Leben in heller Dunkelheit

Leben in heller Dunkelheit

Sara Rira


EUR 16,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 124
ISBN: 978-3-99131-954-2
Erscheinungsdatum: 06.11.2023
Bei der Arbeit im Altenheim hatte sie sich eher vorgestellt, für Beköstigung und sinnvolle Beschäftigung zu sorgen. Der Pflegealltag, die geringe Bezahlung und die fehlende Unterstützung im fremden Land zwingen aber zum steten Kampf um die eigene Würde.
- 1 -


Die Welt drehte sich. Die Welt drehte sich um ihre Achse und schillerte in allen Farben wie eine riesige Diskokugel.
Die Welt drehte sich und ich ging los.
Ja, ich gehe einfach weg. Nach zweieinhalb Monaten einer unendlichen, erschöpfenden Arbeit vereinbarte ich mit der Agentur die Beendigung meines Vertrags.
Die alte Frau. Die alte Frau ist im Krankenhaus.
Teilweise gegen ihren Willen. Aber wenn die Parkinsonkrankheit fortschreitet, ist es manchmal sehr schwer, zu unterscheiden, was man sich eigentlich wünscht, was gegen den eigenen Willen ist und was im Einklang mit ihm …
Man ist manchmal die Gleiche und plötzlich ganz anders. Und genauso war das mit der alten Dame.
Brr … Ich hoffe, dass ich an dieser Krankheit in Zukunft nicht leiden werde …
(Noch krank zu werden, das würde ich wirklich schon alles verlieren … Ich hatte sowieso schon viel verloren…)

Wie fühlt man sich, wenn man nicht weiß, wo man am nächsten Tag schlafen wird? Was und wovon man essen wird? Und so weiter. Und so fort.
Es kann eine Rolle spielen, dass ich mein ganzes Leben vom Pech verfolgt bin, besonders was meine Männer beziehungsweise die Männer in meinem Leben – Partner, Lebenspartner, Liebhaber – oder wie auch immer ihr sie nennen wollt – betrifft.
Manche Männer stellen sich vielleicht vor, dass Frauen keine wirklich schlimmen Dinge passieren können. Frauen in Not sollten vielleicht einen Partner danach auswählen, eine wie breite materielle und finanzielle Unterstützung er ihnen anbieten kann? Und vielleicht wird er eher als jene Frauen in Not
geraten?
Du wählst dir deine Partner jedoch oft aufgrund der gegenseitigen (oder wenigstens einseitigen) Attraktivität aus, und dazu kommt dir das noch romantisch vor …
Aber eigentlich, wenn ich die jetzigen Gedanken über meine Partnerwahl auslasse, so schlimm bin ich nicht dran.
Immer noch besser als die arme alte Frau. Die alte Frau ist im Krankenhaus.
Und der ganze erste Stock des Hauses ist leer.



- 2 -


Das Wohnzimmer in diesem ersten Stock erinnert an ein Theateratrium.
Ein buntfarbiges Gewirr von Kostümen auf den Fotos der Vorstellungen aus der ganzen Welt.
Und auf ihnen ein anziehender Mann.
Ich sah einmal sein Poster in Prag, auf dem Platz der Republik, gleich neben dem Eingang zur U-Bahn.
Ich stand dort, direkt vor jenem Poster, in meinen Second-Hand-Klamotten und rauchte eine Zigarette (guter Tabak gibt mir viel Ruhe).
Und so schaute ich in das Papiergesicht eines eleganten Schönlings in einem langen und höchstwahrscheinlich auch nicht billigen Mantel und es fiel mir dabei ein, dass ich mir solche Sachen nur anschauen kann … (sowohl den Mantel als auch den Mann).
Dann sorgte ich zufällig für seine Mutter in meinem Pflegejob. Und als ich ihn persönlich kennenlernte, stellte ich fest, dass der Fakt, dass ihr gutes Geld verdient und euch einen teuren Mantel kaufen könnt, nicht unbedingt bedeuten muss, dass ihr arrogante Idioten seid.
Es hängt davon ab, was für eine Person man ist.
Arm sein muss nicht unbedingt heißen, gut zu sein.
Reich sein muss nicht unbedingt heißen, böse zu sein.
Und umgekehrt.
Wenigstens meiner Meinung nach.



