. Diese beginnen ihre unzähligen, nach allen Seiten abstehenden Metallblätter zu bewegen und erzeugen damit fremdartig hohle, scheppernde, kreischende, klirrende Töne. Die obersten Drittel der Eisengebilde wanken im Zeitlupentempo vor und wieder zurück. Einzelne Teile davon bewegen sich wie Münder. Sie scheinen miteinander zu sprechen, sich in bedächtigen, schwerfällig hohlen, metallenen Tönen zu beraten.
Ich starre hinauf. Erwarte ein Ende und weiss, dass es kein Ende gibt. Erwarte eine Fortsetzung und fühle, dass diese hinter mir liegt. Dass sich alle Ereignisse rückwärts in Richtung Vergangenheit abspielen. Irdische Zeit ist kein Mass mehr. Ich glaube mich zu erinnern, irgendwann Tag und Nacht, Sommer und Winter, das Altern der Lebewesen, Geburt und Tod gesehen, erlebt und als Zeitmass begriffen zu haben.
Mit diesem letzten Einblick in Erinnerungen ist jeder Sinn allen Geschehens in der frühen Vergangenheit verloren gegangen. Seit ich unterwegs bin, vielleicht hinüber getreten in irgendein Universum, ist Zeit eine scheinbar zufällige Abfolge von Lichtbildern, in denen ich mich zu bewegen und zurecht zu finden habe. So lange jedenfalls, als das endgültige Urteil nicht gefällt ist.
Drüben, ausserhalb der Eisenkonstruktionen hat sich ein grauer Kontrast gebildet. Geheimnisvolle Nebelschwaden lösen sich daraus, nähern sich, ziehen zwischen den Eisengebilden durch, kriechen den Einzelteilen entlang, nisten sich kurz ein und verflüchtigen sich wieder. Eine erdrückende Macht thront über mir, lässt mich spüren, dass ich ihr ausgeliefert bin, dass sie keinen Einwand duldet.
Nach zeitlosem Verharren tut sich eine Veränderung kund. Das Schepern der Metallteile wird leiser und weicht schliesslich einer umfassenden Stille. Eines der Eisengebilde neigt sich leicht gegen die Mitte hin, deutet eine Verbeugung an. Dann nehmen alle drei ihre ursprüngliche Stellung ein.
Aus dem Nichts tritt Nina herzu.
Sie lächelt nicht.
Ihr Antlitz ist starr und weiss.
Ihre Augenlider sind geschlossen.
«Es gibt keine Rückkehr. - Du musst bleiben. - Für immer.»
«Und du?»
Eine letzte Nebelschwade verflüchtigt sich.

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