- 3 -


Seitdem ich für die alte Dame nicht mehr sorge, habe ich seit drei Tagen nicht viel im Haus zu tun. Mein Arbeitsvertrag kann in diesem Fall erst nach einer Woche aufgelöst werden.
Ich bügelte also wenigstens die Wäsche. Einschließlich meiner eigenen Stücke. Alles für die Abfahrt vorbereitet. Aber wohin eigentlich? Wo ist mein „Zuhause“?
Nirgendwo. Nur der nächste Sprung ins Unbekannte.

Ich starre meine Mail-Postfächer an.
Ich bin in den letzten Jahren vielen verschiedenen Menschen begegnet. Mein Facebook-Account ähnelt einer Pinnwand mit einer Weltkarte. Nur sagen „Hier kenne ich auch jemanden!“ und dort eine Flagge einstechen. Lediglich die geografische Amplitude fehlt.
Nur waren sie alle oft sehr kurz. Und oberflächlich – deine Bekanntschaften. Nicht wahr?
Hm. Vielleicht. Jene Menschen haben über meine Vergangenheit, über meine Situation nichts gewusst. Ich wollte mein richtiges Gesicht nicht enthüllen. Eigentlich eines meiner vielen Gesichter …
Aber ihr – macht dies niemals. Falls ihr echte Freunde habt, die werden euch immer akzeptieren, auch wenn ihnen etwas nicht gefällt.
Und falls nicht, wofür sind eigentlich „Freunde“ da? Sind sie nur für Momente des Behagens?
Du hättest das versuchen sollen, als sie in der Nähe waren. Jetzt sind sie alle weit weg.
Vielleicht bist du viel zu verschlossen, verschlossen, verschlossen …
Das hat aber auch Vorteile – zum Beispiel, dass du niemandem verrätst, um wessen Mutter du dich hier gekümmert hast.
Aber das ist doch selbstverständlich. Von genau diesen Angelegenheiten, beispielsweise dem Unglück einer bekannten Persönlichkeit, davon würde ich doch niemals jemandem erzählen. Weder für Geld noch für Ehre, weder … noch …



- 4 -


Ich konnte in jenem schönen Haus doch bleiben.
Hervorragendes Essen, Speisen, die ich niemals in meinem Leben gegessen hatte. Solche Gerichte, die wir uns in meiner Kindheit, als ich nur mit meiner Mutter lebte, nicht leisten konnten (entweder aus Geldgründen oder einfach, weil solche Lebensmittelarten in den Zeiten des Kommunismus in meinem Land gar nicht verkauft wurden).
Ich konnte bleiben. War es an mir, so viel zu sehen, dass ich keinen Platz habe, wohin ich gehen könnte? Ich sprach davon doch nie.
Ich habe lediglich einen Koffer und eine Schultertasche. In ihnen mein ganzes Eigentum. Das wertvollste Ding ist mein Laptop. Mit meinem ganzen Leben drin. Fotos und Erinnerungen. Sogar Fotos meiner Eltern, aus der Zeit, als ich noch nicht auf dieser Welt war.
Eine ansehnliche junge Frau sitzt auf dem Schoß eines ansehnlichen jungen Mannes. Sie lachen. Sie sehen auf dem Foto so glücklich aus! Schade, dass ihre Liebesgeschichte bereits in meinem zwölften Lebensjahr ein Ende nahm.

Uff, der Koffer ist aber wirklich schwer. Ich schleppe mich mit ihm schon seit einer halben Stunde. Zur Bushaltestelle.
Und uff, uff, noch einmal heben und schwupp mit ihm in den Bus!
Ich „falle“ an der Haltestelle Hamburg Zentraler Omnibusbahnhof aus dem Bus heraus.
Umstieg. Uff, uff. Und den Koffer wieder in einen Zug des öffentlichen Nahverkehrs.
Es sitzen „normale“ Menschen dort:
Eine angejahrte Frau im blasslila Kostüm. Glatzköpfiger Mann mit Brille und gestreiftem Hemd, der mich mit einem interessierten Blick beobachtet. Hilfe! Lieber werde ich meinen Koffer allein tragen …
Vom Bahnhof aus meine Unterkunftsstelle zu erreichen, wird etwa zwanzig Minuten dauern.
Ein überfüllter Straßenbahnwagen.
Menschen, die Koffer in den öffentlichen Verkehrsmitteln schleppen, wirken vielleicht nicht so sympathisch. Ja, warum starren fast alle mich so an? Nicht jeder hat doch Geld genug, um ein Taxi zu bezahlen. Uff, uff.
Beim Aussteigen schätzt ein hinter mir stehender Junge nach dem Ausdruck seines Gesichts, dass ich nicht imstande bin, den schweren Koffer zu heben. Sorry, aber meinen Koffer kann ich jederzeit tragen … Ich nehme niemals mehr mit, als ich imstande bin zu tragen. Und sogar in diesem Fall, wenn sich im Koffer eigentlich mein ganzes Eigentum versteckt …
Es ist achtzehn Uhr und sechs Minuten. Ich sollte zu irgendeiner Adresse gehen, wo ich übernachten kann. Die Unterkunft hatte ich gestern online gebucht.



- 5 -


Die Frau spricht sehr schlechtes Deutsch.
Vielleicht eine Türkin.
Die Hauptsache ist für sie, dass ich zahlen kann.
Na, viel Geld habe ich nicht mehr. Und was ich mache, ist riskant. Aber ich sehe nun keine andere Möglichkeit.
Es wird mir der Schlüssel vom Haus übergeben. Und von der Wohnung. Meine Kreditkarte wurde bereits belastet. Es ist bezahlt.
Ja, es geht. In groben Konturen. Übernachten kann man hier doch. Und morgen werde ich gehen und mich um einen Job bewerben.
Ich bin nervös. Ich wälze mich im ich weiß nicht wievielten Bett meines Lebens und kann und kann einfach nicht in den Schlaf finden.
So gerne würde ich einen normalen Job haben. Ein normales Leben. Meine Arbeitsstunden abarbeiten und dann freihaben. Und dann zum Beispiel ins Kino gehen. Die Zeit und den Raum haben, an jenen, den ich liebe, in solchen Augenblicken, wenn ich ihn nicht sehen kann, zu denken. So gerne.
Vielleicht liegt es daran, wie du aussiehst. So atypisch. Viele Menschen auf der Welt ähneln einander. Sie sind wie „aus einer einzigen Schachtel“, obwohl sie in manchen Fällen sogar aus verschiedenen Weltteilen stammen. Nur du siehst wie „eine Außerirdische“ aus.
Genau. Leider. Und es hängt weder von der Nationalität noch vom Heimatland ab.



- 6 -


Man darf sich nur nicht entmutigen lassen. Diese Lady kommt mir ein wenig affektiert vor. Ich habe keine Ahnung, was auf mich wartet.
„Ich kann Ihnen eine Drei-Viertel-Beschäftigung anbieten. Dreißig Stunden pro Woche“, sagt sie.
Ich überschlage das rasch im Kopf. Entscheide dich schnell, wahrscheinlich will sie nicht ewig auf deine Antwort warten …
„Ja“, ich höre mich selbst sagen. „Ja.“
(Wenn ihr kein Geld habt, könnt ihr euch eine Arbeit nicht so lange auswählen, wie wenn ihr Geld habt. Ist logisch, oder?)
Ich beginne also ab morgen zu arbeiten. Meinen Vertrag soll ich auch morgen erhalten.
„Und wo wohnen Sie hier?“
Redlich diktiere ich die Anschrift des Hotels. Nur die Zimmernummer lasse ich aus.
Ich denke an nichts mehr. Ich habe Arbeit!!! Hurra!!!
Aber ich sollte noch eine Wohnung finden.



- 7 -


Der erste Monat geriet mir also nicht besonders gut. Ich zähle mein Geld von allen Seiten und trotzdem gelingt es mir nicht, zu irgendeinem Schluss zu kommen. Das günstigste Hostel ist völlig belegt, deshalb muss ich ein Einzelbettzimmer nehmen. Aber das ist eigentlich großartig – ich werde es selbstverständlich genießen! Nur mit dem Geld kommt es nicht ganz aus … Wie ich das nur lösen könnte …
Vielleicht ist es … doof …, was mir jetzt einfällt … Wenn ich freie Tage habe und nicht in der Arbeit bin, … könnte ich vielleicht – eine Nacht draußen verbringen. Ein Einchecken in Hostels ist gewöhnlich ab zwei oder drei Uhr nachmittags möglich. Ich könnte mich dann also gleich hinlegen und nonstop schlafen, nachdem ich die ganze Nacht wach gewesen bin. Oder?
Eine einzige Nacht. Das muss ich doch physisch aushalten.
Viel wichtiger ist … Essen. Ohne Essen hätte ich keine Kraft.
Ich rede mit niemandem über meinen Plan.
Ich habe hier, in der neuen Arbeit, sowieso keine Freunde.
Was ist an dir auch so attraktiv, dass jemand mit dir eine Freundschaft anknüpfen möchte? Geld hast du nicht, Klamotten billig, Zähne schlecht und Arbeit wahrscheinlich eine der schlimmsten in dieser Stadt … Da hast du wirklich viel im Ausland geschafft!
Und wie ich dieser spitzigen, unhörbaren Stimme zuhöre, möchte ich auch mit mir selbst keine großen Freundschaften schließen …
Aber trotzdem Vorsicht – ich wähle meine Freunde sorgfältig aus. Ich besitze doch auch das Recht, mir meine Freunde auszusuchen. Sogar wenn ich nicht viel Geld habe … Sogar wenn …



- 8 -


Na, von der mir zugeteilten Uniform, genauso wie von jeder Uniform, bin ich eben nicht sehr begeistert. Die Hose ist beige und das T-Shirt ist weinrot, mit einem feinen kubischen Muster.
Ich würde mir wünschen, dass das T-Shirt wenigstens ein bisschen sexy wäre … Aber jene lächelnde Lagerarbeiterin mit rosigen Wangen steckt mir leider ein T-Shirt von der Größe „X-Large“ zu und macht ein solches Gesicht dabei, als ob es sich um einen Schatz handeln würde.
Das T-Shirt ist eine Nummer größer, als mir passen würde. Ein zu enges T-Shirt könnte mich angeblich bei der Arbeit hemmen.

Da bin ich also neugierig, worin meine Arbeitstätigkeit bestehen wird.
Ich habe bisher nur ein oder zwei alten Personen geholfen. In den Familien. Auf dieser Abteilung gibt es jedoch etwa dreißig alte Menschen.

Mein erster Dienst ist Spätdienst. Das ist ja toll, wenn man nicht ganz früh morgens aus dem Bett muss …
Ich bin angespannt wie eine Schnur – also – was ist hier zu machen?
Wenn ihr den ersten Tag auf einem Arbeitsplatz seid, wisst ihr noch nichts und es scheint euch alles einfach zu sein.
Einen feschen Begleiter verfolgen, ohne dass ihr euch dessen bewusstwerdet, dass er für alle Arbeit tatsächlich allein zuständig ist und noch die Zeit finden muss, euch zu zeigen, wie und was (vielleicht wartet auf euch künftig dasselbe Schicksal). Und das alles kann in euch eine – aber eine sehr, sehr kurzfristige – Idee hervorrufen, dass ihr hier umsonst bezahlt werden könntet.

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Christina Posch

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